Pegidisten
Wenn „besorgte Bürger“ den Einsatz von Zyklon B fordern
Die deutsche Politik-Elite scheint Angriffe auf Asylbewerber weniger ernst zu nehmen. Dabei wäre es höchste Zeit sich dem Problem zu stellen, denn die fast schon professionellen Agitationsstrukturen der rechtsextremen "besorgten Bürger" sind längst etabliert und funktionieren reibungslos. Von Abraham Goldstein
Von Abraham Goldstein Montag, 13.07.2015, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 14.07.2015, 16:24 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Es ist nur wenige Monate her, da bescheinigte der Bundesinnenminister Thomas de Maiziere den marschierenden Pegidisten in Dresden, „nur besorgte Bürger“ zu sein und retuschierte dabei subtil die sie eskortierenden Neonazis weg.
Der scheinbar von Montag zu Montag wachsende Tross der selbsternannten Verteidiger des (erfundenen) „christlich-jüdischen“ Abendlandes gegen das Fremde hatte in seiner Blütezeit sogar die Aufmerksamkeit der zweiten Regierungspartei auf sich gezogen, und so traf sich der Vizekanzler Deutschlands höchstselbst mit Anhängern der PEGIDA im Januar in Dresden zu einem Dialog – schließlich hat die SPD aufgrund ihres Parteimitglieds Thilo Sarrazin Erfahrung mit Diskutanten aus diesem gesellschaftspolitischen Spektrum.
Seitdem jedoch die bürgerliche Mehrheit in Deutschland nicht mehr von einer Minderheit mit „Wir sind das Volk!“ als zu ihnen zugehörig bezeichnet werden wollte und selbst bundesweit auf die Straße ging – und zwar mit einer deutlich größeren Teilnehmerzahl als in Dresden – sind die verständnisvollen Sprüche aus den Regierungsparteien merkwürdigerweise verstummt. Man hüllt sich stattdessen in Schweigen.
Sicherlich wäre es peinlich (aber wenigstens ehrlich), nach gerade einmal 6 Monaten eine Kehrtwende zu vollziehen und die Pegidisten öffentlich zu geißeln. Aber es wäre notwendig, um den geifernden Fanatismus der besorgten Protestler der Öffentlichkeit als Gefahr klar zu machen. Denn es brannten bereits mehrere Asylunterkünfte, es wurden bereits Asylbewerber und „nicht-deutsch“ aussehende Menschen angegriffen und verletzt.
Die deutsche Politik-Elite scheint hingegen die Ereignisse weniger ernst zu nehmen – lediglich der Bundespräsident äußerte seine Meinung über die Übergriffe auf Flüchtlingsheime und nannte sie „widerwärtig“. Äußerungen des dialogbereiten Vizekanzlers Gabriel zum Problem der Angriffe auf Asylbewerber sind: nicht bekannt.
Dabei wäre es höchste Zeit sich dem Problem zu stellen, denn die fast schon professionellen Agitationsstrukturen der rechtsextremen „besorgten Bürger“ sind längst etabliert und funktionieren reibungslos, lassen sich manchmal sogar nur durch Inkonsistenzen in den erfundenen Geschichten der Pegidisten über vermeintliche böse und kriminelle Taten von Flüchtlingen aufdecken: Ein beliebter „Hoax“ ist beispielsweise der angebliche Fund von „weggeworfenen Lebensmitteln“ durch Asylbewerber – zum „Beweis“ stellt ein „besorgter Bürger“ ein Foto in die sozialen Netzwerke, auf dem einige verpackte (!) Lebensmittel auf einer Mülltonne liegen. Die Botschaft: Seht her, wie diese undankbaren Flüchtlinge mit unserem Geld umgehen!
Ein anderer bekannter Hoax ist der angebliche Diebstahl von Einkäufen aus einem Auto einer ehrbaren deutschen Hausfrau auf einem Supermarktparkplatz, als sie ihren Einkaufswagen wegbringt. Diese und andere Märchen kursieren identisch oder in leicht veränderter Form auf allen sozialen Netzwerken in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Nur wer sich die Mühe zur Reflektion und der Suche nach Details macht, wird diese Hoaxe als das erkennen, was sie sind: als eigens erfundene Geschichtchen zur billigen Agitation und xenophobischer Hetze.
Wie enthemmt diese Pegidisten, PI-Nazis und sonstige Rechtsextreme bereits sind, zeigen schmerzhafte Postings im Internet von „besorgten Bürgern“ aus dem sächsischen Freital und/oder Kreuzzüglern, die sich um das Wohl und den Erhalt der arischen Rasse sorgen – und als Vernichtungsmittel gegen Flüchtlinge zum altbewährten „Zyklon B“ greifen wollen.
Spätestens bei solchen öffentlichen Postings stellt sich die Frage, warum Politiker so dialogbereit waren und die Justiz sowie die Polizei offenbar wegschauen. Möglicherweise ändert sich das ja, wenn sie dort selbst mit dem Tode bedroht werden. Aktuell Meinung
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen
Das ist eine wirkliche Überraschung.
Haben nicht erst vor kurzem der Verfassungsschutzpräsident Maaßen und Innenminister de Maiziere erklärt, daß der Islamismus die größte Gefahr in Deutschland ist?
Neonazis bzw. „besorgte Bürger“ kommen in deren Warnungen irgendwie nie vor.
„Er ist wieder da.“ – die Realität zum Buch.
Die braune Brut erwacht aus ihrem 70jährigen Schlummer.
Und wieder schauen die NSU erfahrenen Behörden weg.
Das Asylrecht für politisch Verfolgte ist in der BRD ein im Grundgesetz verankertes Grundrecht. Selbstverständlich hat der Staat die Pflicht sicherzustellen, daß das Asylrecht nicht mißbraucht wird. Wie das im einzelnen gemacht wird, darf jedoch nicht verhetzten Volksmassen überlassen werden. Die derzeitigen Massendemonstrationen von Bewegungen wie Pegida und die Einstellung großer Teile der Bevölkerung gegen die grundsätzliche Gewährung von Asyl als auch gegen eine vermeintliche „Islamisierung“ Deutschlands bedeuten, daß diese Leute den betreffenden Artikel zum Grundrecht auf Asyl im Grundgesetz für die BRD grundsätzlich nicht akzeptieren und somit als „Verfassungsfeinde“ anzusehen sind. Angesichts dieser Entwicklung, nämlich daß sich eine zunächst schweigende Mitte – wie im Fall Tröglitz –, vor den fremdenfeindlichen Kräften hergeschoben, dann gegen die Aufnahme von Flüchtlingen positioniert, sowie des politischen Wegschauens und fehlenden staatlichen Eingreifens dagegen, muß man sich fragen, wie lange das Grundgesetz noch Bestand haben wird, wenn wesentliche seiner Artikel von einer Mehrheit – oder zumindest großen Minderheit – nicht mehr akzeptiert werden.
Auf die meisten Politiker darf man sich ohnehin nicht verlassen, und der „Verfassungsschutz“ wird ohnehin seinem Namen nicht gerecht.
Vielleicht wäre es besser gewesen, die ehemalige DDR nicht der BRD einzuverleiben, sondern als selbständigen deutschen Staat bestehen zu lassen. Wenn in Sachsen, Sachsen-Anhalt u. a. „neuen“ Bundesländern ein Großteil der Bevölkerung gegen solche Grundrechte wie dasjenige auf Asyl oder freie Religionsausübung (für Muslime) ist, sollte man einen Austritt – oder Ausschluß – dieser Bundesländer aus der BRD in Erwägung ziehen.
Herr Goldstein, eigentlich habe ich ihren Artikel gern gelesen, aber sie haben nicht gut recherchiert. Direkt unter den ersten drei Googletreffern fand ich die deutliche Verurteilung durch Gabriel des Brandanschlags auf Flüchtlingsunterkünfte .http://www.mdr.de/nachrichten/troeglitz-asyl-unterkunft-brandanschlag-reaktionen100.html
Gleiches gilt für die Teilnahme an der Pegidademo. Lesen sie das Interview, Herr Gabriel hatte ander Motive als der Pegida SYmpathie zu verschaffen.
http://www.stern.de/politik/deutschland/spd-chef-gabriel-im-stern-interview-zu-pegida—es-gibt-ein-recht-darauf–deutschnational-zu-sein–3974978.html
@ Matthias
Vllt. war der betreffende Satz zu subtil für dich ich meinerseits verstehe ihn so daß Gabriel extrem selten zu unangenehmen politischen Themen Stellung bezieht.
Wenn der Vizekanzler sich bspw. über die Griechenland-Krise äußert, tut er das monatelang und teilweise (un)differenziert (bis hin zu täglich wechselnden Standpunkten). Selbst zum ihm offensichtlich unangenehmen TTIP äussert sich der SPD-Parteivorsitzende monatelang und mit einem teils verzweifelten Gesicht, so als ob er (wie Tsipras) nur widerwillig TTIP unterschreiben muß. Wenn Sigmar Gabriel sich aber andererseits überhaupt zu Themen wie dem NSU-Terror äussert kommen lustige Sätze wie „Vorratsdatenspeicherung hätte NSU gestoppt“.
Bei den „Montagsdemos“ im letzten Jahr hat er sich zuerst einmal auffällig lange Zeit gelassen um sich zu positionieren – nur um dann zu sagen: „Es gibt ein demokratisches Recht darauf, rechts zu sein oder deutschnational.“
Ich denke, Herr Goldstein zielte v.a. auf die Gewichtung seiner politischen Themen.