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Hendrik Lammers, IBIS, Flüchtlingsberater, Psychologie, Lernförderung
Hendrik Lammers, Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt Migration und Diskriminierung © Privat, bearb. MiG

Abschiebungen trotz Traumatisierung?

Wie der Zweck die Mittel heiligen soll

Innenminister de Maizières Kritik an Attesten für Flüchtlinge erfolgte ohne belastbare Grundlage. Dabei war die Ansicht des Innenministeriums bereits ein Ausgangspunkt für Gesetzesverschärfungen im Asylpaket II.

Von Mittwoch, 22.06.2016, 20:18 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 04.03.2021, 17:02 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) berief sich bei seinen Aussagen zu angeblich ungerechtfertigt ausgestellten Attesten für geflüchtete Menschen auf ungedeckte Zahlen. De Maizière hatte in der Rheinischen Post kritisiert, Ärzten würden zu viele Atteste für Asylsuchende ausstellen, bei denen es „keine echten gesundheitlichen Abschiebehindernisse“ gebe. Er fügte an: „Es kann nicht sein, dass 70 Prozent der Männer unter 40 Jahren vor einer Abschiebung für krank und nicht transportfähig erklärt werden. Dagegen spricht jede Erfahrung“.

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Diese „Erfahrung“ brachte dem Bundesinnenminister scharfe Kritik ein. Denn auf die Frage nach den entsprechenden Zahlen, musste er einräumen, dass er keine Belege für seine Behauptungen hatte. Das Innenministerium erklärte am Freitag (17. Juni): „Bundesweite Durchschnittszahlen zu der genauen Attestquote gibt es nicht“. Allerdings sei „es richtig, dass die Bundesregierung mit dem Asylpaket II die Hürde für die Geltendmachung gesundheitlicher Abschiebehindernisse deutlich erhöht hat“.

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Misstrauen beim Thema Abschiebehindernisse

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Die Haltung des Bundesinnenministers reiht sich in einen ordnungspolitischen Diskurs ein, der von Misstrauen gegenüber geflüchteten Menschen und behandelnden Ärzten und Psychotherapeuten geprägt ist.

Dies steht in einem Zusammenhang mit Forderungen nach der Senkung von Asylantragszahlen beziehungsweise der Abschreckung der hinter diesen Zahlen stehenden Menschen. Nicht vermeintliche Gefälligkeitsgutachten waren die Grundlage für ein erklärtes Handlungserfordernis der Bundesregierung – vielmehr bildet die Abwehr und Reduzierung der Immigration von flüchtenden Menschen den Ausgang für die Suche nach Argumenten für einen restriktiveren gesetzlichen Umgang mit Fluchtmigration. Danach heiligt der Zweck die Mittel.

Vor diesem Hintergrund beschloss die Bundesregierung mit dem Asylpaket II, dass nach rechtskräftig negativem Ausgang eines Asylverfahrens psychologische Gutachten von Psychotherapeuten für die Feststellung von Abschiebehindernissen nicht mehr berücksichtigt werden dürfen. Seitdem das Gesetz mit Datum vom 16.03.2016 bestandkräftig ist, zählen nur noch Gutachten von Ärzten.

Hohe Hürden für Bleibeperspektive aufgrund von Traumatisierungen

Feststellungen von Traumatisierungen im Zuge des Asylverfahrens unterliegen großen Hürden. Nur bei „lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden“ (§ 60 Aufenthaltsgesetz), kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Zuge der Anhörung im Asylverfahren Abschiebehindernisse feststellen, die zu einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland führen. Allerdings könne laut Gesetzgeber eine derart schwerwiegende Krankheit „in Fällen von PTBS [Anm.d.Red.: Posttraumatische Belastungsstörungen] regelmäßig nicht angenommen werden„. Es sollen also auch traumatisierte Menschen, Asylsuchende mit einer PTBS, regelmäßig abgeschoben werden.

Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern die mit dem Asylpaket II eingeführten Schnellverfahren eine umfassende Prüfung von asylrechtlich relevanten gesundheitlichen Fragen überhaupt gewährleisten können. Wenn Zugänge zu gesundheitlicher Versorgung erschwert werden, unterliegt auch der Nachweis von asylrechtlich bedeutsamen Erkrankungen schwierigeren Voraussetzungen.

Einseitiger Diskurs und mangelnde Versorgung

In der Rechtspraxis und ordnungspolitischen Überlegungen wird weiterhin ausgeblendet, welche Rolle den „sozialpolitischen Traumatisierungsprozessen“ beizumessen ist. 1

Sicherheit und eine Perspektive im Ankunftsland spielen keineswegs eine untergeordnete Rolle, wenn es um den Umgang mit traumatisierenden Erlebnissen geht. Insbesondere strukturelle und institutionell eingebettete Benachteiligungen – wie der eingeschränkte Zugang zu sozialen und gesundheitlichen Leistungen, Bildung und Arbeit sowie die Unterbringung in großen Sammelunterkünften – erschweren Teilhabechancen, Autonomie und Schutz.

Die Zugänge zur Gesundheitsversorgung und therapeutischen Angeboten sind für geflüchtete Menschen mangelhaft. Es fehlt an TraumatherapeutInnen, lange Wartezeiten für Psychotherapien beziehungsweise fehlende Therapieplätze sind die Folge. Kostenübernahmen gestalten sich aufgrund von bürokratischen Hürden und Einschränkungen im  Asylbewerberleistungsgesetz oftmals als schwierig. Auch qualifizierte ÜbersetzerInnen sind schwer zu gewinnen.

Dass geflüchtete Menschen eine zehnfach so hohe Rate in Bezug auf PTBS in Relation zur allgemeinen Bevölkerung haben, verdeutlicht die Notwendigkeit Zugänge zu verbessern und Traumatisierungen auch im Rahmen von Nachfluchterfahrungen zu kontextualisieren. Dabei geht es um die Anerkennung von erlebtem Leid, bei gleichzeitiger Vermeidung paternalistischer und pathologisierender Haltungen.

  1. Becker, David (2014): Die Erfindung des Traumas. Verflochtene Geschichten. Gießen: Psychosozial-Verlag. S. 8
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