Die Flüchtlingskrise
Zeit für neue westliche Außenpolitik
Die Reaktion Europas auf die Flüchtlinge darf sich nicht auf die logistische Bewältigung beschränken. Die eigentlichen Ursachen gehören auf den Tisch - auch weil Europa ein gehöriges Maß an Mitverantwortung trägt für das Elend im Süden, vor dem die Menschen fliehen. Von Prof. Mohammed Khallouk
Von Prof. Mohammed Khallouk Mittwoch, 16.09.2015, 8:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 16.09.2015, 19:48 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Folgen seiner eigenen Wirtschaftskrise aus den Jahren 2007/8 hat Europa noch nicht bewältigt, da sieht sich der Kontinent an seinen südlichen und östlichen Außengrenzen einem Flüchtlingsansturm gegenüber, wie man ihn weder in Qualität noch in Quantität seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Auseinandersetzungen um eine „gerechte Aufteilung“ der Flüchtlinge zwischen den Staaten und um „sichere versus unsichere Herkunftsländer für Asylbewerber“ bestimmen fortan die aufgeregt geführte gesellschaftspolitische Debatte.
Die eigentliche Ursache dieser anhaltenden Massenflucht, die Perspektivlosigkeit in den Herkunftsländern, hervorgerufen von Bürgerkriegen und Massenarmut, scheint die Europäer dagegen kaum zu beschäftigen. Dabei tragen die Staaten nördlich des Mittelmeers für das Elend des Südens durchaus ein gehöriges Maß an Mitverantwortung.
Die auf die europäische Südküste zuströmenden Flüchtlinge sollten vielmehr als ein Symptom begriffen werden, dass die westliche Außenpolitik in den meisten nichtwestlichen Staaten seit dem Ende der Kolonialzeit gescheitert ist. Sie hat dort weder zu spürbarem Fortschritt noch zu einer der Bevölkerung dienlichen Entwicklung beigetragen. Die politökonomische Stagnation der letzten Jahrzehnte betrifft insbesondere die Arabische Welt, in der westlich gestützte Regime fast jegliche Zukunftsinvestitionen blockiert haben. Ihre Bevölkerung, der beständig moderne Entwicklung im Bildungs-, Gesundheits- und Wirtschaftssystem vorenthalten worden ist, wendet sich nun entweder radikalen Islamisten zu, die sie mit gleichermaßen unerfüllbaren Heilsversprechen anzulocken verstehen, oder versucht, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dorthin zu gelangen, wo Fortschritt augenscheinlich erreicht worden ist.
Aller Progressivität zum Trotz kann Europa seinen ebenfalls limitierten Wohlstand nicht der gesamten Weltbevölkerung innerhalb seiner Grenzen bereitstellen. Es muss stattdessen über die Außenpolitik Bedingungen ermöglichen, die berechtigten Ansprüche auf freie Entfaltung und Teilhabe an moderner Entwicklung jeweils vor Ort einzulösen. Dauerhafte Massenimmigration von Ost nach West konnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auch nur verhindert werden, indem kollektive Prosperität und demokratische Strukturen in Mittelosteuropa nicht kurzfristige Versprechen blieben, sondern dauerhafte Realität wurden. Ein Ende des Flüchtlingsstroms an den europäischen Außengrenzen wird ebenso wie die Abwendung von Gewalt und Terror im Nahen Osten und Nordafrika nur zu erreichen sein, wenn die Bevölkerung dort im Rahmen ihrer Religion und Kultur eine realistische Wohlstandsperspektive besitzt.
Die Reaktion der Europäer auf diese Flüchtlingskrise darf sich deshalb nicht länger auf Scheindebatten über die beste logistische Bewältigung der angekommenen Flüchtlinge beschränken. Vorrangig gilt es nun, dazu beizutragen, dass südlich und östlich des Mittelmeers im jeweiligen religiöskulturellen Kontext rechtsstaatliche Strukturen entstehen können. Anstatt weiterhin unter dem Vorwand des „Kampfes gegen islamistischen Terror“ korrupte, vielfach militärisch getragene Herrschaftseliten zu unterstützen, verlangt es, aus der dortigen Zivilgesellschaft entstandene gemeinschaftsdienliche Projekte zu fördern.
Außerdem erfordert es über verstärkte Kooperation zwischen Unternehmen, Sozialeinrichtungen und Bildungsstätten nördlich und südlich des Mittelmeers dem Süden einen Zugang zu modernem Know-How zu ermöglichen. Wer in seiner Heimat Bedingungen vorfindet, sich entsprechend seiner intellektuellen Fähigkeiten frei zu entfalten, der verliert die Motivation, diese Heimat zu verlassen. Sein Patriotismus wird eher noch gestärkt und bedarf auch keiner Ersatzidentität in Kalifatsutopien radikaler Islamisten.
Mögen die vor der eigenen Haustüre eintreffenden Flüchtlinge endlich dazu führen, die europäischen Augen für die Miseren jenseits der eigenen Grenzen zu öffnen. Eine den Ansprüchen der Menschen vor Ort dienende Außenpolitik kann jedenfalls der Anziehungskraft von politisch-religiösem Extremismus in gleichem Maße entgegenwirken wie sie der Propaganda von Schleppern, die in der Auswanderung nach Europa den „kürzesten Weg ins Paradies“ versprechen, den Boden entzieht. Aktuell Meinung
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