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Koloniale Kontinuitäten

Kulturgüter in europäischen Museen

Koloniale Kontinuitäten zeigen sich nicht nur in Denkweisen und Weltbildern, sondern auch im deutschen Alltag. Die Initiative No Humboldt21! kritisiert, dass noch immer Kulturgüter in europäischen Museen ausgestellt werden, die aus einem kolonialen Unrechtskontext stammten.

Von Delia Friess Freitag, 07.08.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 05.09.2015, 10:32 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Da sei zum Beispiel das Tangué aus dem Kamerun, das sich im Münchner Völkerkundemuseum befindet, berichtet Christian Kopp, Fachreferent für Dekolonisierung im Berliner Promotorenprogramm bei Berlin Postkolonial. Die Königsinsignie, eine hölzerne Bugverzierung, sei um 1884/85 nach Deutschland gebracht worden, nachdem deutsche Soldaten eine Stadt im Kamerun niedergebrannt und geplündert hätten. Der beteiligte deutsche Konsul und spätere Direktor des Münchner Völkerkundemuseums, Max Buchner, bezeichnet das Tangué in seinen Memoiren als seine „Hauptbeute“. Es gehörte Kum’a Mbape, dessen Enkel Kum’a Ndumbe es zurückfordert, und für dessen Nachfahren es ein Medium zwischen dem Diesseits und Jenseits darstelle, das nur einmal im Jahr zum Wasserfest der Öffentlichkeit gezeigt werde. Im Münchner Völkerkundemuseum wird es nun das ganze Jahr über ausgestellt.

Ein weiteres Beispiel sei der Thron Bamoun-Sultans Ibrahim Njoya aus Foumban in Kamerun, der im Ethnologischen Museum der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin zu sehen ist. Laut der Beschreibung des Ethnologischen Museums handelt es sich um eine Schenkung, die im Kamerun üblich gewesen sei, um diplomatische Beziehungen zu festigen. Der Verein No Humboldt21 bezweifelt das. Der Sultan habe eine Kopie anfertigen lassen und musste das Original verschenken. Um ihm die neuen Machtverhältnisse nochmals deutlich zu machen, sei ihm ein lebensgroßes Porträt des Kaisers Wilhelm II. geschenkt worden, kritisiert NoHumboldt21 die Umstände der „Schenkung“.

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„Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz wolle einzelne Fälle von Kulturraub im Kontext des Kolonialismus prüfen. Diese Aussage impliziert aber, dass ein Großteil der Gegenstände unter fairen Bedingungen erworben sei. Es ist aber höchst unwahrscheinlich, dass Völker ihre Masken, Gottesfiguren oder Kunstschätze freiwillig verschenkten oder billig verkauften“, sagt Kopp. Im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sind auch etwa 500 wertvolle Bronzestatuen, die aus Benin, Hauptstadt des Edo-Königreiches, dem heutigen Nigeria stammen. Während der Zerstörung von Benin durch britische Soldaten seien sie unter fragwürdigen Umständen nach Großbritannien gekommen. „Obwohl sich der Großteil der Statuen in Großbritannien befindet, sind immer noch mehr Bronzestatuen aus Nigeria im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin als in Nigeria selbst“, berichtet Kopp. „Etwa 10 dieser Statuen werden ausgestellt, der Rest wird im Keller gelagert“, meint der Historiker.

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„Es handelt sich nicht um Kulturgüter, die im Austausch mit anderen Ländern oder Museen in Deutschland ausgestellt werden, sondern um Gegenstände, die direkt während des Kolonialismus geklaut wurden, oder unter problematischen Bedingungen nach Europa kamen, das heißt durch Gewaltanwendungen oder Drohungen erpresst wurden oder durch den Bruch mit sogenannten Verträgen oder andere Betrügereien erbeutet wurden“, sagt Tahir Della, Vorsitzender des Vereins Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland. Und: „Die Gegenstände sind nicht nur wertvoll, sondern nicht selten in einem religiösen Kontext von Bedeutung oder stellen Gottesfiguren in den jeweiligen Kulturen dar.“

Laut Senat habe das Ethnologische Museum die Herkunft der rund 500.000 Gegenstände seiner Sammlung noch immer noch nicht systematisch und detailliert erforscht. „Das Ethnologische Museum bemüht sich nach eigenen Bekundungen zwar darum, die Provenienzforschung voranzubringen und mit dem kolonial-rassistischen Blick zu brechen, aber uns ist das nicht genug“, äußert Della.

Im Falle der Bronzestatuen aus Nigeria erklärte der Senat, dass es für die Rückgabe dieser Sammlung keine völkerrechtliche Grundlage gebe. Tatsächlich greift das Internationale Völkerrecht nur bei Kulturgütern, die nach 1954 bzw. 1970 gestohlen wurden. Es existieren zwei internationale Vorgaben: Die Haagener Konvention zum Schutz von Kulturgütern bei bewaffneten Konflikten (1954) und die UNESCO-Konvention über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut (1970). Der Internationale Museumsrat veröffentlichte 1986 einen Leitfaden für ethische Richtlinien „Code of Professional Ethics“ (ICON). Darin steht: „Wenn ein Herkunftsland oder -volk die Rückgabe eines Objektes oder Gegenstandes erbittet, von dem belegbar ist, dass es/er […] auf anderem Wege übereignet wurde und es/er zum kulturellen oder natürlichen Erbe dieses Landes oder Volkes gehört, sollte das betroffene Museum umgehend verantwortungsvolle Schritte einleiten, um bei der Rückgabe zu kooperieren, sofern es rechtlich dazu befugt ist.“

Die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland kritisiert, dass sich Museen noch immer hinter rechtlichen Konzepten versteckten: „Zwar gibt es Anfragen von den Linken und den Grünen an die Bundesregierung, aber es wird immer darauf verwiesen, dass überhaupt nicht klar sei, wer überhaupt ein Recht auf Rückforderung hat. Ganz dubios wird dann auf Zeit gesetzt, dass die Dinge eben im Sande verlaufen. Das ist eine ganz generelle politische Linie. Nur langsam wird erkannt, dass man auch selber eine Verantwortung benehmen muss. Die Einrichtungen müssen sich selbst auf den Weg machen, selbst Verantwortung zeigen und fragen „Gibt es Gegenstände, die in einem Unrechtskontext erworben wurden, gibt es die Möglichkeit Dinge zurückzugeben oder Gegenstände in den Ländern selber auszustellen?“

In Fällen für vor 1954 unrechtmäßig eingeführte oder erworbene Kulturgüter, treten an die Stelle internationaler Gesetze, diplomatische Beziehungen. Diese sollen durch ein Kontrollgremium der UNESCO geregelt werden. Die Krux: Nur Mitgliedsstaaten der UNESCO können es in Anspruch nehmen. Und: Es besitzt keinerlei rechtlichen Anspruch. Für Privatpersonen, Volksgruppen, Stämme oder Regionen ist es also schwierig den Gegenstand zurückzuerhalten. Staaten forderten ihre Kulturschätze allerdings erst gar nicht zurück, um die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland nicht zu gefährden, meint Christian Kopp. Feuilleton Leitartikel

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  1. TaiFei sagt:

    @ Carmen
    So so, also Steuern und Abgaben sind nicht synonym. Dann sollten Sie doch noch mal im Duden nachsehen. Ihre Unterscheidung zwischen Grundabgaben und Steuern ist nicht gegeben. Wo ist denn der Unterschied? Ständig wird hier behauptet der Unterschied läge im Gewohnheitsrecht bzw. in der Disziplin bei der Leistung von Grundabgaben. Das ist aber Blödsinn. Auch Steuern im modernen Sinn, arten schnell in Gewohnheitsrecht aus. So bezahlen wir seit über 100 Jahren eine Schaumweinsteuer für die Finanzierung der Kaiserlichen Flotte. Außer der Steuer, ist von der jedoch nicht viel geblieben. Auch die angeblich unterstellte Disziplin ist lächerlich. Auch hier kann ein Vergleich zum modernen Staat durchaus helfen. Der moderne Staat bezieht den größten Teil seines Aufkommens aus den indirekten Steuern (vor allem MWSt) und Lohnsteuern. Diese Steuern werden ebenfalls sehr diszipliniert bezahlt. Das heißt aber nicht, dass sie nun sehr beliebt wären, sondern lediglich, dass die Mehrheit der Bevölkerung hier gar keine Möglichkeit zur Steuervermeidung hat. Nun fragen Sie sich mal, welche Möglichkeit der Bauernstand zur Vermeidung der Abgaben hatte? Genau, nämlich keine! Legen Sie mir doch mal eine mittelalterliche Statistik vor, welche die Beliebtheit der bäuerlichen Abgaben bezeugt. Können Sie natürlich nicht, so etwas war nämlich NIE der Punkt. Daher halte ich schon Ihre unterstellte Unterscheidung für das Mittelalter für eher gewagt. Letztendlich sei festgestellt, dass auch eine Abgabe KEIN Naturgesetz ist. Ihre Ableistung wurde ebenfalls festgelegt, i.d.R. seitens der herrschenden Klasse. Das ihre Mittelalterlichen Abgaben in Form von Naturalien bzw. der Fron abgeleistet wurden, liegt lediglich an der nicht vorhandenen Geldwirtschaft.
    Dass die Adelsherrschaft damals kaum vermeidbar war, ist für diese Diskussion auch gar nicht der Punkt. Der Punkt besteht, darin, dass nach mittelalterlichen Vorstellungen diese Herrschaft „gottgewollt“ war. Eine Doktrin die vor allem auch seitens der Kirche verbreitet wurde. Deswegen sind die damaligen Vorstellung und Definitionen nur relevant für das Verstehen der Funktionsweise der damaligen Gesellschaft, nicht jedoch für die Bewertung. Die Adelsherrschaft, ob nötig oder nicht, unterlag ganz anderen Grundsätzen, keinesfalls jedoch dem Willen Gottes und damit auch nicht den damaligen Definitionen und Vorstellungen.
    Was Ihr PS angeht. Wo habe ich denn von der Erde als Scheibe gesprochen. Ich sprach vom geozentrischen Weltbild. Wenn Sie noch nicht mal in der Lage sind, eine solche relevante Unterscheidung aus meinem Text herauszulesen, erübrigt sich jede weitere Diskussion.
    Ferner nehme ich den Eigenwert von Kulturen sehr wohl zu Kenntnis. Was Sie jedoch mit „anderen“ meinen, verstehe ich nicht. Das europ. Mittelalter ist Bestandteil UNSERER Kultur. Was mir jedoch fern liegt ist Ihre Verklärung bzw. die von vielen hier abgeleitete Überlegenheit dieses „christl.“ Brimboriums. Die westl. Vormacht basiert nicht auf christlichen Werten.

  2. Carmen sagt:

    @Tei Fei Ich empfehle Ihnen mal schleunigst ein Proseminar Geschichte. Bevor man urteilt, sollte man erst einmal fragen. Fragen führt zum kritischen Urteil, das deshalb kritisch ist, weil dabei die Zeitgebundenheit des eigenen Denkens bewusst wird. Erst auf dieser Basis lässt sich vernünftig über eine längst vergangene Epoche urteilen. Nur wer sich darüber bewusst ist, dass sein Standpunkt letztlich selbst historisch bedingt ist, sollte sich einer fremden Kultur nähern.

    Man kann nicht wie Sie Verhältnisse um 1900 mit denen um 1300 oder 1400 vergleichen. Abgaben wurden durch Gewohnheit und Vertrag festgelegt (wie bei einer Miete oder einer Pacht), aber im Fall der Steuern eben nicht. Steuern wurden ausgehandelt. Außerdem ist es ein Unterschied, ob ein Fürst und sein mobiler Hof an der Spitze eines Landes steht oder ein administrativer Apparat mit fester Hauptstadt und Behörden.
    Der Bauernstand hatte genug Möglichkeiten der Abwehr. Sie denken zu primitiv und zu zeitgebunden. Erstens konnte ein Bauer beim Gerichtsherren intervenieren, wenn sein Grundherr zu Unrecht Abgaben gegen das Herkommen verlangte, zweitens gab es dann immer noch die Möglichkeit, dass das Dorf sich gegen den renitenten Grundherren wandte, entweder in Form einer Fehde oder eines passiven Widerstands. Drittens hatten Landesherren ein fundamentales Interesse, dass Frieden herrschte, darum war dem Missbrauch allzu gieriger Grundherren durchaus in vielen Fällen der Boden entzogen. Natürlich behaupte ich nicht, dass es nicht das Gegenbeispiel gegeben hätte, nur war die Welt halt nicht so einfach wie Sie sie hinstellen. Selbstverständlich wurden Abgaben im Allgemeinen ungern bezahlt. Das ändert aber nichts daran, dass man sie respektierte, wenn sie an Vertrag und Herkommen gebunden waren. Das Verhältnis zwischen Untertan und Grundherren war eben ein sozioökonomisches und kein rein materielles. Das ist der Unterschied. Schließlich hatte ein Grundherr auch seine Leute und ihr Gut zu beschützen und in Krisensituationen beizustehen (Zweiseitigkeit)
    Wo über Jahrhunderte knochenharte Leibeigenschaft existierte, stellte sich keine besondere Steuermoral ein, wo freies Zinsbauerntum existierte eben doch. Außerdem konnten Bauern ja ihr Gut verlassen und in die Stadt ziehen. Schon darum musste sich ein Grundherr in aller Regel einigermaßen gut mit seinen Untertanen stellen. Wie gesagt: Überall war es ein bisschen anders, schon deshalb ist Ihr Pauschalurteil falsch.

    Ob ich nun sage Adelsherrschaft ist gottgewollt oder von Natur aus vorgegeben, ist ziemlich egal. Es läuft auf dasselbe hinaus. „Die“ Kirche (wer soll das sein?) hat nur das wiedergekäut, was Hinz und Kunz dachten, nämlich, dass eine Gesellschaft drei Stände brauchte, den Nährstand, den intellektuellen Stand und den schützenden Stand. Wie hätte die damalige Welt denn sonst funktionieren sollen? „Die“ Kirche waren im Prinzip alle, nicht nur der Adel oder die Geistlichkeit, darum ist Ihr Argument ebenfalls zeitgebunden. Da Gott die Welt geschaffen hatte, lag es für alle nahe, die Existenz der drei Stände religiös zu begründen (in der Neuzeit ändert sich das natürlich).

    Zum PS: Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihre Ergüsse nicht ganz bewusst durchgelesen habe. Die Vorstellung der Erde als Scheibe stammte ähnlich wie die Vorstellung, die Erde sei Mittelpunkt des Universums aus der Antike. Dass es sich dabei um spezifisch mittelalterlich-kirchliche Vorstellungen gehandelt haben soll, ist ein Klischee des 19. Jahrhunderts. Es gab im Mittelalter natürlich auch die Ansicht, dass sich die Erde um die Sonne (Bonaventura im 13. Jahrhundert, auch Oresme) drehe als auch die Ansicht, dass die Erde eine Kugel sei. Also auch nicht so einfach, wie Sie es sagen.
    Natürlich sind heutige Universitäten und heutige Wissenschaft ohne Christentum nicht denkbar. Weder eine Fußnote noch ein modernes Wissenschaftssystem ist ohne die mittelalterlichen Wurzeln vorstellbar. Christliches Brimborium („Klischee“!) ist halt mehr als Kult, es war oft Philosophie vom Feinsten, die sich nachhaltig einprägte.

    Da Sie ja offenkundig nicht differenzieren und einschränken wollen erübrigt sich jede Diskussion. Schmollen Sie in Ihrem finstren Klischeemittelalter aus dem 18./19. Jahrhundert.

  3. Kritiker sagt:

    @Carmen Richtig, denn Universitäten waren nun mal kirchliche Einrichtungen und Glossen zu religösen Texten sind nun mal die Vorform der Fußnote. Die Erwähnung der religiösen Autorität in Form einer Randbemerkung ist die Vorstufe zum wissenschaftlichen Apparat. Was daran kirchliches Brimborium sein soll, weiß nur Tei Fei. Der sieht nur seine Weltsicht, die für Ihn zeitungebunden-historisch-überzeitlich ist. Fest steht, dass sich die moderne Naturwissenschaft aus der religiösen Weltbetrachtung heraus emanzipiert hat. Dass man dabei wissenschaftliche Techniken und Strukturen übernahm, die ausgesprochen leistungsfähig waren, übersieht Tei Fei. Ohne das Gestern gibt es nun mal kein Heute. Alles andere ist kindisch.

  4. TaiFei sagt:

    Carmen sagt: 31. August 2015 um 19:05
    „Bevor man urteilt, sollte man erst einmal fragen. Fragen führt zum kritischen Urteil, das deshalb kritisch ist, weil dabei die Zeitgebundenheit des eigenen Denkens bewusst wird. Erst auf dieser Basis lässt sich vernünftig über eine längst vergangene Epoche urteilen. Nur wer sich darüber bewusst ist, dass sein Standpunkt letztlich selbst historisch bedingt ist, sollte sich einer fremden Kultur nähern.“
    Die Zeitgebundenheit des eigenen Denkens stelle ich gar nicht in Abrede. Ich muss mir jedoch keineswegs damalige Vorstellung zwecks Bewertung zu Eigen machen um diese Epoche zu beurteilen. Wenn damalige Vorstellung und Definition nachweislich FALSCH sind würde das Aneignen dieser Vorstellung mein heutiges Urteil verfälschen. Im Übrigen ist die mittelalterliche europäische Kultur doch gar keine fremde. Sie ist Teil unserer heutigen Kultur. Gerade Sie heben doch den besonderen Status der damaligen christlichen Kultur für unsere heutige Zeit ständig hervor. Also was denn nun?
    Carmen sagt: 31. August 2015 um 19:05
    „Abgaben wurden durch Gewohnheit und Vertrag festgelegt (wie bei einer Miete oder einer Pacht), aber im Fall der Steuern eben nicht. Steuern wurden ausgehandelt. Außerdem ist es ein Unterschied, ob ein Fürst und sein mobiler Hof an der Spitze eines Landes steht oder ein administrativer Apparat mit fester Hauptstadt und Behörden.“
    Was Sie hier ansprechen bezog sich lediglich auf das Lehnswesen. Das betrifft jedoch nicht den Bauerstand. Der war nicht frei irgendetwas auszuhandeln. Die Verfügungsgewalt über den Boden hatte der Grundherr. Bauern unterstanden auch nicht direkt einem Landesfürst oder gar König. Insofern ist die mobile Hofhaltung (übrigens eine mitteleurop. Besonderheit) völlig irrelevant für deren Abgabeverpflichtung. Grundherren bzw. deren Verwalter waren sehr wohl vor Ort. Der Bauernstand hatte auch überhaupt kein Mitspracherecht auf die Erhebung von sonstigen Steuern. Sie waren verpflichtet jedes Jahr eine Gült bzw. zusätzlich Fronarbeit zu leisten. Von Freiwilligkeit und Mitspracherecht kann hier keine Rede sein. Natürlich durften sie hier im Umkehrverhältnis auch Schutz erwarten. Nur sollte man das keineswegs mit der heutigen Exekutive verwechseln.
    Carmen sagt: 31. August 2015 um 19:05
    „Der Bauernstand hatte genug Möglichkeiten der Abwehr. Sie denken zu primitiv und zu zeitgebunden. Erstens konnte ein Bauer beim Gerichtsherren intervenieren, wenn sein Grundherr zu Unrecht Abgaben gegen das Herkommen verlangte, zweitens gab es dann immer noch die Möglichkeit, dass das Dorf sich gegen den renitenten Grundherren wandte, entweder in Form einer Fehde oder eines passiven Widerstands. Drittens hatten Landesherren ein fundamentales Interesse, dass Frieden herrschte, darum war dem Missbrauch allzu gieriger Grundherren durchaus in vielen Fällen der Boden entzogen.“
    Das Dumme ist aber, dass im Mittelalter der Grundherr auch die Gerichtshoheit hatte. Es gab KEINE unabhängige Judikative. Eine solche Intervention gegen Grundherren ist erst ab dem ausgehenden 15. Jh. möglich. Natürlich hätten sich Dörfer mit Gewalt (wie sollte denn bitte passiver Widerstand im Mittelalter aussehen?) gegen übermäßige Forderungen zu Wehr zu setzen. Nur welche Chancen hatten denn da die Bauern? Sie vergessen, dass allein die Ausrüstung EINES Kämpfers oft den Gegenwert einer ganzen Dorfes darstellte. Schlecht ausgerüstete und kaum ausgebildete Bauern hatten hier i.d.R. schlechte Karten. Ferner war eine Rebellion ja ein Aufstand gegen die gottgewollte Ordnung, was auch von der Kirche sanktioniert wurde. Oder bestreiten Sie in dem Fall die Relevanz der Kirche. Die großen Bauernaufstände im ausgehenden Mittelalter wurden ausnahmslos niedergeschlagen und auch von ALLEN Kirchen (kathol. wie auch evang.) bekämpft und verurteilt.
    Carmen sagt: 31. August 2015 um 19:05
    „Selbstverständlich wurden Abgaben im Allgemeinen ungern bezahlt. Das ändert aber nichts daran, dass man sie respektierte, wenn sie an Vertrag und Herkommen gebunden waren. Das Verhältnis zwischen Untertan und Grundherren war eben ein sozioökonomisches und kein rein materielles. Das ist der Unterschied.“
    Verträge setzen freie Partner voraus. Eine Vertragsfreiheit existierte im Mittelalter nicht zwischen den Ständen. Die Bauern waren aber nicht frei. Dass man die Abgabenlast seitens des Bauernstandes respektierte ist IHRE Interpretation. Die steht aber im Gegensatz zur sozioökonomischen Abhängigkeit.
    Carmen sagt: 31. August 2015 um 19:05
    „Außerdem konnten Bauern ja ihr Gut verlassen und in die Stadt ziehen. Schon darum musste sich ein Grundherr in aller Regel einigermaßen gut mit seinen Untertanen stellen.“
    Die Bauern hatten eben NICHT die Wahl, einfach das Gut zu verlassen. Der Großteil des Bauernstandes war an den Boden gebunden. Was Sie hier darstellen trifft nicht für das Mittelalter zu. Es ist eine Entwicklung die erst Ende des 15. Jh. einsetzte.
    Carmen sagt: 31. August 2015 um 19:05
    „Ob ich nun sage Adelsherrschaft ist gottgewollt oder von Natur aus vorgegeben, ist ziemlich egal. Es läuft auf dasselbe hinaus. „Die“ Kirche (wer soll das sein?) hat nur das wiedergekäut, was Hinz und Kunz dachten, nämlich, dass eine Gesellschaft drei Stände brauchte, den Nährstand, den intellektuellen Stand und den schützenden Stand. Wie hätte die damalige Welt denn sonst funktionieren sollen?“
    Natürlich ist es gleich ob Sie gottgewollt oder von Natur aus vorgegeben sagen. Das ändert aber nichts daran, dass beides falsch ist. Die Adelsherrschaft ist weder gottgegeben noch ein Naturgesetz. Diese Definition bzw. Vorstellung ist FALSCH. Wenn Sie außerdem behaupten, dass die Kirche nur Hinz und Kunz nachgekäut hätte, widersprechen Sie sich selbst und negieren jeglichen gesellschaftlichen Einfluss der christlichen Kirche auf die mittelalterliche Gesellschaft. Das ist aber Blödsinn, die Kirche hat nichts wiedergekäut, sie hat propagiert. Da sie selbst zur herrschenden Klasse zählte propagierte sie natürlich die natürliche Ständeordnung um ihre eigene Unantastbarkeit abzusichern. Ihre Frage nach Alternativen zur damaligen Ständegesellschaft ist rein akademisch und negiert das Herrschaftsprinzip.
    Carmen sagt: 31. August 2015 um 19:05
    „Die“ Kirche waren im Prinzip alle, nicht nur der Adel oder die Geistlichkeit, darum ist Ihr Argument ebenfalls zeitgebunden. Da Gott die Welt geschaffen hatte, lag es für alle nahe, die Existenz der drei Stände religiös zu begründen.“
    Da Gott aber eben NICHT die Welt geschaffen hat, war diese Begründung reine Propaganda. Eben genau das meinte ich damit, dass man sich gerade NICHT die damaligen Definitionen und Vorstellung zu Eigen machen darf. Wenn die Kirche damals prinzipiell „alle“ waren, dann war das Eigentum der Kirche auch das Eigentum aller, womit eine Enteignung von Kirchengütern nie stattgefunden hätte. Sie merken aber schon noch, was Sie da zusammenfasseln?
    Carmen sagt: 31. August 2015 um 19:05
    „Die Vorstellung der Erde als Scheibe stammte ähnlich wie die Vorstellung, die Erde sei Mittelpunkt des Universums aus der Antike. Dass es sich dabei um spezifisch mittelalterlich-kirchliche Vorstellungen gehandelt haben soll, ist ein Klischee des 19. Jahrhunderts. Es gab im Mittelalter natürlich auch die Ansicht, dass sich die Erde um die Sonne (Bonaventura im 13. Jahrhundert, auch Oresme) drehe als auch die Ansicht, dass die Erde eine Kugel sei.“
    Richtig, sowohl Scheibenerde als auch geozentrisches Weltbild haben ihren „Ursprung“ in der Antike. Das Mittelalter folgt ja auch chronologisch der Antike womit sich eine umgekehrte Reihenfolge auch ausschließt. Ich darf jedoch darauf hinweisen, dass sowohl Kugelgestalt der Erde als auch das heliozentrische Weltbild bereits im 3. Jh. VOR Christus zu Diskussion standen. Und selbst im indischen Kulturraum wurde bereits ab dem 5. Jh. NACH Christus das heliozentrische Weltbild vorgestellt.
    Das ist aber gar nicht Punkt worauf ich hinaus wollte. Der Punkt war die Aneignung antiquierter Vorstellung zur heutigen Bewertung. Ich kann mich bei der Bewertung einer Gesellschaft nicht hinstellen und die damaligen Definition zur Basis nehmen.
    Carmen sagt: 31. August 2015 um 19:05
    „Natürlich sind heutige Universitäten und heutige Wissenschaft ohne Christentum nicht denkbar. Weder eine Fußnote noch ein modernes Wissenschaftssystem ist ohne die mittelalterlichen Wurzeln vorstellbar. Christliches Brimborium („Klischee“!) ist halt mehr als Kult, es war oft Philosophie vom Feinsten, die sich nachhaltig einprägte.“
    Diese unterstellte Kausalität ist falsch. Die ältesten nachgewiesenen Universitäten liegen im muslimischen Raum. Das Christentum ist also nachweislich KEINE Voraussetzung für Universitäten und Wissenschaft. Sie negieren damit auch ALLE wissenschaftlichen Erkenntnisse der Antike bzw. anderer Kulturräume.
    Ich möchte hier auch daran erinnern, dass christl. Universitäten im Mittelalter i.d.R. lediglich Theologie, Rechtslehre und Medizin, ferner auch die freien Künste lehrten. Ob die christl. Lehre nun „Philosophie vom Feinsten“ ist, dürfte eher Interpretationssache sein. Die Rechtslehre basiert vor allem auf antiken römischen Recht und was die Medizin betrifft, so ist deren Stand im mittelalterlichen Europa doch eher armselig.

  5. TaiFei sagt:

    @kritiker
    Die lateinische Kirche als Institution mit ihren angeschlossenen Universitäten lehrte vor allem die Rechtslehre und führte eine theolog. Diskussion. Das ist völlig richtig. Es ist auch richtig, dass sich die moderne Naturwissenschaft aus der religiösen Betrachtung heraus emanzipiert hat. Genau das ist der Punkt. Die Basis wissenschaftlichen Denkens verlässt die religiöse Indoktrination. Was war aber die Basis dieser Emanzipation und wann begann diese? Weder liegt die Basis hier im religiösen Weltbild begründet, noch ist die Emanzipation der Wissenschaft eine Errungenschaft des europ. Mittelalters. Die Übernahme der Strukturen war dabei selbstverständlich. Im europ. Raum waren ja gar keine anderen vorhanden, somit steht die Leistungsfähigkeit gar nicht zur Debatte. Im Übrigen sprach ich vom christ. Brimborium nicht vom kirchlichen. Die Struktur der kirchlichen Institutionen muss man nicht zwangsläufig mit der vermittelten Botschaft verknüpfen. Sie machen genau den gleichen Fehler wie Carmen. Sie behaupten die christl. Philosophie wäre die Basis des mittelalterlichen Gesellschaftssystems. Das ist aber falsch. Sie ist nicht die Basis, sondern die Rechtfertigung der mittelalterlichen Gesellschaftsverhältnisse. Sie lieferte lediglich die Begründung, welche im Mittelalter allgemein akzeptiert wurde. Dass Carmen und Sie diese heute immer noch akzeptieren sagt recht viel über sie aus.

  6. Carmen sagt:

    @Tei Fei „Ich muss mir jedoch keineswegs damalige Vorstellung zwecks Bewertung zu Eigen machen um diese Epoche zu beurteilen. Wenn damalige Vorstellung und Definition nachweislich FALSCH sind würde das Aneignen dieser Vorstellung mein heutiges Urteil verfälschen. Im Übrigen ist die mittelalterliche europäische Kultur doch gar keine fremde. Sie ist Teil unserer heutigen Kultur. Gerade Sie heben doch den besonderen Status der damaligen christlichen Kultur für unsere heutige Zeit ständig hervor. Also was denn nun?“

    1. Beides ist Blödsinn. Natürlich ist die mittelalterliche Kultur nicht die moderne und eben aus dem Grund kann man Wertvorstellungen nicht 1:1 setzen. So hat z.B. die Bestrafung eines Verbrechers (Ohrabschneiden) in vormoderner Zeit durchaus Sinn, weil es ja noch keine Verberecherakte gab. Der Man musste kenntlich gemacht werden. Aus heutiger Sicht falsch, aus damaiiger Sicht völlig richtig. Was hätten die Leute denn sonst tun sollen? Dass das Mittelalter = die moderne Kultur sei, hat niemand behautet.

    2. Der Bauer konnte, sofern er frei war, jede Leihform wählen, die es gab (Erbstift, Freistift usw.). Er konnte genauso „Lehen“ innhaben wie jeder Adelige. Woher Sie Ihre Weisheit nehmen weiß ich nicht. Vermutlich aus der Klischeeschublade. Informieren Sie sich mal! Wenn unter Lehen heutzutage Großgüter verstanden werden, ändert das nichts daran, dass der mittelalterliche Mensch eben, anders als wir, darunter auch Kleingüter verstand.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Freistift

    (Darum heißt ja der Lechner in Bayern Lechner. Vom Landleben mal wieder keine Ahnung …) Selbstverständlich konnten Bauern als Stand im Ständgremium vertreten sein (siehe Tirol). Waren sie das, konnten sie bei der Erhebung von Steuern „mitreden“, selbst wenn ihre Stimme vielleicht nicht immer ausschlaggebend war. Es gibt genügend Beispiele dafür, dass Bauern Landesherren in die Knie zwangen (etwa 1462 im Salzburger Land oder in der heitgen Schweiz). Bauern waren gerade im oberdeutschen Raum ein ausgesprochen selbstbewusstes Völkchen. Dass es viele gegenteilige Beispiele gibt, streite ich keineswegs ab.

    3. Adelsherrschaft war dort wo es keine oder meist nur sehr kleine Städte gab und wo kein Staat existierte ein „Muss“. Eine solche Gesellschaft war ohne Schützende nicht vorstellbar, Diese Erkenntnis ist unbedingt RICHTIG. Eine Feudalwelt ohne Adel und patrizische Eliten ist UNVORSTELLBAR. wäre hätte denn sonst Autorität ausüben sollen? Der Kuhbauer von nebenan?

    4. Grundherr und Gerichtsherr sind im Mittelalter völlig verschiedene Stiefel. Nicht jeder, der Grund besaß, besaß auch die volle Gerichtsgewalt darüber. Nicht jeder Adelige, der in einem Dorf saß, war automatisch Dorfherr. Nicht jeder, der über Grundholden verfügte, war gefeit vor Interventionen des Gerichtsherrn. Wenn der Klostervogt den Untertanen schlecht behandelte, konnte der Untertan, sofern er frei war, sich beim Landesherrn beschweren und bekam oft sogar recht. Natürlich gibt es Gegenbeispiele, nur, wie gesagt, man kann das nicht verallgemeinern wie Sie. Die Formel „alle Bauern waren ausnahmslos unmündige Sklaven des Adeligen“ ist einfach FALSCH.

    5. Hat die heutige europäische Universität eindeutig christliche Wurzeln. Andere nichtchristliche „Schulen“ sind damit nicht vergleichbar, da der institutionelle Kanon (Bursen, Trivium, Quadrivium, Theologie, weltliches und kirchliches Recht, Medizin und Artes liberales usw.) dort nicht existierte.
    Eine Universität ist eine Einrichtung zur freien christlich-wissenschaftlichen Lehre, an der die Universitas christlicher Lehrer unterrichtet. Sowohl Rektorat, Disputatio, Promotion als auch Habilitation haben ihre Wurzeln im Mittelalter. All das gehört zum europäischen Wissenschaftssystem. Anderswo gibt es das halt so nicht. Wer etwas anderes behauptet, verbreitet KLISCHEES.

    Die Medizin war tatsächlich schwach ausgeprägt, nicht jedoch die Rechtswissenschaft und die freien Künste. Hier gab es z.T. einen beträchtlichen Vorsprung.

    6. „Ich kann mich bei der Bewertung einer Gesellschaft nicht hinstellen und die damaligen Definition zur Basis nehmen.“

    Selbstverständlich muss man das, sonst kann man sich dem Denken einer vergangenen Zeit ja nie nähern. Die Folge wäre Geschichtswissenschaft auf KNOPP-Niveau: Nimm immer nur das wahr, was du wahrhaben willst. Berurteile die Steinzeit nach Deinen Kriterien. Wenn man das so macht wie Sie, müssen alle Menschen vergangener Epochen unkultivierte Primitivlinge gewesen sein? Sehe ich das richtig?

    7. Ist die „Kirche“ im Mittelalter die Summe aller Christen. Da es „die“ Kirche als administrative Institution nicht gab, sondern nur viele Kirchen, konnte es auch nicht „den“ Kirchenbesitz geben. Was soll da gefaselt sein? Kritik an den Herrschaftsverhältnisse wurde als religiöser Diskurs geführt, so dass es blödsinnig ist, von Kirche als reinem Herrschaftsinstrument der Mächtigen zu reden. Es gibt genügend Gegenbeispiele, an denen man aufzeigen kann, dass Herrschaft über kirchliches Denken der „kleinen Leute“ in Frage gestellt wurde. Wenn „die“ Kirche im 19. Jahrhundert geschaffen wurde und man heute von „der“ Kirche spricht, ändert das ja nichts daran, dass es in vergangenen Epochen „die“ Kirche als einheitliche administrative Instituion nicht gab. Insofern ist Ihr Argument eben wieder ein Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen.

    8. „Was Sie hier darstellen trifft nicht für das Mittelalter zu. Es ist eine Entwicklung die erst Ende des 15. Jh. einsetzte.“

    Falsch. Denn gerade in der Neuzeit greift die Leibeigenschaft um sich (etwa in Ostdeutschland), während das Mittelalter seit dem 13. Jahrhundert eine vermehrte bäuerliche Freiheit kennt. Wieder Klischee. Wie hätten denn z.B. die „bösen Grundherren“ nach der Großen Pest Ihre „Arbeitskräfte“ halten sollen, wenn Sie nicht beste Konditionen angeboten hätten?

  7. Kritiker sagt:

    @Tei Fei Doch, die rationale, „naturwissenschaftliche“ Weltsicht legt schon in der religiösen Weltsicht begründet, insofern als man danach fragte, warum Gott die Welt so geschaffen hatte wie sie war. Was gab den Anstoß für die Schöpfung? Wie wirkt Gott in der Welt? Das hat mit Indoktrination nichts zu tun, sondern mit Weltauffassung. Die Trennung von Weltsicht, Religion und Naturwissenschaft ist eben genau eine europäische Leistung, die ihre Wurzeln im Mittelalter hat. Der vormoderne Mensch begreift die Welt nicht naturwissenschaftlich, selbst wenn er über genaue Kenntnisse der Naturgesetze verfügt. Die Welt ist für ihn nicht „Werkzeug“ oder „Herrschaftsmittel“, sondern „Schöpfung“.
    Bei den Griechen mag die Trennung von Religion und Wissenschaft schon vorbereitet sein, aber zum großen Durchbruch hat sie erst das abendländische Wissenschaftssystem gebracht.

    PS: Das Chrstentum ist fundamental für das Funktionieren der mittelalterlichen Gesellschaft, weil es einen straffen Wertekanon schuf, der ohne diese Religion anders ausgesehen hätte. „Philosophie“ besteht ja nicht nur aus „Naturwissenschaft“, sondern auch aus Sittenlehre etc., die in die europäische Gesellschaft hineingetragen wurde. Diesen Aspekt sollte man nicht übersehen.

  8. TaiFei sagt:

    1.Ihre Bsp. tangieren überhaupt nicht meinen Punkt. Mittelalterliche Vorstellungen zur Gesellschaftsanalyse waren damals nicht richtiger als heute. Sie bildeten lediglich die Erklärung auf dem damaligen Niveau unter Einbeziehung der Herrschaftsverhältnisse ab.
    2. Eben, sofern er frei war. Das war im Hochmittelalter im weniger der Fall. Natürlich kann man Gegenbsp. finden. Diese bilden aber nicht die Regel ab. Ferner habe ich schon eingeräumt, dass es ab dem 15. Jh. eine Möglichkeit der Klage gab. TaiFei sagt: 2. September 2015 um 09:50:.“ Eine solche Intervention gegen Grundherren ist erst ab dem ausgehenden 15. Jh. möglich.“ Das ist aber ebenfalls NICHT der Regelfall für den Großteil des Mittelalters im gesamten europ. Raum. Auch waren Dorfgemeinschaften eher selten in den Landtagen stimmberechtig. Diese Entwicklung setzte eben ERST ab dem 15. Jh. ein. Natürlich gab es einige Gegenden, wie eben die Schweiz, wo solche Entwicklungen früher einsetzten. Sie machen aber lokale Besonderheiten zur Regel für GANZ Europa, was unzulässig ist.
    3. Das ist nicht falsch. Dennoch ist diese Herrschaft weder gottgewollt noch ein Naturgesetz. DAS ist der Punkt. Sie interpretieren gesellschaftliche Verhältnisse als Naturgesetz. Tatsächlich ist das eine Vorstellung des 19. Jh., etwas was Sie MIR immer vorwerfen.
    4. Was erzählen Sie denn da? Erst schreiben Sie Carmen sagt: 2. September 2015 um 13:44 : „Adelsherrschaft war dort wo es keine oder meist nur sehr kleine Städte gab und wo kein Staat existierte ein „Muss“. Eine solche Gesellschaft war ohne Schützende nicht vorstellbar,“ Dann stellen Sie das ganze wieder in Frage. Natürlich mag es Grundbesitzer gegeben haben, denen nicht die Gerichtsbarkeit unterstand. Das war aber nicht die Regel. Der Grundherr hatte die Executive unter sich. Carmen sagt: 2. September 2015 um 13:44 „wäre hätte denn sonst Autorität ausüben sollen? Der Kuhbauer von nebenan?“ Dass Bauern, die sich beschwerten, oft Recht bekommen hätten, können sie gar nicht nachweisen, da es eine solche Judikative im dt. Raum erst ab dem 15. Jh. gab. Sie werfen mir im Ernst Pauschalisierung vor? Natürlich waren Bauern keine unmündigen Sklaven. Der freie Bauer war aber ab dem 11. Jh. nicht mehr der Regelfall. Warum mehrten sich denn im Spätmittelalter die Bauernaufstände. Weil es denen allen so gut ging?
    5. Natürlich hat die europ. Universität christlicher Wurzeln. Welche sollten Sie denn sonst haben. Das Christentum war nun mal in Europa die vorherrschende Philosophie. Das ändert aber NICHTS an der Tatsache,
    dass das Christentum KEINE Voraussetzung für die Entstehung von Universitäten ist. Hätte im europ. Mittelalter das fliegende Spaghetti-Monster den philosophischen Diskurs bestimmt, hätten europ. Universitäten heute diese Wurzeln. Ihre unterstellten Kausalitäten sind Blödsinn. Dass die Rechtswissenschaft in Europa schwach ausgeprägt war, habe ich auch gar nicht behauptet. Im Gegenteil sie war ein wesentlicher Punkt des Universitätswesens. Ihren Ursprung hatte sie jedoch im vorchristlichen römischen Recht. Was den angeblichen Vorsprung der freien Künste angeht, so ist das wohl eher subjektiv.
    6. Das ist Quatsch. Sie sprechen sich damit dafür aus, antiquierte Quellen bedenkenlos zu übernehmen. Das ist aber der falsche Weg, denn: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“Karl Marx. Sie übernehmen somit unhinterfragt damalige Propaganda und das damalige eingeschränkte Weltbild. Es geht nicht um die moralische Bewertung sondern um eine möglichst objektive Beurteilung. In der gesamten Menschheitsgeschichte sind Verfälschungen von Tatsachen eher die Regel. Da wird verschwiegen, übertrieben, untertrieben gar absichtlich gefälscht um Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren oder auch zu unterminieren.
    7. Schon wieder widersprechen Sie sich. Wenn es die Kirche als administrative Macht nicht gab, wie konnte sie dann die europ. Gesellschaft nachhaltig beeinflussen? Die Kirche besaß Land, eine strenge hierarchische Struktur, eine Verwaltungsstruktur und sie hatte praktisch das Schriftmonopol. Der kirchliche Stand war Teil der herrschenden Klasse der mittelalterlichen Ständegesellschaft. Sie ignorieren jegliche moderne Geschichtswissenschaft, wenn Sie das ernsthaft in Frage stellen.
    8. Mein Einwurf galt Ihrer Behauptung Carmen sagt: 31. August 2015 um 19:05
    „Außerdem konnten Bauern ja ihr Gut verlassen und in die Stadt ziehen.“ Die freie Bauernschaft nahm bereits ab dem 11. Jh. radikal ab. Der größte Teil war hörig, was einen Unterschied zur Leibeigenschaft darstellt, den Sie aber nicht kennen. Das mit den Arbeitskräften nach der Pestwelle, soll wohl ein Witz sein. Nochmal, die meisten Bauern waren hörig, sprich an den Boden gebunden. Sie durften nicht einfach in die Städte auswandern und sie mussten Fronarbeit für die Grundherren leisten. Das ist das Grundprinzip einer Feudalgesellschaft mit ihrer sozioökonomischen Abhängigkeit. Sie unterstellen den Bauern damals eine Wahlfreiheit, die es für die Mehrheit gar nicht gab.
    —————————-
    Kritiker sagt: 2. September 2015 um 14:37
    „Doch, die rationale, „naturwissenschaftliche“ Weltsicht legt schon in der religiösen Weltsicht begründet, insofern als man danach fragte, warum Gott die Welt so geschaffen hatte wie sie war. Was gab den Anstoß für die Schöpfung? Wie wirkt Gott in der Welt?“
    Was Sie ansprechen ist Philosophie und keine Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaft stellt ja die Schöpfungslehre in Frage. Damit stehen diese komplett konträr. Aber vielleicht gehören Sie ja den Kreationisten an? Die rationale Anschauung und das europ. Individualitätsbild gelten eher als ein Erbe der Antike.
    Kritiker sagt: 2. September 2015 um 14:37
    „Das hat mit Indoktrination nichts zu tun, sondern mit Weltauffassung. Die Trennung von Weltsicht, Religion und Naturwissenschaft ist eben genau eine europäische Leistung, die ihre Wurzeln im Mittelalter hat.“
    Diese Trennung ist eben nicht die Leistung des Mittelalters. Das Mittelalter ist im Gegenteil von der Vermischung geprägt.
    Kritiker sagt: 2. September 2015 um 14:37
    „Der vormoderne Mensch begreift die Welt nicht naturwissenschaftlich, selbst wenn er über genaue Kenntnisse der Naturgesetze verfügt. Die Welt ist für ihn nicht „Werkzeug“ oder „Herrschaftsmittel“, sondern „Schöpfung“.
    Bei den Griechen mag die Trennung von Religion und Wissenschaft schon vorbereitet sein, aber zum großen Durchbruch hat sie erst das abendländische Wissenschaftssystem gebracht.“
    Genau und dieses abendländische Wissenschaftssystem entwickelte sich ab der Neuzeit auf Basis überlieferter antiker Quellen. Das Christentum hat allenfalls den abendländischen Wertekanon geprägt.
    Kritiker sagt: 2. September 2015 um 14:37
    „PS: Das Chrstentum ist fundamental für das Funktionieren der mittelalterlichen Gesellschaft, weil es einen straffen Wertekanon schuf, der ohne diese Religion anders ausgesehen hätte. „Philosophie“ besteht ja nicht nur aus „Naturwissenschaft“, sondern auch aus Sittenlehre etc., die in die europäische Gesellschaft hineingetragen wurde. Diesen Aspekt sollte man nicht übersehen.“
    Philosophie ist KEINE Naturwissenschaft, es ist eine Gesellschaftswissenschaft. Das scheint mir ja, das große Problem von Ihnen und Carmen zu sein. Sie schmeißen hier Äpfel mit Birnen zusammen. Die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit unterliegt aber eben nur zum Teil den Naturgesetzen. Natürlich hat das Christentum einen Wertekanon geschaffen. Das wird von mir auch nirgends bestritten. Aber JEDE Religion bzw. Philosophie schafft einen Wertekanon und die Dominanz eines gesellschaftlichen Kulturkreises ist eben NICHT auf deren Sitten und Werte zurück zu führen. Wenn Sie das ernsthaft behaupten betreiben Sie Kulturalismus da Sie diese Dominanz mit einem moralischen Werturteil verbinden.

  9. Carmen sagt:

    @Tei Fei

    Punkt 1 dreht sich um keine Gesellschaftsanalyse, sondern um die Frage, wieso man heutige Wertvorstellungen nicht zum Maßstab für damalige Wertmaßstäbe machen kann. Das Abschneiden von Ohren hat mit Gesellschaftsanalysen nichts zu tun. Lesen Sie doch mal, was geschrieben wurde! Fazit: Blabla
    Punkt 2 Ist Ihre Behauptung. Tatsächlich waren ab dem Hochmittelalter Bauern in sehr vielen Territorien durchaus nicht leibeigen. In Bayern sind die meisten Bauern schon seit dem ausgehenden Hochmittelalter Zinsbauern mit geringen Fronlasten und damit weitegehend frei. Fazit: Blabla
    Punkt 3 War Herrschaft kein Naturgesetz, aber unter den damals gegebenen Umständen nicht anders denkbar. Es gab halt keine Instanz, die das hätte ändern können. Bei wem hätte denn ein Bauer Schutz suchen sollen? Bei der Polizeidirektion? Oder beim Abgeordneten von nebenan? Die gab es noch nicht. Fazit: Blabla
    Punkt 4 Reden Sie plötzlich von „natürlich“, nachdem Sie vorher pauschal das Gegenteil behauptet haben. Selbstverständlich gab es schon vor dem 15. Jahrhundert eine solche Judikative, etwa im Herzogtum Bayern oder im Königreich Sizilien. Bauernaufstände wurden meist von reichen Bauern geführt, nicht von Habenichtsen. Dabei ging es nicht nur um „Abgaben“, sondern auch um die Verletzung der bäuerlichen Ehre bzw. konkrete Rechte. Dass die Berichte darüber ab dem 13. Jahrhundert vermehrt zunehmen, hängt mit der vermehrten Schriftlichkeit zusammen. Fest steht, dass es genausoviele Adelsfehden gegen den Landeshern gab, gerade im Spätmittelalter. Fazit: Blabla.
    Punkt 5 Selbstverständlich war das Christentum Voraussetzung für die europäische Universität. So sind ja gerade die frühen Universitäten aus Bischofsschulen enstanden. Und die frühen herrschaftlichen Universitätsgründungen kamen ohne Klerikerpersonal nicht aus. Wer hätte denn sonst unterrichten sollen? Das große Spagettimonster gab es nicht. Insofern ist Ihr „hätte“ argumentativ betrachtet Unsinn. Außerdem war ja der universitäre Bildungskanon von vornherein kirchlich konnotiert. Natürlich stand das christliche Bildungswesen teilweise in einer antiken Tradition, aber gerade die Antike hat ja kein Universitätssystem hervorgebracht! Wieder mal totales Unwissen! Fazit: Blabla.
    Punkt 6: Mir ist nicht bekannt dass Karl Marx ein versierter Historiker war. Fest steht, dass es Quellen gibt, die eben nicht mit der Absicht verfasst wurden, andere zu belehren. Gerade Sie lassen sich ohne Vorkenntnisse der damaligen Zeit aber nicht aus heutiger Sicht beurteilen. Dies gilt gerade für Rechtstexte oder Rechnungsquellen, aus denen der andere Geist der vergangenen Epoche haucht. Das Ohrenabschneiden wird nicht verständlicher, wenn man den großen kirchlichen Ideologen XY zu Rate zieht. Fazit: Blabla
    Punkt 7: Wurde sehr klar zwischen „der“ Kirche als ideeller europäischer, sozialer und kulturelle Einheit und „den“ Kirchen als administrativer Einrichtung unterschieden. Können Sie denn nicht lesen? Und woher wissen Sie so genau, dass „die“ Kirche Land besaß? Es soll ja Orden und religiöse Gruppen gegeben haben, die auf „Land“ und Besitz. bewusst verzichteten? Wer ist denn nun Ihrer Meinung nach „die“ Kirche?
    Fazit: Blabla
    Punk 8: Selbstverständlich gab es die Wahlfreiheit. „Stadtluft macht frei.“ Wer als Bauer frei war, konnte nicht ohne weiteres am Abzug gehindert werden. In Bayern z.B. war die Mehrzahl der Bauern z.B. nicht oder nur bedingt hörig. Fazit: Blabla Die Abhängigkeit, die Sie unterstellen, wurde in sehr vielen Fällen unterlaufen und gehindert. Grundherrschaft ist nicht gleich Gerichtsherrschaft, auch wenn sie oft zusammenfielen. Dort wo Beides nicht zusammenfiel, war der Machtmissbrauch der Grundherren stark eingeschränkt. Ferner wurde Grundherrschaft oft nicht mehr als besonders belastend empfunden, wenn es eine übergreifende Landesherrschaft gab. Ein bayerischer Landrichter konnte genauso wie ein bayerischer Rentmeister intervenieren, wenn ein Amtsträger Recht brach. Ja warum denn nicht? Und dort, wo der Bauer bei den Grundherren A, B, C, D Grund geliehen hatte und dem Gerichtsherren E unterstand, konnte seine Freiheit ja auch wohl kaum stark eingeschränkt sein.

  10. Carmen sagt:

    @Tei Fei
    „Was Sie ansprechen ist Philosophie und keine Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaft stellt ja die Schöpfungslehre in Frage. Damit stehen diese komplett konträr. Aber vielleicht gehören Sie ja den Kreationisten an? Die rationale Anschauung und das europ. Individualitätsbild gelten eher als ein Erbe der Antike.“

    Sehe ich nicht so, da Naturwissenschaft ja auch erst einmal philosophisch erdacht werden muss. Naturwissenschaft muss keineswegs die Schöpfung in Frage stellen. Dieser Vorgang fällt noch ins Hochmittelalter. Dass Aristoteles dabei eine Rolle spielt, sei gar nicht geleugnet. Nur haben nun mal Kirchenleute diesen Schritt vollzogen.

    „Das hat mit Indoktrination nichts zu tun, sondern mit Weltauffassung. Die Trennung von Weltsicht, Religion und Naturwissenschaft ist eben genau eine europäische Leistung, die ihre Wurzeln im Mittelalter hat.“
    Diese Trennung ist eben nicht die Leistung des Mittelalters. Das Mittelalter ist im Gegenteil von der Vermischung geprägt.

    Falsch, denn das eine schließt ja das andere nicht aus

    „Genau und dieses abendländische Wissenschaftssystem entwickelte sich ab der Neuzeit auf Basis überlieferter antiker Quellen.“

    Das ist falsch, da Universitäten in der Antike so nicht existent sind. Das abendlädische Wissenschaftssystem ist so mittelalterlich wie Oxford und die Sorbonne.

    Philosophie ist KEINE Naturwissenschaft, es ist eine Gesellschaftswissenschaft.

    Da würden Ihnen die alten Griechen aber vehement wiedersprechen!

    „Das scheint mir ja, das große Problem von Ihnen und Carmen zu sein. Sie schmeißen hier Äpfel mit Birnen zusammen. Die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit unterliegt aber eben nur zum Teil den Naturgesetzen. Natürlich hat das Christentum einen Wertekanon geschaffen. Das wird von mir auch nirgends bestritten. Aber JEDE Religion bzw. Philosophie schafft einen Wertekanon und die Dominanz eines gesellschaftlichen Kulturkreises ist eben NICHT auf deren Sitten und Werte zurück zu führen. Wenn Sie das ernsthaft behaupten betreiben Sie Kulturalismus da Sie diese Dominanz mit einem moralischen Werturteil verbinden.“

    Ja, aber nur das „Christentum“ (nenen Sie es meinetwegen auch Abendland oder christlich-mittelalterliche Philosophie) hat den „abstrakten Menschen“ geschaffen und das antike Denken so fortentwickelt, dass sich daraus ein vorher nie da gewesenes Wissenschaftssystem entwickeln konnte (Es waren halt nun mal hauptsächlich Kirchenleute, die in Bologna, Oxford, Freiburg, Mainz, Padua, Paris, Prag, Wien, Mainz, Freiburg, Montpellier, Salerno eine gesamteuropäische Wissenschaftscommunity mit gemeinsamen Bilungskanon bildeten).
    All das war unverzichtbar für die Formung der modernen Welt. Sie können es drehen und wenden wie Sie wollen. Europa ist der Nabel der modernen Welt. In jeder Hinsicht.

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