"Schweden ist voll"
Nährboden für Übergriffe auf Flüchtlinge
Angesichts der steigenden Zahl der Flüchtlinge wächst in Schweden die Zustimmung für die extrem rechten Schwedendemokraten. Mit ihrer rassistischen Hetze ist die Partei der ideologische und praktische Wegbereiter für Brandanschläge und gewalttätige Übergriffe auf Flüchtlinge. Von Michael Lausberg
Von Dr. Michael Lausberg Donnerstag, 24.03.2016, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 29.03.2016, 18:35 Uhr Lesedauer: 16 Minuten |
Migration hat in Schweden eine lange und erfolgreiche Tradition. 1954 schufen Schweden, Dänemark, Norwegen und Island im Rahmen des „Nordischen Rates“ einen gemeinsamen Arbeitsmarkt. Ähnlich der erst später ins Leben gerufenen Freizügigkeit in der EU können sich die Bürger der nordeuropäischen Länder seither frei über Binnengrenzen hinweg bewegen und benötigen keine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis, wenn sie in einem nordischen Partnerstaat arbeiten wollen. Dem Freizügigkeitsabkommen trat später auch Finnland bei. Schweden hatte sich zu diesem Zeitpunkt zur führenden Wirtschafts- und Industrienation des Nordens entwickelt.
In den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren wurden Arbeitsmigranten aktiv angeworben, zunächst in den Niederlanden, Westdeutschland, Italien, Österreich, Belgien und Griechenland, später auch in Jugoslawien und der Türkei. Bilaterale Abkommen wurden mit Italien, Österreich und Ungarn geschlossen und die Schwedische Arbeitsagentur Arbetsmarknadsstyrelsen richtete in Turin, Athen, Belgrad und Ankara Rekrutierungsbüros ein. Viele Migranten kamen auch aus dem damals im Vergleich zu Schweden weniger wohlhabenden Finnland. Anders als z.B. in Deutschland oder den Niederlanden verfolgte die schwedische Regierung keine „Gastarbeiterpolitik“, sondern ging von Beginn an davon aus, dass die zugewanderten Arbeitskräfte bleiben, sich integrieren und schließlich schwedische Staatsangehörige werden würden.
1972/73 wurde die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte gestoppt, da die Wirtschaft erlahmte. Die Migrationsbewegungen setzten sich jedoch auch danach noch fort. Statt als angeworbene Arbeiter kommen Zuwanderer seither hauptsächlich im Rahmen des Familiennachzugs zu bereits in Schweden ansässigen Verwandten oder als Schutzsuchende (z.B. Flüchtlinge). Seit dem Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 1995 gilt zudem auch in Schweden das Prinzip der Personenfreizügigkeit von EU-Bürgern. Auch dem Schengener Abkommen ist Schweden beigetreten, wodurch die Kontrollen an Grenzen mit anderen Vertragspartnern entfielen. Im Ergebnis führte Schweden an seinen Landgrenzen bislang keine Kontrollen mehr durch.
Schweden war lange Zeit das Land mit der großzügigsten Asylpolitik in Europa und nahm bereits vor den heutigen Flüchtlingsbewegungen – relativ zur Bevölkerungszahl von nur 9,8 Millionen Einwohnern – viel mehr Flüchtlinge auf als jedes andere EU-Land. Im Jahr 2014 wurden dort 13 % der Asylanträge in der EU registriert, während das Land weniger als 2 % der Einwohner hat. 2014 wurden insgesamt 81.300 Flüchtlinge in Schweden aufgenommen. Im Jahre 2014 kamen auf 1000 Einwohner 7,8 Asylbewerber, im Vergleich dazu waren es in Deutschland 2,1. Flüchtlinge erhielten nach der Anerkennung eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und konnten nach vier Jahren Aufenthalt die schwedische Staatsbürgerschaft erwerben. Bei Wohnraumbeschaffung, Familienzusammenführung und finanzieller Versorgung der Flüchtlinge wurde in Schweden großzügig verfahren.
Bereits bei der Reichstagswahl am 14. September 2014 erreichte die rechte Partei Schwedendemokraten knapp 13 % der Stimmen, in Umfragen vom August 2015 erreichte sie 23–25 %, mehr als jede andere schwedische Partei. Die Rechten warben als einzige Partei Schwedens schon immer dafür, weit weniger Flüchtlinge ins Land zu lassen als bisher, und wollen mit Anzeigen Flüchtlinge davon abhalten, ihre Flucht von der Türkei aus nach Schweden fortzusetzen.
Um eine unverhältnismäßig starke Konzentration der eingewanderten Bevölkerung an bestimmten Orten zu verhindern, versuchte die Regierung in der Vergangenheit, neu ins Land gekommene Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge über das ganze Land zu verteilen, ein Ansatz, der als „Ganz-Schweden“-Politik bekannt geworden ist. Dieser sollte auch erkennbaren Tendenzen der Alterung in entlegenen Regionen, insbesondere in Zentral- und Nordschweden, sowie der Entvölkerung kleiner Städte durch die Abwanderung junger Menschen in Städte im Süden des Landes entgegenwirken.
Die „Ganz-Schweden“-Politik hat im Laufe der vergangenen Jahre jedoch ein Dilemma heraufbeschworen: Gemeinden in Regionen, die unter Abwanderung und Überalterung leiden, erklärten sich bereit, Asylbewerber und Flüchtlinge aufzunehmen. Gleichzeitig aber mangelte es dort oftmals an Arbeitsplätzen, so dass Migranten, die dort untergebracht wurden, häufig versuchten, so schnell wie möglich in eine größere Stadt weiterzuziehen. In Städten wie Göteborg, Malmö oder Stockholm gibt es zwar tatsächlich eher freie Stellen, dafür aber nur wenige preiswerte Wohnungen. Dadurch kommt es verbreitet zur Konzentration von Migranten auf engem Raum in Vororten, was zu sozialen Spannungen beiträgt.
Die Prognose für die Zahl der 2015 gestellten Asylanträge wurde im Spätsommer 2015 von 90.000 auf 74.000 gesenkt, weil erhofft wurde, die im Vergleich zu Deutschland langen Bearbeitungszeiten würden potentielle Asylbewerber von einer Antragstellung in Schweden abhalten. In Anbetracht der Änderung der gesamten Situation wurde die Schätzung im Oktober 2015 auf bis zu 190.000 Asylsuchende im Jahr 2015 umgeändert. Es wurde mitgeteilt, dass die Menschen wohl nicht alle in winterfesten Unterkünften untergebracht könnten. Die zusätzlichen Kosten der erhöhten Bewerberzahl bezifferte man auf 7,4 Milliarden Euro. Bei dem Besuch eines Aufnahmezentrums für Flüchtlinge Ende Oktober 2015 äußerte Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven in Anbetracht der angespannten Flüchtlingssituation im Land: „Wir sind in Schweden an der Grenze unserer Aufnahmekapazität“.
Anfang November 2015 erklärte der Ministerpräsident, dass die Kapazitäten nun „überdehnt“ seien und Flüchtlinge, die sich bereits in Schweden befänden, auf andere EU-Länder verteilt werden müssten. Eine Nachrichtenagentur verbreitete in dem Zusammenhang eine Kapazität von bis zu 54.000 Personen.
Am 11. November 2015 gab die Regierung Löfven bekannt, dass ab dem 12. November wieder Grenzkontrollen eingeführt werden. Von dieser Maßnahme, die zunächst auf zehn Tage befristet wurde, waren die Zug- und Autotrassen auf der Öresundbrücke sowie die Fährverbindungen in Südschweden betroffen.
Anfang Herbst stellten wöchentlich 10.000 Flüchtlinge in Schweden Asylanträge. Durch die ständig steigenden Flüchtlingszahlen, aber auch wegen der fehlenden Solidarität anderer EU-Länder fühlte sich die Regierung „überfordert“. Ende November 2015 beschloss die schwedische Regierung deshalb Verschärfungen im Asylrecht.
Auf Beschluss des schwedischen Parlaments wurden Mitte Dezember 2015 die bereits von Polizei und Transportunternehmen durchgeführten Passkontrollen auf den Fähren auf Busse und Züge, die aus Dänemark und Deutschland kommen, ausgedehnt. Flüchtlingen ohne Dokumente wurde die Einreise nicht mehr erlaubt. Außerdem ist vorgesehen, dass Personen, die als Flüchtlinge anerkannt werden, fortan nur auf drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnisse erteilt werden. Geplant ist auch die Einführung von zeitlichen Beschränkungen beim Familiennachzug und diesen nur noch zu gestatten, wenn ein Nachweis der finanziellen Selbstversorgung erbracht werden kann; praktisch ist dies meistens unmöglich. Die drastisch angestiegene Zahl von unbegleitet kommenden Flüchtlingskindern soll durch medizinische Alterstests begrenzt werden. Seit dem 4. Januar 2016 muss sich jede Person ausweisen, die aus Dänemark nach Schweden einreisen möchte. Am 7. Januar verlängerte Schweden diese Regelung bis zum 8. Februar 2016. Aktuell Ausland Meinung
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