Wandel
Die neue Machtbalance zwischen Türkei und Europa
Die Europäische Union und die Türkei blicken auf eine lange Geschichte zurück - mit guten und schlechten Zeiten. Konstant war legidlich die dominierende Rolle Europas. Das hat sich geändert - schon vor der "Flüchtlingskrise". Von Kerstin Siegburg
Von Kerstin Siegburg Donnerstag, 17.03.2016, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 17.03.2016, 17:38 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Im November 2015 beschloss die Europäische Union, der Türkei 3 Milliarden Euro zur Versorgung der Flüchtlinge auf türkischem Boden zu geben. Der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu bezeichnete das Treffen als ‚historisch‘ und als ‚Neuanfang‘ in Hinblick auf die EU-Beitrittsverhandlungen.
Kurz vor der europäischen Entscheidung, die Türkei finanziell zu unterstützen, hatte Angela Merkel den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan persönlich in Ankara besucht. In den Medien sah man am darauffolgenden Tag ein Foto, in dem Merkel und Erdoğan in einem herrschaftlichen Raum sitzen; sie sind einander zugewandt; Angela Merkel lächelt. Das ironische an diesem Bild ist, dass Angela Merkel mit ihrem Amtsantritt als Bundeskanzlerin vor über zehn Jahren einen EU Beitritt der Türkei in weite Ferne gerückt hatte – aus kulturellen Gründen. Heute braucht sie die Türkei aus sicherheitspolitischen Gründen.
Anfang März fand ein weiteres ‚historisches‘ Treffen zwischen der EU und der Türkei statt. Zum ersten Mal war die Türkei nicht nur Gast eines EU-Gipfels, sondern wichtigster Akteur. Nur mit ihr könne man Menschen daran hindern, europäischen Boden zu betreten. Kritische Stimmen warfen die Frage auf, wie eng die EU mit einem Land zusammenarbeiten könne, das zum wiederholten Male die Pressefreiheit eingeschränkt hatte.
Der Wandel der EU-Türkei-Beziehungen
Die Beziehung zwischen der EU und der Türkei hat sich im letzten Jahrzehnt sehr verändert. Die ersten Jahre der 2000er werden in der Literatur öfters als das ‚goldene Zeitalter‘ der türkisch-europäischen Beziehungen bezeichnet, vielleicht auch deswegen, weil die EU zu dieser Zeit noch die deutlich überlegene Position innehatte.
Der europäische Diskurs war damals geprägt von der Frage nach der Essenz des Europäischen. Eine zufriedenstellende Antwort gab es nicht, als Ersatz mussten ‚kulturelle Grenzen‘ herhalten, um so etwas wie eine europäische Identität zu erzeugen. Natürlich waren auch damals schon geostrategische und sicherheitspolitische Überlegungen in Hinblick auf einen Türkei-Beitritt relevant, aber nicht dominierender Teil des Diskurses.
Nach 2004 folgte eine Phase der Stagnation, Spannung und ‚Versicherheitlichung‘. Allerdings erlangte Sicherheit innerhalb der EU einen immer höheren Stellenwert, was zwangsläufig dazu führte, dass auch der EU-Beitritt der Türkei verstärkt unter sicherheitspolitischen Themen diskutiert wurde. Gleichzeitig änderte sich das Türkei-Bild signifikant. Wurde die Türkei Anfangs als vorwiegend ’säkular‘ und nur zweitrangig ‚muslimisch‘ wahrgenommen, so änderte sich dies in den Jahren nach 2004 zu ‚muslimisch‘ und ein bisschen ’säkular‘.
Das neue türkische Selbstverständnis unter AKP Regierung führte zudem zu einem neuen Selbstbewusstsein als regionale Macht im Nahen Osten mit sowohl wirtschaftlichen als auch strategischen Alternativen zu einer EU-Mitgliedschaft.
Während das Machtverhältnis bisher als ’starkes Europa – schwache Türkei‘ beschrieben werden konnte, so stellt sich seit dem Wandel die Frage, ob die Türkei es geschafft hat, es in ’schwaches Europa – starke Türkei‘ zu verwandeln. Fest steht jedenfalls, dass das Machtgefälle nicht mehr eindeutig ist, wie es noch vor 10 Jahren der Fall war.
Verantwortlich dafür ist in erster Linie die EU selbst. Sie hat sich gegenüber der Türkei nie als besonders entgegenkommend gezeigt. Nachdem die Verhandlungen 2006 mehr oder weniger eingefroren wurden, blieb der Türkei kaum eine andere Möglichkeit, als sich international neu zu orientieren.
Das neue Selbstbewusstsein der Türkei konnte man in den letzten Jahren immer wieder spüren, vor allem beim Präsidenten Erdoğan. Als die EU 2014 den Überfall von 27 Journalisten kritisierte, entgegnete Erdoğan, die EU solle sich selber den Spiegel vorhalten, bevor sie die Türkei in Sachen Freiheit und Demokratie belehre. Er verwies auf den steigenden Rassismus, die zunehmende Islamophobie und Diskriminierung in Europa und das (Nicht-)Handeln in Syrien oder Palästina.
Inzwischen gibt’s neue Töne
Den EU-Gipfel im März bezeichneten einige Politiker, darunter auch Angela Merkel, als Durchbruch, auch wenn endgültige Entscheidungen am 17. März getroffen werden. Dabei gibt es im Jahr 2016 noch mehr politische, moralische und kulturelle Gründe als vor zehn Jahren, um der Türkei eine EU-Mitgliedschaft zu verweigern. Dennoch kann die Türkei für die Schließung seiner Grenzen und die Rücknahme von Flüchtlingen folgenden Forderungskatalog aufstellen: Die EU soll für jeden zurückgenommenen syrischen Flüchtling im Austausch einen syrischen Flüchtling aufnehmen, weitere finanzielle Unterstützung leisten, die visafreie Einreise für türkische Staatsbürger in den Schengen-Raum erlauben und fünf neue Kapitel im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen öffnen.
Das macht deutlich: Was vor zehn Jahren noch ein europäischer Monolog war, ist 2016 zu einem europäisch-türkischen Dialog geworden. Mal schauen, wie lange diese neue Machtbalance anhält. Vermutlich so lange, wie der syrische Bürgerkrieg andauert und täglich neue Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden. Und wenn der Krieg weitergeht, wird die Türkei womöglich EU-Mitglied, weil man einander braucht. Aktuell Meinung
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