55 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei
Mit dem Koffer in ein neues Leben
Nicht mit einem schweren Rucksack reiste er an, sondern mit einem Metallkoffer. Deutschland – das Amerika Europas – rief meinen Großvater Anfang der 60er Jahre aus der Türkei. Eine Geschichte über Völkerverständigung im Kleinen. Von Hakan Demir
Von Hakan Demir Dienstag, 01.11.2016, 13:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 02.11.2016, 17:42 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
„Wir konnten uns keine festen Schuhe leisten“, sagte mir mein Großvater immer, wenn er von seiner Kindheit erzählte. Sein Vater starb sehr früh und Ibrahim wuchs bei seiner Mutter zusammen mit seinen Geschwistern in einem kleinen Dorf in der Nähe von Çorum auf. Die Stadt liegt eine dreistündige Autofahrt von der Hauptstadt Ankara entfernt.
Das Anwerbeabkommen und Anfangsjahre in Deutschland
In den 1960ern war der Hunger der deutschen Wirtschaft nach Arbeitskräften noch nicht gestillt. Anwerbeabkommen gab es bereits mit Italien (1955), Griechenland und Spanien (beide: 1960). Am 30. Oktober 1961 schloss Deutschland mit der Türkei ein weiteres Abkommen. Bis 1973 kamen mehr als 800.000 Menschen aus der Türkei nach Deutschland.
Einer von ihnen war mein Großvater. Erfüllt von der Hoffnung auf ein gutes Leben hatte er sich auf den Weg nach Deutschland gemacht. Bevor er kommen konnte, wurde er auf seine körperliche Tauglichkeit untersucht wie bei einer Bundeswehrmusterung. Wenige Wochen später stieg er in einem schwarzen Anzug und einem weißen Hemd, in dessen Tasche eine rote Packung Zigaretten durchschimmerte und einem schweren Metallkoffer, in den 50-Stunden-Zug nach Deutschland.
Die Familie blieb lange in der Türkei
Ibrahim landete nach einigen Umwegen als Arbeiter in Krefeld, in einer linksrheinischen Stadt unweit von Düsseldorf. Er arbeitete auf dem Bau, trug, schaufelte und schwitzte zusammen mit seinen deutschen Kollegen, um gemeinsam den Wohlstand zu sichern. Seine Frau lebte indes mit den Kindern noch in der Türkei.
Ibrahims einzige sichere Häfen waren der Betrieb und das Arbeiterwohnheim. Ansonsten fühlte er sich wie ein kleines Boot im Sturm. Einmal verlief er sich mit seinen Kollegen. Sie trauten sich nicht, nach dem Weg zu fragen, denn keiner von ihnen sprach Deutsch. Erst am nächsten Morgen entdeckte man die kleine Gruppe, die es sich auf einer Parkbank gemütlich gemacht hatte und brachte sie zu ihrer Arbeitsstelle. Nach diesem Vorfall verließen die Männer nicht mehr die vertrauten Pfade. Meistens holten sie sich im nächsten Laden etwas zu essen, zogen sich zurück in ihre Zimmer, lasen Zeitungen aus der Heimat, hörten den warmen Klängen des türkischen Saz’ zu, den immer irgendjemand im Wohnheim spielte.
Verständnisprobleme gab es viele zwischen den deutschen und den türkeistämmigen Kollegen, aber das Zwischenmenschliche, das auf der Kommunikation von wenigen Handbewegungen und Worten basiert, funktionierte immer irgendwie. Ein deutscher Vorarbeiter nahm in dieser Zeit immer einen Hund mit zur Arbeit und Ibrahim wollte einfach ins Gespräch kommen. „Du Hund!“, sagte er zu dem Mann. Eigentlich wollte er fragen, ob der Hund ihm gehöre.
Die deutsche Sprache hat er nie richtig gelernt. Wie denn auch? Integrationskurse gibt es erst vier Jahrzehnte später. Wie aber reagierte der Vorarbeiter? Er lächelte und nickte verständnisvoll.
Ölpreiskrise und Anwerbestopp
Die Wirtschaft ist 1973 „vergleichbar mit einem Mercedes, dem das Benzin ausgeht“. Die Industrie bricht ein und die Arbeitslosigkeit steigt. Die Bundesregierung verhängt einen Anwerbestopp, der bis heute gilt. Der Anlass ist die Ölpreiskrise. Die Fluktuation ist in dieser Zeit hoch: Von 1950 bis 1973 kamen 14 Millionen Arbeitskräfte und 11 Millionen kehrten wieder in ihre Heimatländer zurück.
In dieser Zeit holte mein Großvater seine Frau und Kinder nach Deutschland. Gemeinsam zogen sie in ihre erste Wohnung. Die Zahl der „Ausländer“ stieg noch bis 1983 aufgrund der Familienzusammenführung. Die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl verabschiedete deshalb 1983 das „10.500-Mark-Gesetz“, um „Gastarbeiter“ zur Rückkehr in ihre Heimat zu bewegen. Einige nahmen das Geld an, doch viele blieben, weil sie schon längt eine neue Heimat für sich und ihre Kinder gefunden hatten.
Gewalt gegen Migranten und Rückkehr in die alte Heimat
Gewalttätige Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte und Migranten wie in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln häuften sich nach der Wiedervereinigung. Mein Großvater litt mit den Opfern und blieb wie die Politik ohnmächtig.
In den 1990er Jahren ging Ibrahim in Rente. Bis die Kinder und Enkelkinder allesamt auf die richtigen Gleise gesetzt waren, blieb er in Deutschland. Danach zog es ihn wieder in die alte Heimat, wo er mit dem erarbeiteten Verdienst in Deutschland schon längt ein Haus gekauft hatte. Weil er aus Unachtsamkeit die Sechs-Monats-Frist im Aufenthaltsgesetzt verstreichen ließ, erlosch seine Aufenthaltserlaubnis. Jetzt muss er mit einem Touristenvisum in das Land kommen, in dem er einen Großteil seines Lebens verbracht hat. Das schmerzt.
Dennoch: Deutschland bleibt Zeit seines Lebens – und trotz der Herausforderungen, die es damals und heute noch in der Teilhabepolitik gibt – eine weitere Heimat, für die er immer dankbar war. Aktuell Feuilleton
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