Der Schicksallose
Literaturnobelpreisträger Imre Kertész gestorben
"Was ich schrieb, richtete sich an niemanden", sagte Imre Kertész 2002 in seiner Nobelpreisrede. Doch was der KZ-Überlebende zu sagen hatte, rüttelte auf. Im Alter von 86 Jahren starb der Autor nach schwerer Krankheit.
Von Wilhelm Roth Freitag, 01.04.2016, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 03.04.2016, 19:42 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Der ungarische Autor Imre Kertész war eine literarisch-moralische Autorität: In bewegenden Büchern über die Judenverfolgung und das KZ-System hat er seine schrecklichen Erfahrungen verarbeitet. Als Jugendlicher überlebte er 1944/45 Auschwitz und Buchenwald. Am Donnerstag ist der Autor nach schwerer Krankheit mit 86 Jahren in Budapest gestorben.
Geboren 1929 in Budapest als Sohn einer jüdischen Familie kehrte Kertész nach dem Krieg nach Ungarn zurück. Er arbeitete ab 1948 als Journalist und ab 1953 als freier Schriftsteller, doch die Diktatur des Sozialismus ließ eine freie Schriftstellerlaufbahn nicht zu. Dazu kamen ein latenter wie auch offener Antisemitismus.
Diese Erfahrungen machten Kertész zum politischen Menschen. Aber er war kein politisch engagierter Schriftsteller, seine Romane und Erzählungen blieben nüchtern, oft sperrig, auch im Stil. Sie biederten sich nicht an. Es sind sehr persönliche Texte, in denen der Autor vor allem über sich selbst nachdachte. Kertész hat sich nie nach vorne gedrängt, nie den Ruhm gesucht, nie den Anspruch erhoben, „eine moralische Instanz zu sein“, wie die Berliner Tageszeitung „taz“ 2006 schrieb: „Eben deshalb ist er es.“
In seinem letzten Buch „Letzte Einkehr“, den Tagebüchern von 2001 bis 2009, zog Kertész eine kritische, bittere Bilanz seines Lebens. Durch den Nobelpreis, den er 2002 bekam, sei es nicht leichter geworden. Er nennt die renommierte Auszeichnung „eine Glückskatastrophe“. Zwar machte ihn das Preisgeld finanziell unabhängig – er konnte ohne Sorgen von 2000 bis 2012 in Berlin leben. Aber die Arbeit sei für ihn schwieriger geworden. Die „Letzte Einkehr“ blieb unvollendet, eigentlich sollte sie ihn bis zu seinem Tod begleiten. Was er aber „im Vorzimmer des Todes“, so Kertész, niederschrieb, ist auch als Fragment ein großes Buch.
Dabei ließ der Erfolg erst einmal auf sich warten: In Ungarn, so sagte er in seiner Nobelpreisrede, „hatte ich kein Publikum … und was ich schrieb, richtete sich an niemanden“. Seine Bücher blieben unveröffentlicht oder wurden totgeschwiegen. Sein erster Roman „Schicksallosigkeit“, an dem er 13 Jahre gearbeitet hatte, wurde 1973 abgelehnt, 1975 dann doch publiziert, doch ohne Resonanz. Auch die Ostberliner Ausgabe von 1990 fand keine große Aufmerksamkeit.
Erst die Rowohlt-Neuübersetzung von 1996, nun mit dem Titel „Roman eines Schicksallosen“, erregte international Aufsehen. Das Außerordentliche und Neue an diesem Buch war, dass Kertész auf politische Bekenntnisse und Belehrungen verzichtete und ganz die naive Perspektive des 15-jährigen Jungen einnahm, der sich notgedrungen in den Lagern einrichten musste. Die sachliche Beschreibung seines Leidensweges reichte völlig aus, um die Inhumanität des KZ-Systems darzustellen.
In den 90er Jahren fand Kertész zunehmend Anerkennung. Aber er wurde kein populärer Autor, dafür waren seine Bücher zu streng. Die Romane enthalten oft essayistische Passagen, vier von ihnen fügte er zur „Tetralogie der Schicksallosigkeit“ zusammen.
Auf den „Roman eines Schicksallosen“ folgte „Fiasko“ (1988, deutsch 1999), ein Buch über ein Buch, die Entstehung seines ersten Romans. 1990 kam „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ heraus (deutsch 1992), der verzweifelte Monolog eines Mannes, der begründet, warum er nach Auschwitz kein Kind haben will. Als er 2007 Gastredner der Auschwitz-Gedenkstunde im Deutschen Bundestag war, las Kertész statt einer klassischen Rede Passagen aus diesem Werk.
Als letzter Band der Tetralogie erschien 2003 „Liquidation“ (deutsch 2003), die Geschichte eines Mannes, der in Auschwitz geboren wurde, darüber nie hinwegkommt und Suizid begeht. Eine Theaterfassung erlebte am 14. November 2014 in Frankfurt am Main die deutschsprachige Erstaufführung.
Im Jahr 2012 zog der an Parkinson erkrankte Kertész wieder nach Budapest. Dort erhielt er am 20. August 2014, am ungarischen Nationalfeiertag, die höchste Auszeichnung, den Orden des Heiligen Stephan. Kertész war ein scharfer Kritiker der konservativ-reaktionären Orbán-Regierung, nahm den Orden aber trotzdem an. Es sei notwendig, zitierten ihn ungarische Medien, in seinem Heimatland einen „Konsens“ herzustellen. (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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