Soziale Grammatik
Von dem „Türken“ und dem Narrativ „Bei uns ist das aber so!“
Was macht den ehemaligen Gastarbeiter heute zum Muslim? Was bewirkt der Begriff Integration? Und darf ein Mensch nur bestehen, wenn er nutzt? Sebastian Prothmann über die soziale Grammatik der Diskurse und ihre Folgen.
Von Dr. Sebastian Prothmann Freitag, 27.11.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 02.12.2015, 15:02 Uhr Lesedauer: 15 Minuten |
„Deutsche Kartoffel“, „Opfer“, und, auf der anderen Seite „Ausländer“, „Türke“ oder „Moslem“ sind häufig wiederkehrende Ausrufe an deutschen Schulen. Das sind harte Worte, suggerieren sie doch unter Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft selbst ausgemachte, ja konstruierten Grenzziehungen, obgleich der vielen Gemeinsamkeiten. Abgrenzung, oder aber der vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu verwendete Begriff der Distinktion, also die bewusste Abgrenzung von Angehörigen einer bestimmten sozialen Schicht oder Gruppierung, sei es im Zusammenhang von Klassen, Jugendkulturen oder Religionsgemeinschaften, oder anderen, ist ein wichtiges Merkmal von Jugendlichkeit. Ja anders sein als die Eltern, oder aber: Bitte nicht so wie die „Alten“ werden. Juvenile Lebenswelten konstituieren sich damit oft in der Verletzung tradierter Gesellschaftsregeln, die von den Eltern vermittelt werden.
Bei jungen Deutschen, deren Eltern aus anderen Ländern einst nach Deutschland kamen, ist zumeist eine Mehrfach-Abgrenzung zu beobachten. Bei ihnen kommt neben der Grenzziehung zum Elternhaus häufig noch die Abgrenzung zur „deutsch-deutschen“ Mehrheitsbevölkerung hinzu. Dabei versucht der außenstehende Beobachter gerne die Probleme simplistisch auf Widersprüche zwischen tradierten Vorstellungen einer als kulturfremd, ungebildeten und muslimischen Bevölkerungsschicht zu schieben, die angeblich nicht klarkäme mit den modernen Normen der „tonangebenden“ „indigenen“ Gesellschaft, dessen Einheimische sich als seine Ordnungshüter sehen. Dies führe, folgen wir diesem Argumentationsstrang, dazu, dass innerfamiliäre Generationskonflikte in Migrantenfamilien überhöht werden, Jugendliche aus diesen Familien verstärkt unter Orientierungslosigkeit leiden, dessen Folge abweichendes Verhalten ist. Das klingt fast so, als ob nur der Jugendliche mit diasporischem Bezug ein abweichendes Verhalten an den Tag legen würde, was natürlich in keinerlei Weise der Realität entspricht.
Das Problem ist wesentlich komplexer gelagert. Es sind aber genau diese stereotypen und kulturalistisch konstruierten Argumentationsmuster, die in die Hände der „Ordnungshüter“ der „indigenen“ Gesellschaft spielen, und es ihnen ermöglichen, jedwede Verantwortung von sich auf die vermeintlich „Anderen“ und deren kulturfremde Elternhäuser zu schieben. Damit wird faktisch die Komplexität des Problemgelages umgangen und verdrängt. Verschwiegen wird nämlich, dass Probleme häufig hausgemacht sind, und auch ganz viel mit deutschen Institutionen zu tun haben. Gerne werden die Langzeit-Folgen eines restriktiven Ausländerrecht und einer jahrzehntelangen Verweigerung von Verantwortung gegenüber Arbeitsmigranten, die mitunter unser Land aufgebaut haben, ignoriert. Es ist das restriktive Ausländerrecht, welches insbesondere einer konsistenten Zukunftsplanung und einer damit verbundenen langfristigen Orientierung von Zuwanderern große Hürden in den Weg legt, was mitunter auch schwerwiegende Folgen für ihre Kinder und deren Identitätsausbildungen mit sich bringt. Besonders schwierig bei Kindern mit diasporischen Bezügen, aber fundamental wichtig, leidet der Erwerb von Sekundärtugenden darunter. Denn in Haushalten, in denen ein Erwerbsleben in niederen, zeitaufwendigen und prekären Arbeiten dominiert, und sich familiäre Kommunikation aufgrund schwieriger Arbeitszeiten auf ein Minimum reduziert, was auch die familiäre Freizeitgestaltung erschwert, ist das Resultat häufig eine emotionale Vernachlässigung des Kindes, was unter anderem dazu führt, dass sich das Kind seine Identitätsangebote woanders holt, als in der Familie.
Das in linksliberalen gerne postulierte postnationale und multikulturelle Leben hat in vielen Familien mit diasporischen Bezügen nichts mit der Realität zu tun. Zu sehr sind diese Opfer einer Produktion der „Andersartigkeit“, was eine Argumentation darstellt, die aus einer herrschenden gesellschaftlichen Schicht, die in monokulturellen Identitätskonzepten verhaftet ist, kommt. Genau, diese in monokulturellen Kategorien verschränkte Sichtweise, die auf ein ethnisches Singular ausläuft, assoziiert gerne eine bestimmte Herkunft mit einer bestimmten Religion. Dies wirkt sich nicht nur konstituierend auf die deutsche Integrationspolitik aus, sondern vielmehr auch auf die einfache Zivilgesellschaft. Es ist genau dieser Prozess, der den ehemaligen Gastarbeiter zum Muslim macht, und die paar Italiener, die vor dreißig Jahren noch gerne zum „Spaghettifresser“ degradiert wurden, und Griechen auf eine kulinarische Bereicherung eines nach Fremden und doch Bekannten, sprich Pizza, Spaghetti und Gyros, gierenden Gaumen reduziert. Schnell transformiert sich die Integrationsdebatte zu einer Islamdebatte, teils sogar zu einer Kopftuchdebatte. Geht es um Integration, geht es um Moscheen, Zwangsheirat und das Kopftuch. Der deutsche Diskurs versucht in das Leben der muslimischen Frau einzugreifen, als ob sie sich nicht selber artikulieren könnte. Was sie natürlich kann! Doch soll ihre Stimme im Diskurs gehört werden? Lieber nicht… Es ist ein Diskurs, der in Deutschland Türken und Araber automatisch zu Muslimen macht, was in den Niederlanden mit den Marokkaner und Türken in ganz ähnlicher Weise geschieht, in Großbritannien die Pakistaner betrifft, und in Frankreich die Algerier. Es wird eine Grenzziehung zwischen einer angeblich christlich-abendländisch und säkularisierten Kultur und einer muslimisch-okzidentalen Kultur konstruiert, und jeder Mensch mit diasporischem Bezug wird geandert und islamisiert. Letztere sind die, die anders, ja fremdländisch, aussehen, eine andere Sprache sprechen, sich vielleicht auch anders verhalten. Darunter fallen aber dann auch Menschen, die über perfekte deutsche Sprachkenntnisse verfügen, eben weil sie „anders aussehen“.
Die beliebte Frage nach der Herkunft der „Geanderteten“ dient dem Bedürfnis der Klärung der Beziehung, der Einordnung, und ist damit Ausdruck von Hierarchie-Denken einer alteingesessenen Schicht, die man vielleicht als die „alten“ Deutschen bezeichnen könnte. Der Terminus „Ausländer“ ist nach der Soziologin Annette Treibel-Illian demnach ein Beziehungsbegriff. Gerne werden die angeblich „Anderen“ auch einfach mal pauschal unter Verdacht gestellt sich von der Mehrheitsgesellschaft zu separieren. Aber grenzen sich nicht einfach beide Seiten voneinander ab, und nur die eine Seite wird beschuldigt? Leitartikel Meinung
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