Die Mehmetebene
Der Fall Böhmermann ist ein Trauerspiel
Es ist symptomatisch, dass Bundeskanzlerin Merkel in der Kausa Böhmermann ausgerechnet den Moment der Empathie für die türkische Rezeption zum ärgerlichen Fehler erklärt. Und hier liegt auch die ganze gesellschaftliche Tragik des Falles. Von Murat Kayman
Von Murat Kayman Montag, 25.04.2016, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 29.04.2016, 9:28 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Der Fall Böhmermann ist – kurz gesagt – ein Trauerspiel. Schon in der Böhmermannschen Darbietung selbst, mehr noch in der erstaunlich breiten und emotional geprägten medialen Aufarbeitung im Anschluss an die Ausstrahlung der Sendung, offenbart sich die ganze Schwere der deutsch-türkischen Beziehungen. Und damit ist nicht die zwischenstaatliche Diplomatie gemeint.
Gewichtiger und für unser Zusammenleben prägender ist die tiefe Dissonanz innerhalb des deutsch-türkischen Seelengeflechts hier vor Ort.
Schon zu Beginn war dieses Verhältnis nicht auf dauerhaftes Gelingen angelegt. Die Türken waren seit Beginn der Arbeitsmigration ein provisorischer Faktor. Zweifellos gab es auf persönlicher, nachbarschaftlicher Ebene viele auch enge Kontakte voller Wärme und Hilfsbereitschaft. Die große Politik hat jedoch stets eine emotionale Kluft zu wahren gesucht. Für türkischstämmige Menschen, die etwa zum Zeitpunkt des Anwerbestopps 1973 in Deutschland geboren oder hier angekommen und aufgewachsen sind, ist das deutsch-türkische Verhältnis stets von Befremden und Irritation geprägt gewesen. Jedenfalls ging es mir so.
Ich bin 1973 in Lübeck geboren worden. Ich bin in einem Land aufgewachsen, das in den 80er Jahren Rückführungsprämien gezahlt hat. Also Menschen dafür bezahlt hat, dieses Land zu verlassen. Als ich unseren damaligen Nachbarn zusah, wie die materielle Manifestation ihres ganzen Lebens in einem LKW untergebracht wurde und sie aufbrachen in eine Heimat, welche die Kinder in meinem Alter nur aus dem Urlaub kannten, wusste ich nicht, was ich davon halten soll. Wie soll ich hier ein Heimatgefühl empfinden, wenn mich der Staat dafür bezahlt, ein solches eben bloß nicht zu entwickeln?
Ich habe das deutsch-türkische Verhältnis immer als Zweckgemeinschaft, als Vernunftehe empfunden. Um es provokativer zu sagen, vielleicht als Zwangsehe. Dem einen Partner ist die Beziehung nützlich, er verbindet damit auch nur rationale Aspekte der Zweckmäßigkeit und Dienlichkeit. Der andere Partner ist materiell abhängig, nicht in der Lage, die Beziehung zu beenden. Er hat sich eingerichtet und tröstet sich durch Bequemlichkeiten darüber hinweg, ohne Zuneigung leben zu müssen. Gewiss ist dieses Bild unvollständig oder verzerrt.
Es beschreibt aber die Paradoxie der jahrzehntelang postulierten Aufforderung zur Integration, bei gleichzeitig stetiger gesellschaftlicher Zurückweisung. Fordern ohne Fördern.
Ein solcher Moment war beispielsweise die Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, durch den damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch populistisch inszeniert zum „Wo kann man hier gegen Türken unterschreiben?“. Oder die Trauerfeier nach dem Brandanschlag in Solingen Anfang der 90er Jahre, als der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl öffentlich erklärte, er werde sich nicht am Beileidstourismus beteiligen. Stellvertretend nahm Klaus Kinkel an der Trauerfeier teil. Als Außenminister. Denn ermordet worden waren ja nur „Ausländer“, also Fremde.
Wenige Jahre zuvor, gab es einen Moment der Annäherung, des Dazugehörens. Nämlich als die Mauer fiel. Für einen kurzen Augenblick der Geschichte war der „Ossi“ der Ausländer. Die Türken gehörten zu den Einheimischen, zu denen, die hier zu Hause waren. Es gab „Ossi-Witze“ die gingen so: Versucht sich ein „Ossi“ bei Aldi an der Kasse vorzudrängeln. Ruft der Türke in der Schlange „Stell dich gefälligst hinten an! Wir waren vorher hier!“
Damit war es aber schnell vorbei. Mit den Rufen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda, mit den Anschlägen in Mölln und Solingen war schnell klar, wer hier zu Hause ist und wem welcher Platz in der Gesellschaft gebührt.
Unter großem gesellschaftlichem Applaus durfte dann auch mal endlich gesagt werden, dass die Türken kaum mehr zur Produktivität dieses Landes beitragen, als Taxis zu fahren, Gemüse zu verkaufen und Kopftuchmädchen zu zeugen. Ein Satz, der die Lebenswirklichkeit vieler Deutschen beschreibt, die den „Ali“ nur vom Gemüsestand oder als Taxifahrer kennen, sich mit „Ali“ aber nie auf einer Geburtstagsfeier unterhalten haben. Gleichzeitig ist das ein Satz, der den Kumpel „Ali“, der sich durch harte Arbeit im Bergbau oder in der Schwerindustrie um seine Gesundheit geschuftet hat, um den Stolz auf seine Lebensleistung betrügt.
Nun mag das für deutsche Ohren vielleicht wehleidig oder mimosenhaft klingen. Aber Türken sind emotional. Auch ihr Verhältnis zum Staat ist emotional geprägt. Der Staat ist „devlet baba“, „Vater Staat“. Das Heimatland ist „Anavatan“, „Mutterland“. Interessanterweise heißt es im Deutschen „Vaterland“. Der Türke liebt sein Mutterland, er will stolz sein auf sein Mutterland. Dem Deutschen ist angesichts der historischen Erfahrungen jede „Vaterlandsliebe“, gar Stolz auf das „Vaterland“ suspekt.
Die oben beschriebenen Erfahrungen der Ablehnung oder der Nichtachtung werden kaum durch positive Erfahrungen der Triangulierung zwischen Vater- und Mutterland aufgefangen. Von deutscher Seite gab und gibt es wenig Interesse an allem Türkischen. Ein intensives Verhältnis, vergleichbar der deutsch-französischen Freundschaft, hat sich nie entwickelt.
Nun haben Deutschland und die Türkei keine gemeinsamen Grenzen. Aber sie haben gemeinsame Menschen, etwa 3 Millionen. Dennoch blieb das Verhältnis distanziert. Der Deutsche kann heute formvollendet seine Tagliatelle alla emiliana bestellen, seinen Montepulciano ordern und sich „mille grazie!“ für den Espresso macchiato bedanken. Aber mit dem stummen türkischen Dehnungs-g kommt er auch nach 50 Jahren noch nicht klar.
Das Land der Dichter und Denker kann die Rührung nicht nachempfinden, die der Türke bei Versen eines Orhan Veli oder eines Cahit Sıtkı Tarancı empfindet. „Bakakalırım giden geminin ardından; Atamam kendimi denize, dünya güzel; Serde erkeklik var, ağlayamam.“ Die stille Verzweiflung in diesen Zeilen bleibt ihm verborgen. „N’eylersin ölüm herkesin başında. Uyudun uyanamadın olacak. Kim bilir nerde, nasıl, kaç yaşında? Bir namazlık saltanatın olacak. Taht misali o musalla taşında.“ Die Melancholie, das Gefühl des „Hüzün“ in diesen Versen kann er nicht nachempfinden.
Statt sich für die Gedichte des Türken zu interessieren, schreibt der Deutsche halt lieber selbst Gedichte. Und die Böhmermann-Nummer hat bewusst oder fahrlässig den deutschen Blick auf das Türkische konzentriert auf den Moment der Verachtung. Sie hat genau jene Saiten angeschlagen, die in der türkischen Seele nach über 50 Jahren Migrationserfahrung schmerzen. Sie wurde verstanden als die dominante Geste des Hausherren, mit der er den ewigen Gast auf seinen Platz verweist. Der Anspruch mag ein anderer gewesen sein. Die kalkulierte oder vielleicht auch im Nachhinein hineininterpretierte satirische Raffinesse konnte in und gerade wegen der Inszenierung nicht verstanden werden.
Denn Böhmermann hat in dem Moment, in dem er die türkische Flagge im Hintergrund hat einblenden lassen, sein türkisches Publikum verloren. Ab diesem Zeitpunkt konnte die Nummer für den türkischen Empfänger nicht mehr nur als Schlagabtausch zwischen Böhmermann und Erdogan begriffen werden.
Vielleicht hat Böhmermann mit der Verwendung stereotyper Beschimpfungen gerade der deutschen Verachtung den kritischen Spiegel vorhalten wollen. Vielleicht muss man ihm – im Zweifel für den Satiriker – diese Absicht zugestehen, die Nummer auf eine Metaebene transformiert haben zu wollen. Aber auf der Mehmetebene blieb nur der Geschmack des verkrusteten Ressentiments gegen den stinkenden türkischen Sodomisten.
In der medialen Besprechung dieser Inszenierung war sie dann wieder da, die Geste der kulturhierarchischen Belehrung über Kunst und Satire, Freiheit und Demokratie. Das verächtliche Ausspucken wurde uminterpretiert zum kritischen Räuspern.
Die klügste Geste der Bundeskanzlerin war die öffentliche Bekundung, das Gedicht als bewusst verletzend bewertet zu haben. In diesem Moment war sie die Kanzlerin auch der türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürger. Natürlich spielt diese Bewertung keine Rolle für die juristische Würdigung des Falles. Und das hätte sie auch deutlich hinzufügen können und sollen. Und der Bezug dieser Bewertung nur auf das Gedicht und nicht auf die gesamte Inszenierung hätte diese Äußerung in ihrer Differenziertheit sogar glaubwürdiger gemacht.
Es ist aber symptomatisch für die deutsch-türkische Beziehung, dass sie ausgerechnet diesen Satz nun öffentlich als Fehler bezeichnet und erklärt, sich darüber geärgert zu haben. Sie erklärt den Moment der Empathie für die türkische Rezeption der Böhmermann-Nummer zum ärgerlichen Fehler. Und hier liegt auch die ganze gesellschaftliche Tragik des Falles.
Politiker und Medien überbieten sich regelmäßig in der Entrüstung über Erdogan-Sätze zur Assimilation als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie beklagen sich über einen tatsächlichen oder vermeintlichen Einfluss der Türkei auf türkischstämmige Menschen in Deutschland.
Dabei merken sie nicht, dass Erdogan nur eine Lücke füllt – und das nicht einmal besonders geschickt. Wir leugnen seit Jahren, dass es eine hybride deutsch-türkische Identität geben kann. Wir verstehen auch nach 15 Jahren Islamdebatte „Deutsch“ und „Muslim“ immer noch als einander ausschließende Begriffe, obwohl es sich um unterschiedliche Kategorien handelt. Wir fragen hier in Deutschland geborene Menschen, warum sie so gut Deutsch sprechen. Oder wo sie „wirklich“ herkommen.
Dafür, dass junge Menschen, deren einzige soziale Realität sich hier in Deutschland abspielt, sich dennoch von dieser Gesellschaft abwenden, ist nicht Erdogan verantwortlich. Das haben wir ganz allein geschafft. Leitartikel Meinung
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Und was ist mit dem alten Innenminister Schilly, der sich wie ein kleines Kind bei der damaligen Türkischen Regierung ausgeheult hat, nur weil er in türkischen privatwirtschaftlichen Medien als ein Nazi wohlgemerkt nicht in den öffentlich rechtlichen Anstalten dargestellt wurde? Achso, das haben die Deutschen schon längst wieder verdrängt. Verlogen und selbstgerecht seid ihr.
@derkritiker
Das Prinzip haben Sie offenbar noch immer nicht verstanden.“Geltendes Recht“ muss sich immer in den Schranken des Grundgesetzes bewegen. Tut es dies nicht, kann es das BVG außer Kraft setzen.
Ich heule übrigens nicht wegen Herrn Böhmermann, sondern deshalb, weil jetzt zu befürchten ist, dass auch in Deutschland Satiriker einen Maulkorb tragen müssen und dies nicht nur im „Staatsfernsehen“.
Außerdem möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich nicht behauptet habe, dass die Türkei rückständig wäre. Sie waren derjenige, welcher das Werteverständnis der Aufklärung negiert hatte. Die Türkei hatte Atatürk, der Fortschritt ins Land brachte und für eine strikte Trennung zwischen Religion und Staat sorgte.
Auch Herrn Erdogan hat die Türkei in der Vergangenheit viel wirtschaftlichen Wachstum zu verdanken. Leider verspielt er jedoch gerade die Zukunft der Türkei und befindet sich dabei, das Rad wieder zurück zu drehen. Den EU-Beitritt hat er bereits verspielt bzw. war die Türkei schon lange nicht mehr so weit von einem Beitritt entfernt.
Satire ist dafür da, Misstände aufzudecken und diese durch Übertreibung verständlicher zu machen. Die Satire von Böhmermann hat eine überdeutliche Demonstration dessen ausgelöst, welche verquere Selbstbild Herrn Erdogan gerade antreibt. Seine Reaktion in Bezug auf Dresden, die Niederlande oder in Genf haben ihn selbst zur Realsatire werden lassen.
Seine Verteidigung in Bezug auf seine eigene Anklage wegen Beleidigung setzt dem ganzen dann noch die Krone auf. Rund 2000 Menschen anzeigen und sich selbst mit der Meinungsfreiheit rausreden ist eine Lachnummer, die selbst ein Satiriker nicht mehr toppen könnte.
Jedenfalls hoffe ich für Europa und natürlich auch für die Türkei, dass Herr Erdogan endlich aufhört den Elefant im Porzellanladen zu spielen. Deutschland ist ein Land, dass aufgrund seiner vielen türkischstämmigen Mitbürgern eine besondere Beziehung zur Türkei hat. Ich hoffe daher inständig, dass es ihm nicht gelingt hier einen Keil zwischen uns zu treiben.
lieber stefan weber was sie nicht begreiffen wollen , es gilt gleiches recht für alle . und falls sie diese gesetze die ja offentsichtlich nach 45 geschrieben wurden grundgesetzs widrig sind ,dann müssen ja ihre „väter “ des grundgesetzes geschrieben haben entweder gepennt haben oder eine andere auffassung von freiheit gehabt haben . von deren nazi vergangenheit ganz zuschweigen .
darüber hinaus bin ich wieder verwundert woher diese anmaßende arroganz stammt ? zu wissen was gut für die türkei ist und was nicht ? haben sie dort gelebt , sprechen sie die sprache , ist ihr lebensmittelpunkt dort ?
Leuten wie ihnen reicht es ja nicht nur den leuten(minderheiten ) hier ihren wilen zur politischen interessen vertretung abzuerkennen stichwort :die haben nix zufordern .
nein in ihrem germanischen kopf wissen sie natürlich was richtig und gut für die türkei ist . es gab eine lange zeit da war erdogan nicht im amt die türkei laizisitisch ( was deutschland immer noch nicht ist ) und eine aufnahme in die eu wurde ihr verwährt .
JETZT brauchen sie die TÜRKEI und anstatt etwas nachzudenken fällt ihnen nichts besseres ein als ihren verhandlungpartner (diesmal auf augenhöhe ) zuverunglimpfen im staatsfernsehn ( das seit jahrzehnten keine migranten auf die matscheibe bringen will . )
Ich geb ihnen mal einen tipp googeln sie mal unter german arrogance und know better attitude .
und das sag ich als nicht türke oder jemand der aus dieser gegend kommt !
Es wäre Schily freigestanden, Vakit wegen Verleumdung zu verklagen. Statt dessen wandte er sich in einem Brief an seinen türkischen Amtskollegen Abdulkadir Aksu und forderte ihn mehr oder weniger unverhohlen auf, gegen die Zeitung vorzugehen. Solche „Verunglimpfungen“ seien „inakzeptabel“, heißt es in dem Brief.
Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, Martin Schulz, wurde noch deutlicher: „Die Frage ist, was sagt eine von einer moderaten, islamischen Partei geführte Regierung zu einer solchen durchgeknallten islamistischen Vereinigung, die hinter diesem Blatt steht. Hier ist der Test für die Bereitschaft der Regierung in Ankara, Radikalen und Extremisten Einhalt zu gebieten.“ Schulz forderte, „dass die Maßnahmen, die die Bundesrepublik jetzt ergriffen hat, auch von der Türkei unterstützt werden“, etwa durch strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und Redakteuren von Vakit.
@Hasan
Lieber Hasan, Herr Schilly war wohl mitverantwortlich, dass die deutsche Ausgabe der Zeitung Anadolu’da Vakit verboten wurde. Hintergrund war folgender Beitrag im Rahmen eines abgedruckten Freitagsgebets: „Alle Wesen, die an die einzig wahre göttliche Religion nicht glauben oder daran glauben, aber die Gebote nicht befolgen, sind potenzielle Quellen des Bösen. Ihr Tod kann nur eine Befreiung für alle anderen Wesen bedeuten.“
Zuvor wurde der niederländische Satiriker Theo van Gogh von islamistischen Fundamentalisten ermordet (Anmerkung: islamistische Fundamentalisten sind nicht gleichbedeutend mit Moslems!).
Ein Freitagsgebet würde ich jetzt persönlich nicht als Satire einstufen. Als Konsequenz für die Schließung dieser Zeitung wurde Schilly als Nazi tituliert und hat sich dagegen gewehrt.
Herr Böhmermann hat aber im Gegensatz dazu nicht den Tod von Menschen verhöhnt, sondern im Grunde seinen Finger in die Wunde gelegt, die bezüglich des Flüchtlings-Deals mit der Türkei entstanden ist. Zwischenzeitlich sind dort bereits 17 Menschen erschossen worden. Die Ermächtigung, welche durch das Votum der Kanzlerin erst möglich wurde, kann daher auch so gewertet werden, dass sie ein politisches Interesse daran hat, dass hier durch eine Einschüchterung der Presse keine weiteren Details verbreitet werden.
Wenn Satire nun dazu dient, um solche Misstände öffentlich zu machen, würde ich selbst die Beleidigung eines Regierungschefs eines anderen Landes als hinnehmbaren Kollateralschaden betrachten.
@derkritiker
Ich habe tatsächlich keine Ahnung davon, was sich die Menschen in der Türkei wirklich wünschen. Vielleicht haben Sie ja sogar Recht und diese Menschen wollen von der Presse belogen und manipuliert werden oder in ihrer Freiheit eingeschränkt werden. Vielleicht wollen sie sogar einen starken Führer, der ihnen das Gefühl gibt, dass ihr Land enorm wichtig sei. Ehrlich gesagt habe ich sogar das Gefühl, dass selbst in Deutschland in Bezug auf Frau Merkel aktuell so eine Situation nicht ganz auszuschließen ist.
Jedenfalls erstaunt es mich jedoch, dass Sie alleine genau wissen, was die Menschen in der Türkei bewegt und was deren Träume sind. Ok., sie kenne ja auch alle Deutschen und wissen ja auch wie die so ticken ;-)
Ich gehe davon aus, dass Sie in Deutschland leben und die Türkei von Urlauben kennen. Irgendwo leben oder dort Urlaub zu machen, ist nicht das gleiche, selbst wenn man dort Familie oder Freunde hat.
Unsere Gesetzgebung ist übrigens nicht der Koran oder die Bibel. Es ist daher bewusst so gewollt, dass diese sich an gesellschaftliche Veränderungen anpasst. Lange war z.B. selbst in Deutschland Homosexualität verboten, obwohl im Grundgesetz sexuelle Freizügigkeit gewährt wurde.
Lösen Sie sich besser von dem Gedanken, dass das Gestrige besser ist als das Zukünftige, denn das einzig Beständige ist die Veränderung. In diesem Sinne ist es ja auch nur logisch, dass der Paragraph für Majestätsbeleidigung so schnell wie möglich abgeschafft wird und mit ihm alles, was ebenfalls im Strafgesetzbuch aus dunkelen Vorzeiten übernommen wurde.
Sehr gute Analyse.
Danke.
LI
Das ist alles ein großes Missverständnis.. Der werteorienterte Normaldeutsche muss über andere Menschen lachen, weil er sie nicht loben darf.. Das käme sonst einer Selbsterniedrigung gleich.. Das ist so anerzogen.. Schadenfreude ist die schönste Freude, heißt es.. Das ist eine kulturelle Sache, wenn man/frau das so nennen möchte.. Wenn jemand nett ist, dann ist er ein Schleimer.. Wenn Du jemand magst, dann neckst Du ihn/sie.. Sag was Nettes, und Du bist ein Kriecher und Lügner.. Lob und Anerkennung zeigen gehört einfach nicht nach Deutschland.. Das bedeutet, je stärker und krasser Du jemanden herabwürdigst, desto mehr bewunderst Du ihn/sie..
Ergo: Böhmermann wollte eigentlich nur durch die Blume sagen, dass er die Aufopferungsgabe der türkischen und muslimischen Minderheit, die jahrzentelangen Schmähungen, Diskriminierungen und Erniedrigungen, der sie sich seit mindestens einem halben Jahrhundert und länger aussetzen mussten und weiterhin müssen, hoch anrechnet.. Klar ist, dass er dafür eine türkische Person als Fokussierungsobjekt wählt, der direkt nach Ibrahim Tatlises, Kemal Sunal und Adnan Menderes womöglich, der beliebteste Türke seit Langem ist.. Das ist dann nur noch konsequent..
Entweder das oder er hat die richtige Metaebene verfehlt..Das versetehe ich zumindest aus Stefan Webers Aufsätzen hier.. Vielleicht ist SW auch nur ein weiterer Internetapologet.. Anders werde ich aus seinen Widersprüchen nicht schlau..
@Cengiz K
Das mit den „Widersprüchen“ hat mich im Gegensatz zu den Vorwürfen von derkritiker in Bezug auf Arroganz dann doch schon nachdenklich gemacht. Ich möchte mich daher mal etwas einfacher ausdrücken.
Die gute Königin von Sezuan
Eine Königin lebt in einem Palast und lädt alle Menschen zu sich ein, die in Not geraten sind. Nachdem immer mehr dieser Einladung folgen, lässt sie jedoch nicht die Palastpforten schließen, sondern sie bittet jemand außerhalb ihres Reiches darum, alle an der Weiterreise zu hindern, die sich in die Richtung ihres Palastes aufmachen. Der Königin ist es nämlich sehr wichtig als gastfreundliche und herzliche Königin von ihren Untertanen und anderen Herrschern geachtet zu werden. Auch will sie keinen Notsuchenden abweisen müssen.
Der „Jemand“, der außerhalb ihres Reiches allen den Zutritt versperren soll, lebt aber auch deshalb abseits, weil er schon früher nicht immer besonders zimperlich war. Sobald jemand etwas sagt, was ihm nicht passt, lässt er ihn in den Kerker werfen oder auf andere Weise bestrafen.
Der Hofnarr der Königin trägt nun zur Belustigung und Belehrung der Untertanen eine Komödie auf, die sprachlich eher grob gestrickt ist, aber ihr Ziel durchaus nicht verfehlt. Der wilde Despot kommt sofort in Rage und erst jetzt sehen die Untertanen, von wem sich die Königin abhängig gemacht hatte.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.