Resümee
Berlin provoziert Klage
Vor einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht bekanntgegeben, dass der pauschale Kopftuchverbot für Lehrerinnen verfassungswidrig ist. Was hat sich seit dem geändert? Rückblick und Bewertung von Gabriele Boos-Niazy
Von Gabriele Boos-Niazy Sonntag, 13.03.2016, 10:48 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 01.04.2016, 9:04 Uhr Lesedauer: 15 Minuten |
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stellte fest, dass sowohl ein pauschales Kopftuchverbot aufgrund der Annahme einer abstrakten Gefahr als auch die Privilegierung anderer „Bekundungen“, sprich christlicher und jüdischer Zeichen, verfassungswidrig ist. Die Grundrechte Dritter werden durch das bloße Tragen eines Kopftuches durch eine Lehrerin aus unterschiedlichen Gründen nicht beeinträchtigt und die staatliche Neutralität wird nicht gefährdet, da der Staat Bezüge zu allen mit dem Grundgesetz zu vereinbarenden Religionen und Weltanschauungen bei der Gestaltung der öffentlichen Schule zulässt und eine religiös motivierte Bekleidung der Lehrperson und nicht dem Staat zugerechnet wird. Ein Kopftuchverbot, das auf eine einzelne Lehrerin zielt, ist nur bei einem belegten Fehlverhalten möglich. Das war schon immer in den Schulgesetzen vorgesehen und konnte Disziplinarmaßnahmen bis hin zur Entlassung nach sich ziehen.
Ein allgemeineres Kopftuchverbot für bestimmte Schulen oder Schulbezirke für eine begrenzte Zeit ist möglich, wenn dort nachweislich besondere „substanzielle Konfliktlagen in einer beachtlichen Zahl von Fällen“ vorliegen. Das Gericht nennt als Beispiel eine Situation, „[…] in der – insbesondere von älteren Schülern oder Eltern – über die Frage des richtigen religiösen Verhaltens sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck vertreten und […] in die Schule hineingetragen […]“ werden, diese Situation länger anhält und die Erteilung des Unterrichts extrem beeinträchtigt oder gar verhindert.
Wenn in einem solchen Fall die Schulleitung alle pädagogischen Maßnahmen, die üblicherweise bei der Lösung von Schulkonflikten zum Einsatz kommen, erfolglos ergriffen hat und zu dem Schluss kommt, dass der Schulfrieden – zu dessen Störung die Lehrerin mit Kopftuch nicht selbst etwas beigetragen hat – nur durch Einschränkung der Grundrechte der Lehrerin oder ihre Versetzung zu retten ist, dann – und nur dann – ist ihr das aus Sicht des BVerfG zumutbar. In einem solchen Fall wird also das Grundrecht der Lehrerin auf Glaubensfreiheit dem konkurrierenden Grundrecht des Erziehungs- und Bildungsauftrages des Staates untergeordnet.
Tipp: Eine Langfassung dieses Textes finden Sie auf den Internet-Seiten des „Aktionsbünsnis muslimischer Frauen e.V.“ Eine Kurzanalyse des BVerfG-Beschlusses zum Kopftuchverbot gibt es hier.
Die Klägerinnen stammten in diesem Fall zwar aus Nordrhein-Westfalen, aber der Beschluss des BVerfG wirkt auch auf andere Bundesländer, in denen es ein gesetzliches Kopftuchverbot gibt, denn laut Bundesverfassungsgerichtsgesetz sind die Landesgesetzgeber daran gebunden, ihre jeweiligen Gesetze nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auszulegen. Der BVerfG-Beschluss bindet gleichermaßen auch die Gerichte. Im Streitfall müssen sie das Landesgesetz nach den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts auslegen.
Soweit die Rechtslage und damit die Theorie.
In Goethes Faust ist zwar zu lesen: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und Grün des Lebens goldner Baum“, doch im Falle der Kopftuchverbote kann es auch umgekehrt kommen: die Rechtslage erscheint golden im Vergleich zur oft grauen(haften) Praxis.
Ein kurzer Rückblick
Zwischen 2004 und 2006 wurden in acht westlichen Bundesländern gesetzliche Kopftuchverbote unterschiedlicher Reichweite und mit oder ohne eine Privilegierung christlich-abendländischer Zeichen eingeführt: In zeitlicher Reihenfolge und Regierungskonstellation: Baden-Württemberg CDU/FDP, Niedersachsen CDU/FDP, Saarland CDU, Hessen CDU/FDP, Bayern CSU, Berlin 2005, SPD/PDS, Bremen SPD/Grüne, Nordrhein-Westfalen CDU/FDP.
Diverse Regierungswechsel (vor allem in NRW und Baden-Württemberg) änderten die Situation nicht. Zudem wurde das Verbot vereinzelt auch in Bundesländern angewandt (z.B. Hamburg und Rheinland-Pfalz), in denen es kein gesetzliches Verbot gab.
Als der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts am 13. März 2015 bekannt wurde, hegten die betroffenen Frauen die Hoffnung, dass sich die Situation rasch grundlegend ändern würde. Doch die Bundesländer reagierten unterschiedlich. Während in NRW der Beschluss begrüßt wurde und Bremen und Niedersachsen umgehende Prüfungen ihres Schulgesetzes ankündigten, zeigten sich in anderen Bundesländern Widerstände, die zum Teil bis heute andauern.
Nordrhein-Westfalen
Die Schulministerin, Frau Löhrmann, kündigte eine schnellstmögliche Änderung des Schulgesetzes an. Die CDU wurde – als zweitstärkste Kraft im Landtag und Urheberin des Verbots – mit ins Boot geholt und am 25. Juni 2015 trat das neue Schulgesetz in Kraft:
Die vom BVerfG als verfassungswidrig definierte Privilegierung christlicher und abendländischer Kulturwerte wurde gestrichen. Der Absatz, der das Kopftuchverbot begründet hatte, wurde entfernt, Teile davon entsprechend den Vorgaben des BVerfG-Beschlusses modifiziert und an anderer Stelle eingefügt. Nach der Modifikation ist jetzt die belegte Existenz einer konkreten Gefahr die Voraussetzung eines Verbots von „Bekundungen“ und das tatsächliche Verhalten (nicht nur ein äußeres Verhalten, also ein Kleidungsstück) einer Lehrperson wird einer Betrachtung zugrunde gelegt und nicht wie bisher der sogenannte Empfängerhorizont (d.h. das, was ein Betrachter heute oder in Zukunft in eine „Bekundung“ hineininterpretieren könnte).
Erfreulich ist, dass das Schulgesetz durch einen wichtigen Text ergänzt wurde, der erstmals ausdrücklich auch die Schulleitung mit in die Verantwortung nimmt. Darin wird die Schule als Raum religiöser und weltanschaulicher Freiheit definiert, Offenheit und Toleranz gegenüber unterschiedlichen Überzeugungen und Wertvorstellungen sowie die Rücksichtnahme auf Empfindungen anders Denkender wird garantiert. Unterschiedliche Auffassungen sind zu ermöglichen und zu respektieren und das Lehrpersonal ist bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben zur Unparteilichkeit verpflichtet.
Potentielle Beschwerden im Zusammenhang mit einer kopftuchtragenden Lehrerin werden wie alle anderen Konflikte, die Lehrkräfte betreffen, behandelt.
Bremen
Die Bremer Bildungssenatorin Eva Quante-Brandt erklärte bereits am 24. März 2015, sie habe alle Schulleitungen darüber informiert, dass ab sofort Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten dürften.
Eine Veränderung des Gesetzestextes wurde bedauerlicherweise nicht für notwendig befunden, weil – so das Argument – er keine Privilegierung anderer Religions- oder Kulturwerte enthielt. Leitartikel Meinung
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