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NSU-Komplex

Polizei ist sich keiner Schuld bewusst

Warum haben Sicherheitsbehörden im NSU-Komplex kaum zur Aufklärung beigetragen? Warum gibt es kaum Änderungen in der Sicherheitsarchitektur? Reaktionen von Polizeivertretern auf Reformbestrebungen zeigen: es mangelt an Fehlerkultur. Von Ekrem Şenol

Von Ekrem Şenol Montag, 11.04.2016, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 14.04.2016, 17:42 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

In seinem Abschlussbericht hat der NSU Untersuchungsausschuss des Bundestages den Sicherheitsbehörden eine lange Serie aus „Fehlern, Versäumnissen, Fehleinschätzungen“ bescheinigt. Als Folge forderte der Ausschuss weitreichende Reformen in der Sicherheitsarchitektur. Der NSU-Komplex sei in seiner Art und Dimension ein derart abschreckendes Beispiel, dass er in der Polizeiausbildung gelehrt werden müsse, um eine „Fehlerkultur“ zu etablieren. Knapp drei Jahre sind seit dem vergangen. Von einer Fehlerkultur ist man nach wie vor weit entfernt.

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Zwar versprachen Politiker auf Bundes- und Landesebene umfangreiche Reformen, die Sicherheitsbehörden gelobten Besserung, doch getan hat sich kaum etwas. Nach wie vor sträubt sich die Polizei mit Händen und Füßen gegen jedwede Änderung. Das zeigen Reaktionen von Polizeigewerkschaften und Kriminalbeamten auf einen Antrag der niedersächsischen Regierungskoalition.

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Rot-Grün fordert kritische Aufbereitung

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Darin fordern Grüne und SPD Konsequenzen aus den Fehlern im NSU-Komplex – um auch den entstandenen „Vertrauensverlust bei Menschen mit Migrationshintergrund“ wiederherzustellen. Zwar seien die niedersächsischen Sicherheitsbehörden auf einem „guten Weg“, dennoch gebe es weiteren Handlungsbedarf, um die Verfehlungen „kritisch“ aufzuarbeiten. Untersucht werden müsse auch, welche Gründe für „stereotype Ermittlungen ursächlich waren und wie diese in Zukunft verhindert werden können“.

Das stößt beim niedersächsischen Landesverband des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) auf scharfe Kritik. Sie sieht sich durch den Antrag einem „haltlosen Pauschalverdacht“ ausgesetzt. Damit verspiele die Landesregierung „Vertrauen bei den Beschäftigten der niedersächsischen Polizei“. Einen Vertrauensverlust bei Migranten sieht die BDK hingegen nicht. „Diese Behauptung“ sei „absoluter Unsinn“. Schließlich wendeten sich Migranten „vermehrt an die Polizei“, um als „Opfer von Straftaten Anzeigen zu erstatten“. Auch gäbe es keinen Vertrauensverlust speziell unter Muslimen im Hinblick auf die in der Vergangenheit durchgeführten Moscheekontrollen. Denn: „Selbstverständlich sind nicht alle in Deutschland lebenden Muslime Islamisten aber alle Islamisten sind Muslime“, so der BDK in seiner Stellungnahme, die dem MiGAZIN vorliegt. An interkultureller Kompetenz mangele es der Polizei nicht.

Polizei: es gibt keine Diskriminierung

Giftig reagiert auch die Gewerkschaft der Polizei Niedersachsen auf den Antrag. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Wiederherstellung des angekratzten Vertrauens von Migranten nun „höchste Priorität“ habe. Die Polizei erwarte vielmehr „Vertrauen seitens der Politik in ihre Arbeit und keine Pauschalverurteilung“, so die Gewerkschaft in ihrer Stellungnahme.

Dem Antrag wenig abgewinnen kann auch der Landesverband der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Diskriminierung in der Polizei und Verfassungsschutz sei kein Problem. Das Gegenteil sei der Fall: Einer Studie zufolge würden Jugendliche mit Migrationshintergrund von der Polizei sogar seltener kontrolliert als Einheimische. Dieser Befund spreche „eindeutig“ gegen die Annahme einer ethnischen Diskriminierung. Einer anderen Studie zufolge genieße die Polizei auch unter Muslimen hohes Vertrauen. Dass die Studie vor Bekanntwerden der NSU-Skandale durchgeführt wurde, unterschlägt die Polizeigewerkschaft in ihrer Stellungnahme. Sie fordert die Rücknahme des Antrags. „Die Politik sollte sich vor ihre Polizei stellen und nicht ihre Arbeit erschweren.“

Onay: Polizei hat viel Vertrauen zerstört

Astrid Jacobsen, Professorin an der Polizeiakademie Niedersachsen, verweist auf Nachfrage des MiGAZIN auf die EU-Midis-Studie, die ein anderes Bild zeigt. Danach geben Migranten in Deutschland eine viel höhere Kontrollhäufigkeit an und sie bewerten den Umgang der Polizei mit ihnen deutlich negativer als Kontrollierte ohne Migrationshintergrund. Die Reaktionen der Gewerkschaften entspreche „keineswegs“ der der Polizei insgesamt. Es gebe auch Polizisten, „die den problematischen Beitrag der Polizei bei den NSU-Ermittlungen sehen und diesen kritisch aufarbeiten wollen“. Dies gelte es nun weiter zu betreiben und zu systematisieren.

Das ist auch Belit Onays (Die Grünen) Anliegen. Es gehe im Antrag nicht darum, „die Polizei an den Pranger zu stellen, sondern vielmehr um eine Verbesserung der polizeilichen Arbeit“, so der Landtagsabgeordneter und Initiator des Antrags gegenüber dem MiGAZIN. In Niedersachsen wurden zwischen 2003 bis 2010 unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung ohne Verdacht Moscheekontrollen durchgeführt. Ganze Hundertmannschaften stellten sich schwer bewaffnet vor Moscheen und kontrollierten nachbarschaftswirksam die Moscheegänger. „Man hat damals ziemlich viel polizeilichen Aufwand betrieben, Muslime stigmatisiert und Vertrauen zerstört“, so Onay. Dabei sei keine einzige Straftat von Bedeutung aufgeklärt worden. „Für den Kampf gegen Terrorismus war das also vollkommen ungeeignet“.

Expertin attestiert Polizei Reflexionsbedarf

In solchen Maßnahmen erkennt Onay das pauschalisierende Schubladendenken, das man angehen möchte: „Die Menschen in der Polizei sind ein Spiegel unserer Gesellschaft. Das bedeutet, dass auch gesellschaftliche Stärken und Schwächen in der Polizei wiederzufinden sind. Bei einem Blick auf die aktuellen politischen Polarisierungen und den Rechtsruck der Gesellschaft, erscheint eine Debatte hierzu noch viel wichtiger und notwendiger“, erklärt Onay.

Jacobsen ist überzeugt, dass der Antrag „einen Impuls für die Polizei darstellen“ kann, sich mit der „Gefahr von Stereotypen und Vorurteilen innerhalb der Polizeiarbeit offensiv auseinanderzusetzen“. Verschiedene empirische Studien geben „deutliche Hinweise auf einen Reflexionsbedarf vonseiten der Polizei im Umgang mit Migranten“ – über die NSU-Kritiken hinaus. Insofern sei die ablehnende Haltung der Polizeigewerkschaften „kontraproduktiv“ und eine Absage an eine moderne Polizei, die notwendigerweise das eigene Handeln und seine Wirkungen auch unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse reflektieren müsse.

Antrag geht nicht weit genug

Unterstützt wird der Antrag von Antidiskriminierungsstellen, dem Deutschen Institut für Menschenrechte und von islamischen Verbänden. Während die Muslime in dem Antrag einen ersten Schritt zur Wiederherstellung des Vertrauens sehen, halten die Antidiskriminierungsstellen „weitergehende Forderungen nötig“. Diskriminierende Strukturen müssten „in allen behördlichen Bereichen in den Blick“ genommen werden. Nach wie vor existierten Mängel in der Aufklärung und Ahndung rassistischer Straftaten. Das Menschenrechtsinstitut ist ebenfalls für eine Erweiterung des Antrags um „konkrete Maßnahmen im Bereich der Polizei und Justiz zur Erkennung und Verfolgung rassistischer Straftaten“. Außerdem solle überprüft werden, „inwieweit die Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages umgesetzt worden sind“.

Davon ist man nach wie vor weit entfernt. Viele Empfehlungen des Untersuchungsausschusses wurden nicht einmal andiskutiert. Wenn einzelne Punkte umgesetzt wurden, dann zugunsten der Sicherheitsbehörden: entweder wurden ihre Kompetenzen erweitert oder Mittel aufgestockt. Gesetzesänderungen wurden primär dazu genutzt, um die bisherige Praxis der Geheimdienste zu stärken: dubiose Ermittlungsmethoden, die Amtsmitarbeiter im NSU-Komplex in Gesetzeskonflikt gebracht haben, wurden legalisiert für die Zukunft.

Rassistische und vorurteilsbeladene Denkmuster sind bis heute kaum Thema, obwohl sie eine maßgebliche Rolle im NSU-Komplex gespielt haben. Ein Beispiel: In einer Analyse des Landeskriminalamtes (LKA) Baden-Württemberg zu den damals noch als „Döner-Morde“ bezeichneten Fällen wird vermeintlich wissenschaftlich herausgearbeitet, warum die Verbrechen von Tätern aus dem Ausland begangen worden sein müssen: weil das Morden „in unserem Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt ist“, schreibt der LKA-Fallanalytiker wörtlich. Nach seinem Verständis können es ja nur Ausländer gewesen sein – und keine Deutsche. Leitartikel Politik

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