Köln
Die moralische Unversehrtheit des weißen Mannes
Wenn Frauen Opfer sexueller Gewalt werden, beeilen sich Männer zu beschwichtigen. Mit den eigenen Werten habe das schließlich nichts zu tun. Und Sexismus gibt es nur auf der anderen Seite des Mittelmeeres - und überhaupt nicht in Kambodscha. Von Fabian Köhler
Von Fabian Goldmann Mittwoch, 20.01.2016, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 25.01.2016, 17:21 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Ich kenne solche Geschichten nur aus Erzählungen. Als weißer Mann habe ich das Glück ausreichend privilegiert zu sein, um solche Erfahrungen nicht selbst machen zu müssen. Kommilitoninnen brachten sie früher oft von ihrem Auslandssemester aus Kairo zurück – diese eine Geschichte, die sie nicht so eben nebenbei auf der „Willkommen zurück“-Party erzählten. Ich kenne auch die Erzählungen pubertierender Jugendlicher, die im Moscheehof stolz ihren Bodycount vom letzten „Ausflug“ vorrechneten. Und ich erinnere mich an die reflexhaften Reaktionen ägyptischer Männer und deren immer gleichen Beschwichtigungen, wenn man sie auf das Problem sexueller Gewalt in ihrer Gesellschaft ansprach: Dass vieles übertrieben werde, die offiziellen Zahlen doch viel niedriger seien. Dass Sexismus doch ohnehin mit „dem Islam“ unvereinbar und ein viel größeres Problem „bei euch im Westen“ sei.
Drei Wochen liegen die sexuellen Übergriffe aus der Silvesternacht von Köln zurück und noch immer diskutierenden Politiker, Medien und Stammtische über das migrantentypische an sexueller Gewalt. Für mich ist das eine ziemlich komfortable Diskussion. Denn egal welche Lehren man aus Köln zieht, ich bin fein raus aus der Sache. Als weißer Mann – also weder weiblich, noch mit Migrationshintergrund – brauche ich weder Angst vor grapschenden Flüchtlingen, noch vor gewalttätigen Deutschen zu haben, die mich für einen grapschenden Flüchtlingen halten.
Dabei hätte ich ein paar Schläge verdient. Zumindest, wenn man jene Pauschalisierung zugrunde legt, die seit den sexuellen Übergriffen von Köln zur Regel in der öffentlichen Debatte geworden ist. Ich passe perfekt zum Profil einer Tätergruppe, an deren Bilanz sexueller Gewaltausübung kein noch so enthemmter Flüchtlingsmob herankommt und die dennoch bei der Berichterstattung weitgehend unberücksichtigt bleibt: weiße Männer.
Ginge es all den Journalisten, Politikern und Stammtischlern wirklich darum, Frauen vor sexuellen Übergriffen zu schützen, dann müssten Sie nicht erst in dieser Kolumne lesen, dass seit der Silvesternacht von Köln rund 300 Frauen in Deutschland vergewaltigt wurden. 20 pro Tag! Statistisch und nur die angezeigten Fälle. Medienberichte gibt es schließlich kaum. Und nein, die meisten Vergewaltigungen geschehen weder vor Flüchtlingsheimen, noch auf Bahnhofsvorplätzen, sondern zu Hause, auf Arbeit, bei „Freunden“. Ergo in diesem Land durch weiße Männer.
Nördlich des Mittelmeeres gehört Gewalt für viele Frauen zum Alltag – auch ganz ohne das Zutun von Migranten. Laut einer Studie der EU-Grundrechte-Agentur FRA hat jede dritte weibliche Bewohnerin der EU-Mitgliedsstaaten vor ihrem 15. Lebensjahr schon einmal körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. 22 Prozent der Frauen sogar durch ihren eigenen Lebenspartner. Das Fazit der Studie würde auch in einem Menschenrechtsbericht zu Saudi Arabien nicht auffallen, zielt aber vor allem auf weiße Männer: „Frauen sind nicht sicher auf den Straßen, am Arbeitsplatz und schlussendlich auch nicht zu Hause, dem Platz, an dem sie Schutz finden sollten.“
Auf Titelseiten schaffte es diese Nachricht nicht. Stattdessen prangen von dort nun schwarze Hände auf weißen Frauen. So falsch ist das Bild gar nicht, nur die Farben müsste man umkehren. Rund 400.000 deutsche Männer machen jedes Jahr „Sexurlaub“, schätzt die Menschenrechtsorganisation Terre des Hommes. Nach Amerikanern und Briten belegen deutsche Männer damit Platz drei im internationalen Ranking des Vergewaltiger-Exports. So müsste „Sexurlaub“ besser heißen, schaut man sich Zahlen von UNICEF an. Dem Kinderhilfswerk zufolge befinden sich weltweit auch 220 Millionen Kinder unter den Opfern der „Urlauber“. Im momentan beliebtesten Land weißer sexueller Ausbeuter, Kambodscha, ist sogar jedes dritte Opfer ein Kind. Von den vielen erwachsenen Frauen, die ihrer Tätigkeit nicht freiwillig nachgehen, ganz zu schweigen. Hunderttausende von ihnen gibt es allein in Europa. Eine halbe Million Zwangsprostituierte schätzt die Frauenrechts-NGO Foundation of Women’s Forum. Die größte Gruppe sich auf sie und in sie pressender Körper ist weiß, männlich und deutsch.
„Verharmlosung“ hört man dieser Tage oft, wenn jemand darauf aufmerksam macht, dass sexuelle Gewalt nicht erst als Importprodukt des Islam nach Deutschland kam. Auffällig oft rufen es männlichen Politiker, Journalisten und Stammtischler, die in der Vergangenheit eher durch ihr antimigrantisches als ihr antisexistisches Engagement aufgefallen sind. Auffällig oft trifft der Vorwurf Menschen, bei denen es sich umgekehrt verhält. Anne Wizorek zum Beispiel.
„Mutter aller Kölnrelativierungen“ rief neulich ein FAZ-Autor in ihre Richtung. Die frühere Initiatorin der #Aufschrei-Kampagne und jetzige Mitunterzeichnerin des #ausnahmslos-Aufrufes hatte gefordert, sich gegen sexuelle Gewalt einzusetzen: durch Migranten und durch Deutsche, auf und abseits der Kölner Domplatte, zu Silvester und an den übrigen 364 Tagen des Jahres. Zum Beispiel auch auf dem Münchner Oktoberfest.
Der FAZ-Autor hätte nicht einmal selbst die Theresenwiese besuchen müssen, um eine Ahnung davon zu bekomme, was es für Frauen bedeutet, wenn sexuell enthemmter junger Männer das Gewaltmonopol des Staates außer Kraft setzt. Es reicht „sexuelle Gewalt Oktoberfest“ zu googlen, um auf Artikeln wie diesen oder diesen zu stoßen.
Frauen berichten dort davon, dass in vielen Festzelten unmöglich ist, nicht begrapscht zu werden. Dass Sicherheitskräfte gar nicht erst versuchen würden, Grapscher dingfest zu machen. Dass Bedienungen angehalten werden, Selbstverteidigungskurse zu absolvieren. Davon, dass Opferberatungen Besucherinnen und Anwohnerinnen der Theresienwiese zum Schutz vor Vergewaltigern davor warnen, nachts allein zu Hause gehen.
Vergleiche zwischen Oktoberfest und Silvesternacht drängen sich da doch geradezu auf. Zumindest wenn man bereit ist anzuerkennen, dass das typischste aller Täterprofile weder „Araber“, noch „Deutscher“, sondern „Mann“ lautet. Stattdessen verweist (nicht nur) der FAZ-Autor auf den kulturübergreifenden letzten Strohhalm aller echten Verharmloser: Polizeistatistiken, nach denen doch alles gar nicht so schlimm sei. Und Politiker sprechen davon, dass sexuelle Übergriffe mit unseren Werten unvereinbar, stattdessen ein Problem des Islam seien. Ich kannte so etwas bisher nur aus Erzählungen. Aus Kairo zum Beispiel. Leitartikel Meinung
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@Cansu
Sie haben offenbar nicht verstanden, dass es im Artikel nicht um die Herkunft der Täter geht oder darum wie in anderen Ländern Probleme gelöst werden, sondern darum, sexuelle Übergriffe egal von wem und unabhängig vom Ausmaß als gesamtgesellschaftliches Problem wahrzunehmen, welches bei aller Abscheu sachlich analysiert werden muss, um effektive Lösungswege entwickeln zu können.
http://www.emma.de/artikel/hoert-endlich-auf-uns-zu-bevormunden-331467
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