Bades Meinung
Die Lage ist ernst. Zeit ist nicht mehr zu verlieren.
Die Mehrheit der Bürger ist nicht einverstanden mit der Abwehrpolitik gegen Flüchtlinge und dem Tod im Meer vor den Grenzen der ‚Festung Europa’. Fluchtbewegungen aber sind ein Weltproblem. Nötig ist bürgerschaftliches Engagement und eine UN-Weltkonferenz zum Flüchtlingsschutz.
Von Klaus J. Bade Montag, 27.07.2015, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 13.01.2016, 10:59 Uhr Lesedauer: 12 Minuten |
Der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani, intimer Kenner der arabischen Welt und designierter diesjähriger Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, trat unlängst als kritischer Mahner ich Sachen Flucht und Asyl an die Öffentlichkeit. Er ging hart ins Gericht mit dem europäischen Beitrag zum »Zerfall der staatlichen Ordnung in Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens« als »Hauptursache für den derzeitigen Anstieg der Flüchtlingszahlen«.
Kermani registriert aber auch, dass sich in Deutschland eine positive Wende in den Mentalitäten der Bürger vollzogen hat: »Niemand sollte glauben, dass die Mehrheit der Deutschen noch länger zusehen will, wie mit den Flüchtlingen die europäische Idee in den Fluten versinkt.« 1 Das gilt trotz verbreiteter Skepsis gegenüber Zuwanderungen aus Ländern und Kulturen jenseits der Grenzen Europas, trotz Unsicherheit in Asylfragen, schriller asylfeindlicher Agitation und eines rasanten Anstiegs von rechtsradikalen Anschlägen auf Sammelunterkünfte von Asylbewerbern. 2
Wenn man die dazu vorliegenden Berichte und Umfragen cum grano salis zusammennimmt, dann sind die Bürger in Deutschland in der Tat nicht einverstanden mit der Verwandlung des Mittelmeers in eine grauenhafte Todeszone. Das gilt besonders seit dem von Deutschland mitverschuldeten Ende des grandiosen italienischen Seenotrettungsprogramms ‚Mare Nostrum’ Ende 2014 und der anschließend von der EU gedrosselten Hilfeleistung mit erhöhter Todesfolge im Mittelmeer.
Man dürfe nicht unterschätzen, sagte unlängst die Schriftstellerin und Journalistin Carolin Ehmcke in einem Gespräch mit dem früheren Bundesinnenminister Otto Schily, „wie viele Menschen die gegenwärtige Flüchtlingspolitik als unverzeihlich empfinden. Für viele zeigt sich im Umgang mit den Flüchtlingen, wer wir sein wollen. Viele, die sich in Initiativen engagieren, wissen, dass Europa an den Fluchtursachen mitschuldig ist.“ 3 Sie verlangen die (Wieder-)Einführung eines Seenotrettungsprogramms, das seinen Namen verdient. Und sie engagieren sich angesichts des ebenso skandalösen wie blamablen Versagens staatlicher Institutionen auf nationaler und EU-Ebene zum Teil sogar in nichtstaatlichen bzw. privaten Initiativen in der Nachfolge der legendären ‚Cap Anamur’.
Bei dieser zivilen Seenotrettung im Mittelmeer ging die von Maltas vormaligem Chief of Defense, Martin Xuereb, geleitete ‚Migrant Offshore Aid Station’ (MOAS) voran. MOAS ist eine durch zwei finanzkräftige Sponsoren ins Leben gerufene, in Malta registrierte gemeinnützige Stiftung für Seenotrettung im Mittelmeer, die neben ihrem 40 Meter langen Schiff ‚Phoenix’ mit seinem Team von Rettern und Notärzten auch über zwei ferngesteuerte Flugkörper (Camcopter) zur Seeaufklärung verfügt. Seit Anfang Juni 2015 kreuzt zwischen Libyen und Lampedusa die ‚Sea-Watch’, ein mithilfe von Spenden umgebauter Fischkutter des berlin-brandenburgischen Kaufmanns und Seenotrettungsaktivisten Harald Höppner.
Im Frühsommer 2015 schließlich entstand nach dem Vorbild der berühmten Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, aber als europäische Gründung das von dem promovierten Historiker und Hochseekapitän Klaus Vogel (Berlin) und der Anthropologin Sophie Beau (Marseille) unter dem Motto ‚Retten – Schützen – Bezeugen’ ins Leben gerufene Aktionsbündnis ‚SOS MEDITERRANEE – Europäische Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger im Mittelmeer’. Es soll sich bald mit einem gleichermaßen über – dringend erwünschte weitere – Spenden finanzierten ehemaligen Lotsenversetzer mit Hubschrauberplattform an der aktiven, zivilen Seenotrettung im Mittelmeer beteiligen. 4
Ebenso unüberhörbar sind professionelle humanitäre Dienstleister: „Menschen, die fliehen müssen, müssen fliehen können“, fordert Florian Westphal, Geschäftsführer der ‚Ärzte ohne Grenzen’, die auf drei Rettungsschiffen mit medizinischen Teams an Bord im südlichen Mittelmeer im Einsatz sind und allein im Mai rund 4.000 Menschen aus Seenot gerettet haben. „Die EU muss ihre derzeitige Politik drastisch ändern. Die europäischen Staaten zeigen vereinten politischen Willen darin, Schleuser zu bekämpfen und die Boote zu versenken, statt sich auf die Menschen in den Booten zu konzentrieren. Deutschland als einflussreiches Mitglied der EU muss dafür sorgen, dass die Vermeidung weiterer Todesfälle zur Priorität gemacht wird.“ 5
Die Bürger wissen auch, dass das von Beginn an kranke Dublin-System längst gescheitert ist und drängen auf eine ausgewogene Lastenteilung bei der Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Europa – was bislang und zuletzt gerade wieder in Gestalt der in der ‚Migrationsagenda’ der EU vorgeschlagenen Quotenregelung gescheitert ist.
Die Bürger erwarten allgemeinhin eine Flüchtlingspolitik, die die massenweise Selbstgefährdung durch den irregulären Weg über das Meer in Abhängigkeit von Schleppern unnötig macht. Und sie erwarten, von grundsätzlichen Skeptikern gegenüber Zuwanderungen aus den Drittstaaten fern der EU abgesehen, konkret die Eröffnung von legalen Zuwanderungswegen bzw. den Einsatz von Luftbrücken oder Fähren für als Flüchtlinge bzw. Asylsuchende akzeptierte oder in Europa aus wirtschaftlichen Gründen gebrauchte Zuwanderer.
- Navid Kermani, Warum Europa uns jetzt braucht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 9.5.2015; vgl. u.v.a. Umfragen: Renate Köcher, Die Bürger nicht verachten. Ergebnisse des Allensbach Instituts zum Thema ›Zuwanderung‹, in: FAZ, 17.12.2014.
- Mediendienst Integration (Ferda Ataman), Verfassungsschutzbericht 2014: Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte enorm gestiegen, 1.7.2015.
- „Die Angst sucht sich ein Objekt“. Otto Schily im Gespräch mit Carolin Emcke, in: Die Tageszeitung (taz), 19.6.2015.
- www.SOSMEDITERRANEE.org; Selber retten. Warum der Schiffskapitän Klaus Vogel eine zivile europäische Seenotrettung für das Mittelmeer gründet, in: Der Tagesspiegel, 1.6.2015.
- Ärzte ohne Grenzen: EU muss dringend legale Fluchtwege nach Europa schaffen, Pressemitteilung Berlin 19.6.2014.
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