Rezension zum Wochenende
Neue Anschrift Bosporus. Wie wir versuchten, in Istanbul heimisch zu werden
Seit dem Terroranschlag steht Istanbul im Fokus der Öffentlichkeit. Michael Thumann und Susanne Landwehr haben dort gelebt und beschreiben in ihrem Buch den Istanbuler Alltag, wie sie ihn erlebt haben, lustig, hektisch, gefährlich, aufregend.
Von Rukiye Çankıran Freitag, 15.01.2016, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 17.01.2016, 21:58 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Er ist außenpolitischer Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit und sein Themengebiet ist die Internationale Politik. Sechs Jahre war er zusammen mit seiner Familie in Istanbul und arbeitete dort. Die Rede ist von Michael Thumann, von Beruf Journalist und Buchautor, der Geschichte, Politik und Slawistik studierte.
Zunächst bereiste er als politischer Redakteur Südosteuropa, später arbeitete er in Moskau und nun war er in Istanbul. Seine Aufgabe sieht er als Übersetzer, Erklärer und Vermittler, wie er in einem Interview der Stiftung Mercator verriet. Seine Motivation liegt in den politischen Gegensätzen und in der Angst vor dem Fremden. Er hat einen Drang herauszufinden, welche konkreten Ereignisse hinter politischen Unruhen und menschlichen Ängsten stecken. Mit seiner sehr gut recherchierten Berichterstattung liefert er dem Leser nicht nur ausführliche Inhalte, sondern regt auch zum Nachdenken an. Er schaut sich die Menschen und Motive genau an. Dieser Blick fürs Detail war es wahrscheinlich, der sein neues Buch „Neue Anschrift Bosporus“ möglich gemacht hat.
Michael Thumann nennt es ein Experiment, das er zusammen mit seiner Frau, Susanne Landwehr, gewagt hat. Die Fachjournalistin arbeitete in Istanbul als freie Korrespondentin und schreibt heute für die Deutsche Verkehrs-Zeitung. „Neue Anschrift Bosporus“ ist ein sehr persönliches Buch, es verrät und kommentiert viele aber nicht zu viele Erlebnisse der Familie Thumann / Landwehr und den beiden Söhnen. Es zeigt ihr Leben in Istanbul mit ihren Nachbarn, im Beruf und die alltäglichen Widersprüche und Spannungen der letzten Jahre in Istanbul.
„Neue Anschrift Boporus“ ist ein Zeitzeugeninterview der besonderen Art. Geschrieben ist der Text in der wir-Form, so dass man nicht zuordnen kann, wer der beiden an welcher Stelle den Text formuliert hat. Nur anhand kenntlich gemachter Passagen werden Aussagen und Zitate direkt zugeordnet. Die Idee zu diesem Buch bekam das Journalistenpaar aus dem Alltag und aus den politischen Debatten: Integration, Reibung, Anpassung, ständige Realität und viele große Diskussionen. Das Buch hat keinen wissenschaftlichen Anspruch, es bietet viele touristische Informationen und amüsiert den Leser.
Auf der europäischen Seite
Wohnhaft im Stadtteil Arnavutköy auf der europäischen Seite beobachten Michael Thumann und Familie „die Türken“ und versuchen sich zu integrieren. Ihnen fallen die Mütter auf, deren Kinder rosa Spitzenröcke und Lackschuhe tragen, eine Schleife im Haar haben und nicht in der öffentlich zugänglichen Sandkiste spielen dürfen, weil darin zu viele Keime enthalten sein könnten. Familie Thumann/Landwehr beobachtet aber auch, wie schnell private Spielplätze hinter Zäunen entstehen und ist verblüfft: „Uns bot diese Episode Gelegenheit, das alte deutsche Vorurteil, dass Deutsche stets sauber und Türken irgendwie schmuddeliger seien, gründlich zu korrigieren.“ Korrigieren muss das Ehepaar auch seine Denkweise und Flexibilität und kann so viele alltägliche Herausforderungen meistern, wie folgende Erkenntnisse zeigen: „1. Kein Auto ist so breit und keine Lücke so schmal, wie sie auf den ersten Blick wirken. 2. Es findet sich immer ein freundlicher Helfer, der Autofahrer kunstvoll durch zunächst ausweglos erscheinende Engpässe lotst. 3. Nonverbale Kommunikation – Winken, Nicken, Daumen hoch – ist meist wichtiger als der Führerschein.“
Die Autoren beschreiben den Istanbuler Alltag, wie sie ihn erlebt haben, lustig, hektisch, gefährlich, aufregend, viele extreme Gefühle, also nichts für ruhige Gemüter, sie lernen jede Menge türkische Vokabeln, erleben die Vokalharmonie und versuchen heimisch zu werden: „…unsere mahalle, unsere Nachbarschaft, unser Viertel oder wie man in Berlin sagt, unser Kiez…, …muhtar werden, also Ortsvorsteher…, … kültür müdürlüğü, Kulturdirektion…“ Besonders angetan sind sie von der blumigen Sprache und liebevollen Redewendungen, die im Deutschen nicht existieren: „kolay gelsin… möge es leicht fallen (wenn man jemanden hart arbeiten sieht), …güle güle giysin… fröhliches Tragen einer neuen Kleidung… oder eline sağlık…deinen Händen Gesundheit…(wenn man sich für ein leckeres Essen bedankt). Diese Ausdrücke zeigen die Wärme und Herzlichkeit des Umgangs miteinander.
Kulturelle Unterschiede waren ein großes Geschenk
Die Zeit in Istanbul war nicht immer einfach, obwohl Michael Thumann mit seiner Familie ein priviligiertes Leben in einer Nachbarschaft aus einer reinen Mittelklasseschicht ohne Armut führte. Er hat erlebt, dass die Türkei sehr familienbezogen ist und Menschen außerhalb der Familie nicht so leicht zum Zuge kommen. Die kulturellen Unterschiede, die manchmal eine Last waren, sieht er als ein großes Geschenk. Aus seiner Sicht ist es ein Reichtum, verschiedene Welten erleben und in diesen leben zu dürfen, andere Bräuche und Sprachen zu teilen.
Der Autor und Experte für den Nahen und Mittleren Osten, kennt diese „Zwischenwanderung“, wie er sie nennt, bereits aus Moskau. Er ist glücklich, dass er nun, wieder zurück in Berlin, hier mit seinen Erfahrungen ein reiches Leben und Zugang zu den Migranten-Welten hat. Ihm geht es jetzt wie vielen Migranten weltweit: er vermisst Dinge, die ihm ans Herz gewachsen sind. „In Istanbul nimmt man sich Zeit, jemandem zu begegnen, man verschwendet Zeit.“ Gleichzeitig gibt es andere Dinge, die glücklich machen: „In Berlin lieben wir das Radfahren – Fortbewegung aus eigener Körperkraft unter freiem Himmel.“ In Istanbul ist das undenkbar, es fehlt jegliche Infrastruktur für Radfahrer.
Die Autoren zeigen, dass Menschen an manchen Orten heimisch werden und die Zeit an jenem Ort genießen können, wie in Istanbul, Moskau oder Berlin. Wer Michael Thumann kennt, weiß, dass seine Heimat Hamburg ist, wo er aufgewachsen ist, seine Kindheit und Jugend verbracht hat. „Neue Adresse Bosporus“ ist einerseits eine Liebeserklärung an Istanbul und die Lebensart in dieser Stadt, aber auch eine Darstellung der Zerrissenheit der Menschen, dem Kultur- und Wertekampf, den Sekulare, westlich orientierte gegen konservative, religiöse Gruppen gegeneinander führen. Nur mit einer gewissen Offenheit und Toleranz können Unterschiedliche Denk- und Lebensweisen nebeneinander existieren. „Wo Tarlabaşı noch lebt, ist es das multikulturelle Anatolien in Kleinformat. Christen und Muslime, Griechen und Armenier, Sunniten und Aleviten, Syrer und Assyrer teilen sich hier die engen Gassen.“
Doch die Realität ist nicht immer so bunt und der Umgang miteinander nicht immer friedlich. Der Autor kritisiert die widersprüchliche Politik und berichtet von den Unruhen und Umbrüchen der letzten Jahre. Er hatte den Luxus, dass er mit seiner Familie wieder zurück in eine friedlichere und ruhigere Umgebung ziehen konnte, also bei diesen Rivalitäten und Kämpfen nur Beobachter war. „Wir selbst fühlten uns weniger persönlich betroffen, weil wir in diesem Kampf am Ende doch nur Zuschauer waren. Aber der illiberale Eifer der Regierung befremdete auch uns.“
„Neue Anschrift Bosporus“ ist ein Update
Istanbul-Liebhaber werden sich über „Neue Anschrift Bosporus“ sehr freuen. Es ist ein Update für diejenigen, die einige Zeit nicht in Istanbul waren. Es ist ein Buch das zum Thema Politik und Gesellschaft gehört, aber es ist auch eine Art Reisebericht und eigentlich ist es Migrationsliteratur. Ein Fremder versucht, mit seiner Familie in Istanbul heimisch zu werden. Ob das Buch ein Happy-End hat, bleibt dem Leser überlassen, denn in Istanbul wird die Familie nicht heimisch, die Politik des Landes und die Entwicklungen in der Stadt drängen die Familie zur Rückkehr. Die Integration in das widersprüchliche Leben in Istanbul gelingt nicht.
Ihre Rückkehr nach Berlin öffnet ein neues Kapitel der Integration, ob nun im wohlhabenden, urdeutschen Dahlem, dem türkischen Kreuzberg, dem russischen Charlottenburg oder arabisch-orientalischen Neukölln. Hier überall ist die Zuwanderung sichtbar, Multikulturalität wird im Alltag gelebt. Gesellschaften unterliegen überall dem Wandel und jeder ist auf der Suche nach Glück. Michael Thumann hat mit seiner Familie dieses Glück in Istanbul erleben dürfen, wie zuvor in Moskau und jetzt in Berlin, mit allen Herausforderungen und Nebenwirkungen. Das Buch sollten deshalb insbesondere Menschen lesen, die keine Migrationsgeschichte und kein Verständnis für fremde Menschen haben. Es zeigt deutlich, dass Menschen unterschiedliche Rollen haben, je nach Umständen und Möglichkeiten, die ihr Leben mit sich bringt, für die der Einzelne konkret keine Verantwortung trägt, wie z.B. seine Herkunft und seine Erziehung. Auch Privilegien und Macht spielen eine Rolle, Wohnort, Zugehörigkeit und der Luxus, wählen zu dürfen. Keine Angst, es ist kein soziologisches Buch, es hat einfach viele Elemente.
Diejenigen, die wie ich diese Wanderung zwischen den Welten kennen, erhalten Mut und die Bestätigung, dass ein grundsätzliches und friedliches Miteinander möglich ist, auch wenn es Konflikte und Widersprüche gibt. Pluralität zu leben bedeutet, die Daseinsberechtigung des Anderen zu akzeptieren und in Extremsituationen eine verträgliche Mitte für alle Beteiligten auszuhandeln und dafür zu sorgen, dass Minderheiten existieren können. Es zeigt aber auch, dass undemokratisches, totalitäres Denken, Intoleranz und individuelle Machtkämpfe ein Miteinander verhindern. „Neue Anschrift Bosporus“ amüsiert, regt zum Nachdenken an und es lässt den Leser bei der Familie Thumann/Landwehr Gast sein. Das ist eine gute Mischung für ein gemütliches Buch. Aktuell Rezension
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