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Kolumne ohne Migrationshintergrund

„Die Flüchtlinge“, „die Rassisten“ und „Wir“

Zu den rassistischen Ausschreitungen in Heidenau, Tröglitz und andernorts haben viele Promis klar Position bezogen – „Pack“, „Vollidioten“, „Dumpfbacken“. Doch welches Rassismus-Verständnis kommt hier eigentlich zum Ausdruck? Und welche Schwierigkeiten gehen mit der Konjunktur des deutschen 'Helfer-Wirs' einher? Zu den Ambivalenzen im Flüchtlingsdiskurs.

Von und Montag, 14.09.2015, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 15.09.2015, 8:52 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

Die vehemente Verurteilung der verbalen und gewaltvollen Übergriffe auf Geflüchtete, die zivilgesellschaftliche Solidarität, mit der Geflüchtete an Bahnhöfen, in Vereinen und Nachbarschaften Willkommen geheißen werden, die kleinen und großen Gesten privater Flüchtlingshilfe – all dies sind wichtige Signale gegen rassistische Hetze und Abschreckungspolitik. Der Flüchtlingshilfediskurs bleibt dennoch ambivalent und lässt sich aktuell an mindestens drei Fragen diskutieren:

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Wann verfehlen Positionierungen ‚gegen Rechts’ das Ziel, rassistische Verhältnisse in der Gesellschaft aufzubrechen? Wann läuft das private Engagement im Flüchtlingsbereich Gefahr, politisches Handeln zu ersetzen? Und welche Schwierigkeiten gehen mit der Konjunktur des ‚Helfer-Wirs’ einher? Eine Gratwanderung.

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„Unaufgeklärt“ – „dumm“ – „mitleidlos“ – so wichtig die Verurteilung rassistischer Positionen ist: Der Fingerzeig greift zu kurz!

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„…solange es Leute gibt, die nichts können, nichts wissen und nichts geleistet haben, wird es auch Rassismus geben. Denn auch diese Leute wollen sich gut fühlen und auf irgendetwas stolz sein. Also suchen sie sich jemanden aus, der anders ist als sie und halten sich für besser. Oder sie sind bekloppterweise stolz darauf, ‚Deutsch‘ zu sein, wozu keinerlei Leistung ihrerseits nötig war.“ (Farin Urlaub )

Mit Statements wie diesen haben in den vergangenen Tagen und Wochen viele bekannte Persönlichkeiten zu den rassistisch motivierten Ausschreitungen und Anschlägen in Heidenau, Tröglitz und andernorts Position bezogen. Hunderttausendfach wurden die Äußerungen von Joko, Klaas, Kebekus und Co. in den Sozialen Medien geklickt, geliked, geteilt. Im Duktus sind sich die veröffentlichten Gegenpositionen erstaunlich ähnlich. Über Bezeichnungen wie „Pack“ (Sigmar Gabriel), „Vollidioten“ (Oliver Kalkofe), „mitleidlose Dumpfbacken“ (Axel Milberg), „dumme Minderheit“ (Henry Maske) und „unaufgeklärter Mob“ (Iris Berben) wird hier eine radikale Abgrenzung von den selbsternannten ‚Asylkritiker_innen‘ der Nation betrieben.

Die Formulierungen treffen den Nerv des aktuellen Diskurses ‚gegen Rechts‘. In einem Artikel der Huffington Post wurde das eingangs zitierte Statement von Farin Urlaub gar als die „perfekte Erklärung für Rassismus“ angeführt. Aber ist das wirklich so? Welches Verständnis von Rassismus kommt hier und in den anderen ‚Promi‘-Statements eigentlich zum Ausdruck?

Insgesamt wird Rassismus hier als ein Phänomen gefasst, das sich auf bestimmte Personengruppen in der Bundesrepublik eingrenzen lässt. Als Ursache eines so personifizierten Rassismus werden vor allem diejenigen genannt, die aufgrund ihrer vermeintlich selbstverschuldeten Arbeits- und Perspektivlosigkeit zu den ‚Verlierern‘ der Gesellschaft gezählt werden („die nichts können, nichts wissen und nichts geleistet haben“). Mithilfe klassistischer Argumentationen wird hier Rassismus auf ein spezifisches Klientel projiziert, bei der Rechtschreibschwäche, Alkoholismus und rassistische Einstellungen scheinbar unmittelbar zusammenhängen.

In Anbetracht des immer offener artikulierten und gewaltbereiten Rassismus im Netz und auf der Straße sind emotionale Gegenpositionierungen wie die genannten nachvollziehbar und erscheinen notwendig. Sie erwecken aber immer auch den Eindruck, dass ‚wir‘ uns nur stark genug von denjenigen abgrenzen müssen, die sich in der Gesellschaft offen rassistisch zu erkennen geben, um gegen Rassismus im Land vorzugehen. In dieser Logik erscheint es auch unterstützenswert, wenn öffentlich gefordert wird, Rassist_innen ‚abzuschieben‘ oder ‚einzubuchten‘, um sich dem Rassismus hierzulande zu entledigen.

Allerdings geht mit einem solchen Verständnis die Gefahr einher, Rassismus auf ein primär individuelles Einstellungsproblem zu reduzieren und dessen Mehrdimensionalität auszublenden. Aus dem Blick gerät die Vielschichtigkeit von Rassismus beispielsweise in Form der sich täglich tausendfach ereignenden (subtilen) rassistischen Anfeindungen. Aus dem Blick gerät auch das im öffentlichen Diskurs ständig reproduzierte völkisch-rassistisch-codierte Wissen, welches in seiner historischen Verwurzelung und institutionellen Verankerung – sei es auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt oder im Bildungssystem – gesellschaftliche Ausschlüsse aufrechterhält. Dabei müssten die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte eigentlich lehren, dass Rassismus ein tiefgreifendes Merkmal unserer Gesellschaft darstellt, das einem mehrheitsgesellschaftlichen ‚Uns‘ nicht einfach gegenübergestellt werden kann bzw. sich nicht auf eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe reduzieren lässt.

Unter den aktuellen ‚Promi‘-Statements fällt erstaunlicherweise kaum eine Position auf, die Rassismus als gesamtgesellschaftliches Problem benennt und diskriminierende Strukturen und Diskurse kritisiert. Die öffentlichen Äußerungen spiegeln damit ein gesellschaftlich dominantes Rassismus-Verständnis wider, das meist auf Rechtsextremist_innen beschränkt und institutionalisierte Formen von Rassismus und Diskriminierung schlichtweg ausblendet. Dies gilt auch für die Bundesregierung, die die Existenz eines institutionellen Rassismus hierzulande erst jüngst wieder in Frage gestellt hat. Die fortwährende De-Thematisierung und Tabuisierung einer indirekten weil strukturell-überindividuellen Dimension von Rassismus prägt dabei maßgeblich ‚unser‘ Rassismus-Verständnis und die Debatte darüber. Leitartikel

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  1. Claus Schlaberg sagt:

    Schon die Rede von ‚Flüchtlingen‘ ist so wenig korrekt, dass sie mich seit dem letzten Jahr zunehmend gegen die Refugees-welcome-Szene aufgebracht hat. Dabei habe ich mich keineswegs von Migranten aus Syrien, Afghanistan, … ferngehalten.

    Vorausgesetzt wird zurzeit fast immer, dass es um Hilfen für geflüchtete Menschen geht. Die ‚Flüchtlingskrise‘ wird – wenn überhaupt über Ursachen nachgedacht wird – so dargestellt, als handele es sich um eine Folge politischer und sozialer Veränderungen, die sich v.a. im Nahen Osten und in Nordafrika abgespielt hätten:
    – der ‚Arabische Frühling‘ und die Gegenwehr Assads in Syrien
    – politisch unstabile Verhältnisse, herbeigeführt dadurch, dass der Sturz von Machthabern ‚Machtvakuen‘ geschaffen habe und nun ‚Stellvertreterkriege‘ geführt würden
    Dass man seine Heimat nicht grundlos verlässt, steht außer Frage. Eine Frage ist, inwiefern politische und soziale Veränderungen die jüngeren Migrationsbewegungen erklären. Zu den Faktoren, die Migrieren begünstigen, gehören auch:
    – Verkehrsmittel und Verkehrswege
    – Geld
    – Kommunikationsmittel, z.B. Mobiltelefone
    – Botschaften, die als verlockend verstanden werden
    Sicher haben Mobiltelefone die Verständigung Migrierender untereinander erleichtert und sprachliche Hilfen geschaffen. Und sie haben dazu beigetragen, Botschaften zu verbreiten, die verlockend sind – egal, ob diese Botschaften von Politikern, von Journalisten oder von ‚Schleppern‘ verbreitet wurden. Im Großen und Ganzen ist Migrieren einfacher geworden. Und nur vor dem Hintergrund zu erwartender Hindernisse bzw. Möglichkeiten sind Gründe Migrationsgründe. Aber wann kann man sie mit Recht als ‚Fluchtgründe‘ bezeichnen? Mit dem Wort „Flucht“ ist eher der Begriff „Zwang“ verbunden als mit dem Wort „Migration“ (vgl. https://www.tagesschau.de/inland/fluechtlinge-531.html ).

    Recht klar ist, dass viele offenkundige Fälle bloßer Migration, die nach bislang üblichen Kriterien schwerlich als Flucht zu bezeichnen sind, pauschal als Flucht bezeichnet werden. Ein Beispiel dafür ist ein Beitrag der ARD (http://www.tagesschau.de/ausland/rueckkehr-irak-101.html?ref=yfp), in dem ein junger Mann der Arbeitslosigkeit wegen den Irak verlässt und enttäuscht von Deutschland in den Irak zurückkehrt. Der Film zeigt, wie zu Hause Essen aufgetischt wird und der junge Mann beklagt, dass Deutschland nicht hält, was es versprochen habe. Deutlich wird, dass das Wort „Flucht“ – wenn es angemessen ist – zurzeit eine völlig andere Bedeutung hat als vor 60 Jahren. In welchem politischen Milieu darf man darauf hinweisen, ohne sich verdächtig zu machen? Und ich bin nicht bereit, jeden, der die Kriterien des stark veränderten Fluchtbegriffs erfüllt, als an Leib und leben bedroht zu erachten.