Sprachrassismus
Türkisch kommt in die Hauptschule, Englisch aufs Gymnasium
Im deutschen Bildungssystem gibt es eine Art Sprachhierarchie. Der "Wert" der türkischen oder der Sprachen aus dem arabischen Raum ist deutlich niedriger als Englisch oder Französisch. Von Rodolfo Valentino
Von Dr. Rodolfo Valentino Mittwoch, 20.07.2016, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 12.08.2016, 12:49 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
R. Kohlkampf arbeitet für eine Kreisverwaltung im kommunalen Integrationszentrum. Er ist zusammen mit seinem Kollegen I. Güngör für die Seiteneinsteigerberatung zuständig. Dort werden alle gemeldeten schulpflichtigen Kinder und Jugendliche, die im Laufe eines Schuljahres aus ihrem Heimatland ohne Deutschkenntnisse einreisen, in das hiesige deutsche Schulsystem eingegliedert. Sie sollen entsprechend ihrer mitgebrachten Kompetenzen (Bildungsbiografie) bedarfsgerecht und systemoptimiert beraten und an in Betracht kommende deutsche Schulen empfohlen werden.
Diese Arbeit gestaltet sich nicht immer einfach und oftmals verzweifeln die Beiden, wenn es darum geht, Gymnasialschülern, u.a. aus Syrien, Eritrea, Kosovo-Albanien, Rumänien, Bulgarien, usw. an deutsche Gymnasien zu vermitteln. Sie sind schnell dabei, die fehlenden Deutschkenntnisse als „Lernbehinderung“ einzustufen. Das führt dazu, dass den Kindern und Jugendlichen eine „höhere Schulbildung“ verwehrt wird.
„Es war logisch“
Das fand R. Kohlkampf lange Zeit nicht schlimm. „Es war für mich logisch und so kannte ich das aus meiner Kindheit und Jugend. Wer nicht richtig Deutsch kann, geht auf die Förder- oder Hauptschule. Klar fand ich das immer eigenartig, dass auf meinem Gymnasium zum Beispiel Engländer und Franzosen mit fehlenden Deutschkenntnissen aufgenommen wurden und sogar Stützunterricht erhielten. Türkisch galt halt als Sprache der ‚Gastarbeiter‘, nicht der Diplomaten oder Ingenieure. Daher habe ich das bis vor kurzem gar nicht hinterfragt.“
Zusammen mit seinem Kollegen I. Güngör versorgt er in letzter Zeit ganz viele Flüchtlinge, unter anderem aus Syrien, dem Libanon, aber aus vielen Balkanländern. Eigentlich haben sie einen Dolmetscherpool zur Verfügung mit Russisch, Spanisch, Englisch, Arabisch, aber es fehlen immer wieder Kurdisch, arabische Dialekte und andere Minderheitensprachen.
Es gibt eine Sprachhierarchie
Ihn überrascht es immer sehr, dass die Mehrheit der Ankömmlinge, seien sie Angehörige der Balkanstaaten, Minderheiten wie Roma und Sinti oder geflüchtete Menschen aus Syrien, Türkisch verstehen und sprechen können. Hier muss natürlich sein Kollege Ilhan, der diese Sprache noch von seinen Eltern vermittelt bekommen hat, übersetzen und beraten. Er fing an sich zu fragen, warum eine so verbreitete Sprache in den letzten 30 Jahren keinen Eingang in das deutsche Schulsystem gefunden hat, während Französisch, Englisch und andere Sprachen wie Italienisch und Russisch sehr wohl an „besseren Schulen“ gelehrt werden.
„Hier“, erklärt R. Kohlkampf, „ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass es in Deutschland eine Art Sprachhierarchie gibt, in der Englisch als Weltsprache und Französisch als Kultursprache vollständig akzeptiert werden und deren Sprecher bei fehlenden Deutschkenntnisse mit ‚Bildungs-Samthandschuhen‘ angefasst werden. Spricht hingegen jemand nur Türkisch, Arabisch oder eine andere ‚komische‘ Sprache, die in der Sozialhierarchie unten angesiedelt ist, wird dem Sprecher der Zugang zu den besseren Schulen verwehrt. Da reißen wir uns bei den örtlichen Gymnasien im Kreis ein Bein raus.“
„Sprachrassismus“
Seine Überraschung war groß, als er bei seinen Recherchen herausfand, dass Türkisch eine ziemlich verbreitete Kultursprache ist, die nicht nur Amtssprache in der Türkei ist, sondern darüber hinaus auf der Welt 70 Mio. Muttersprachler und noch mal knapp 30 Mio. Zweitsprachler zählt.
So wie R. Kohlkampf erkennen immer mehr Menschen in der deutschen Schulpolitik eine reine willkürliche Sprachpolitik. „Sprachrassismus“ nennt Roland das. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt sei in Deutschland eine soziale und politische Realität, die sich nicht mehr leugnen lasse. Das müsse auch zu einer neuen Selbstverständlichkeit in der Bildungspolitik führen, die sowohl die sprachliche als auch kulturelle Vielfalt schützt und fördert.
Ganze Generationen diskriminiert
Die fehlende Anerkennung der Mehrsprachigkeit, auch als besondere Intelligenzform, verhindere indes, dass die Kinder nur lückenhaft ihre von den Eltern mitgebrachte Familiensprache lernen und dann Deutsch nur mit großen grammatikalischen, semantischen und syntaktischen Lücken erlernen. Das habe in den letzten Jahrzehnten ganze Generationen sozial diskriminiert und segregiert.
Zu viele Neuankömmlinge landen immer noch aufgrund der fehlenden Deutschkenntnisse auf qualitativ schlechteren Schulen. „Gerade bei den Seiteneinsteigern merkt man das. Hier werden mathematisch-logische, emotionale oder (anders-)sprachliche Intelligenz gar nicht oder nur unzureichend abgefragt und berücksichtigt. Aus ökonomischer Sicht gehen der deutschen Gesellschaft in diesem Zusammenhang wichtige Humanressourcen verloren, die später der Wirtschaft als Fachkräfte und Spezialisten fehlen“, erklärt Roland. Feuilleton Leitartikel Meinung
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