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Zwischen Chemieklos und Schlepperbanden

Wie die Flucht über die Balkanroute verläuft

Hunderttausende sind über die Balkanroute nach Deutschland gekommen. Einer der Zwischenstopps liegt im serbischen Sid nahe der kroatischen Grenze. Notärzte, Flüchtlingshelfer und Kirchenmitarbeiter kümmern sich um die Versorgung der Flüchtlinge.

Von Marcus Mockler Mittwoch, 02.03.2016, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 07.03.2016, 16:23 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Wenn der Tankwagen die Fäkalien abpumpt, legt sich eine stinkende Wolke über das Flüchtlingslager im serbischen Sid. Doch ohne Chemieklos für die 600 Bewohner geht es nicht. Sanitäranlagen und Wasseranschlüsse sind für so viele Menschen auf so engem Raum nicht ausgelegt. Die Flüchtlinge haben auf den Tausenden Kilometern, die hinter ihnen liegen, weit Schlimmeres erlebt als den Gestank der Toiletteninhalte.

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Sid hat 34.000 Einwohner, im vergangenen Jahr zogen über 700.000 Flüchtlinge durch die Stadt. Sie liegt an der Balkanroute, von hier geht es für die in den Norden reisenden Menschen mit dem Zug weiter nach Kroatien. Serbien erlaubt kroatischen Polizeibeamten, am Bahnhof von Sid die erforderlichen Personenkontrollen vorzunehmen, damit das Verfahren reibungsärmer verläuft. Zu Spitzenzeiten der Flüchtlingswelle fuhr alle vier Stunden ein Zug mit 800 Menschen nach Slavonski Brod, in den vergangenen Wochen ging die Zahl auf einen Zug pro Tag zurück. Seit Mazedonien Tageshöchstgrenzen für die Einreise eingeführt hat, läuft es noch langsamer.

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Unter den Flüchtlingen ist der 26-jährige Hairy, ein Jeside. Er wohnte in Sindschar im Nordirak. Als die Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS) systematisch gegen die Jesiden vorgingen und anfingen, deren Frauen zu verschleppen, machte sich Hairy mit Frau und Kind auf die Flucht. Zwei Jahre lebte er in einem Lager in der Türkei, Anfang Februar startete er dann Richtung Deutschland. „Ich will dort arbeiten, egal was, damit meine Familie in Frieden leben kann“, sagt er.

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Doch noch ist er nicht in Deutschland. Ein Reisebus hat ihn und seine Familie quer durch die serbische Republik von Presevo im Süden bis an die Autobahnraststätte Adasevci gebracht. Dort wartet er mit Hunderten anderen auf den Transfer zum 20 Kilometer entfernten Bahnhof Sid. Rund 30 Hilfsorganisationen kümmern sich um die Gestrandeten am Rande der Autobahn, darunter auch die Ökumenische Humanitäre Organisation (EHO), die vom Diakonischen Werk Württemberg mitfinanziert wird. Helfer in blauen Westen tragen Essen in die Busse, um Rangeleien auf der Straße zu vermeiden.

Das Motel der Raststätte war schon stillgelegt, wurde aber angesichts steigender Flüchtlingszahlen wieder neu belebt. Jetzt befindet sich dort eine kleine Krankenstation. Notärztin Zita Belic berichtet von traumatisierten Patienten, von Gelbsucht und von der Amputation von Gliedmaßen. Außerdem kommen viele mit schweren Erkältungen an. Seit September wurden dort 55.000 Menschen medizinisch betreut.

Chalid Hadschi ist über Land nach Serbien gekommen. Der 30-jährige Syrer verließ sein Zuhause, weil er Angst davor hatte, für die Armee zwangsrekrutiert zu werden. In seiner Heimat arbeitete er als Bedienung in einem Restaurant. Mit seiner Frau und den drei Kindern hofft er nun, in Deutschland Arbeit zu finden – „und ein sicheres Leben“, wie er betont.

Für Verwirrung sorgt ein neues Dokument, das Flüchtlingen in Griechenland ausgestellt und von allen Staaten auf der Durchreise anerkannt wird. Von einem Tag auf den anderen wurden nur noch Flüchtlinge mit diesem Dokument durchgelassen. Hunderte, die bereits in Serbien sind, müssen damit rechnen, abgewiesen zu werden. Die machen sich aber nicht auf die Rückreise, sondern vertrauen sich Schleppern an, die sie illegal über die Grenze bringen.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) kritisiert die neue Praxis auf dem Balkan. Giorgi Sanikidze, UNHCR-Koordinator am Auffangpunkt Adasevci, hält die Dokumentenregelung für unvereinbar mit internationalem Recht. Oft sprächen die Übersetzer an den Grenzen selbst kaum Arabisch und entschieden willkürlich nach dem gehörten Akzent, zu welcher Nationalität ein Mensch gehört. „Das dauert nur 30 Sekunden“, seufzt er.

Serbien bietet seit 2008 selbst Flüchtlingen Asyl an. Besonders attraktiv scheint das Angebot aber nicht zu sein. Ivan Gerginov, stellvertretender Chef des serbischen Kommissariats für Flüchtlinge und Migration in Belgrad, berichtet, in den vergangenen acht Jahren hätten gerade einmal 73 Flüchtlinge einen Antrag gestellt. 20 von ihnen seien aufgenommen worden. „Wir sind leider für diese Menschen nicht das Endziel“, sagt Gerginov. (epd/mig) Leitartikel Politik

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