De Maizière
„Wir sollten alle verbal etwas abrüsten“
Angesichts des derzeitigen Andrangs von Flüchtlingen steht Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) unter Druck. Seit dem Wochenende sorgt sein Vorschlag zur Errichtung von Transitzonen für Kritik, besonders beim Koalitionspartner SPD. Im Gespräch wünscht sich de Maizière, dass keine "Horrorgemälde" gemalt werden.
Von Corinna Buschow, Karsten Frerichs Donnerstag, 15.10.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 19.10.2015, 0:40 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Herr Minister, in der Asylpolitik steht derzeit die Einrichtung von Transitzonen im Mittelpunkt der politischen Debatte. Aus der SPD regt sich Widerstand, Justizminister Heiko Maas spricht von „Massenlagern im Niemandsland“.
Thomas de Maizière: Ich halte die Auseinandersetzung für völlig übertrieben. Wenn ich beispielsweise lese, es gehe um Hafteinrichtungen für Zehntausende – dann entspricht das jedenfalls nicht meinem Vorschlag dazu. Die EU-Richtlinie räumt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, in bestimmten Fällen schon an der Grenze oder in Transitzonen die Berechtigung eines Asylbegehrens zu prüfen. Das gilt zum Beispiel, wenn ein Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsland kommt, wenn jemand falsche Angaben zu seiner Staatsangehörigkeit gemacht oder ein Reisedokument mutwillig vernichtet hat. Damit ist dieses sogenannte Landgrenzen-Verfahren nur für eine bestimmte Gruppe von Asylbewerbern vorgesehen. Für diese allerdings bedeutet es eine erhebliche Beschleunigung. Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder und die Kommunen würden entlastet. Wenn uns das europäische Recht eine solche Möglichkeit gibt, dann sollten wir das nutzen.
Für wann rechnen Sie mit einer Entscheidung zu den Transitzonen?
de Maizière: Das ist ein wichtiger Vorschlag aus einem großen Paket von Maßnahmen. Wir sollten darüber in Ruhe verhandeln.
Wann könnten die ersten Transitzonen stehen? Wo? Und wie viele sind sinnvoll?
de Maizière: Es geht erstmal um eine Grundsatzentscheidung – und nicht um das Malen von Horrorgemälden. Wir sollten alle verbal etwas abrüsten und uns nicht bei jedem Vorschlag zur Bewältigung der aktuellen Situation sofort auf die Gegenargumente stürzen. Und nach der Grundsatzentscheidung reden wir dann über die Details.
Gegen die Transitzonen gibt es verfassungsrechtliche Bedenken.
de Maizière: Das alles ist doch nicht so furchtbar neu. Wir haben ja ein ähnliches Verfahren an Flughäfen, und das ist rechtlich geprüft worden. Auch das Verfassungsgericht hat das Flughafenverfahren als zulässig erachtet.
Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) dringt auf eine Begrenzung der Flüchtlingsaufnahme. Wenn der Bund nicht wirksam handelt, will der Freistaat Verfassungsklage einreichen. Belastet die Drohung die Suche nach gemeinsamen Lösungen?
de Maizière: Das Verfassungsgericht kann jeder anrufen, und Länder haben schon mehrfach gegen den Bund geklagt, zum Beispiel beim Länderfinanzausgleich oder beim Betreuungsgeld. Ich sehe den bayerischen Kurs nicht als Drohung und rate zu Gelassenheit auf allen Seiten.
Wäre es denn denkbar, dass man eine Begrenzung der Flüchtlingsaufnahme vor dem Bundesverfassungsgericht erstreitet?
de Maizière: Die Frage müssten Sie Herrn Seehofer stellen. Aber ich will noch mal sagen: Ich fühle mich durch die Ankündigung, gegebenenfalls das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anzurufen, nicht bedroht.
Eine andere Forderung aus Bayern lautet, den Familiennachzug bei Flüchtlingen zu begrenzen. Wie stehen Sie dazu?
de Maizière: Dabei müssen wir internationales Recht beachten. Da stellt sich mir schon die Frage, ob überhaupt nationaler Gestaltungsspielraum besteht. Ich finde es im Prinzip richtig, daran festzuhalten, dass bei Schutzbedürftigen die Familie zusammenlebt. Nur sind die Zahlen im Moment so hoch und die Verfahren langwierig, dass wir nicht in Aussicht stellen sollten, dass die Entscheidungen sehr schnell fallen. Diejenigen, die die Anträge stellen, müssen wir um Geduld bitten.
Können Sie eine Schätzung abgeben, wie viele Menschen in den nächsten Monaten oder Jahren durch den Familiennachzug nach Deutschland kommen?
de Maizière: Nein, ich möchte keine neuen Zahlen nennen. Wir haben eine hohe Unsicherheit über die weitere Entwicklung. Außerdem werden momentan alle Zahlen missbraucht – entweder zur Verunsicherung der eigenen Bevölkerung oder zur Ankurbelung des Geschäfts für Schleuser. Ein Beispiel ist die Prognose über 800.000 Flüchtlinge, die wir in diesem Jahr aufgrund der Zugangszahlen erwarten. Als wir die Zahl genannt haben, wurde in Afghanistan verbreitet, dass Deutschland 800.000 Afghanen einlade und man sich sputen müsse, noch darunter zu sein.
Sie haben inzwischen wiederholt vorgeschlagen, dass die EU Flüchtlingskontingente definieren sollte, um Schutzbedürftige direkt aus den Regionen zu holen. Ihre Formulierung war „großzügig“. Können Sie hier eine Zahl nennen, wie viele Menschen das pro Jahr oder insgesamt sein sollten?
de Maizière: Auch hier wird es von mir keine konkrete Zahl geben. Mit dem Adjektiv „großzügig“ will ich sagen, dass es eine Dimension sein muss, die dem internationalen Flüchtlingselend gerecht wird. Es muss aber auch eine Zahl sein, die für Europa verkraftbar ist. Dies wäre auch ein wichtiger Schritt, um die verbrecherischen Machenschaften der Schlepper zu stoppen, weil die Menschen auf sie nicht mehr angewiesen wären. Die Kontingente ersetzen nach meinem Vorschlag aber nicht europäische Hilfsleistungen für Flüchtlingslager zum Beispiel in Jordanien oder dem Libanon.
Die Bundesregierung hatte bereits 2012 ein Kontingent für besonders schutzbedürftige Syrer aufgelegt. Organisationen, Kirchen und Opposition war das von Anfang an nicht großzügig genug. Hätte man durch eine Aufstockung ihren Vorschlag nicht schon viel früher verwirklichen können?
de Maizière: Mein Vorschlag hat zwei Seiten: Zum einen bedeutet er eine großzügige Aufnahme durch Programme zur Neuansiedlung, das sogenannte Resettlement. Dazu gehört aber auch, dass ein Kontingent eine Grenze hat. Die Programme zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge machten ja nur einen Teil der Zuwanderung aus.
Heißt das, nach ihrem Vorschlag würden Flüchtlinge künftig an der Grenze abgewiesen, wenn sie sich selbst auf den Weg machen, etwa weil ihnen die Resettlement-Verfahren viel zu lange dauern?
de Maizière: Ja, sie werden abgewiesen oder in „sichere Häfen“, also sichere Orte außerhalb Europas, gebracht. Das ist hart, aber das ist die Konsequenz eines großzügigen Kontingents. (epd/mig) Aktuell Interview
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