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Ein Gespräch mit Ute Schaeffer

„Ich kenne die Kehrseite europäischer Flüchtlings- und Abgrenzungspolitik“

Afghanistan, Elfenbeinküste, Iran, Guinea, Sierra Leone, Somalia, Syrien, Tschetschenien – aus diesen Ländern sind die Jugendlichen geflohen, deren Geschichte Ute Schaeffer in ihrem Buch "Einfach nur weg" erzählt. Juliane Pfordte sprach mit ihr.

Von Freitag, 02.12.2016, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 11.01.2017, 9:22 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Laut dem „Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ leben derzeit etwa 52.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche ohne Eltern in Deutschland. In Ihrem Buch lassen Sie zwölf von ihnen zu Wort kommen. Warum war es Ihnen wichtig, dieses Buch zu schreiben?

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Ute Schaeffer: Durch meine Recherchen in den Jahren zuvor für die Deutsche Welle – unter anderem im Nahen Osten und Nordafrika – kannte ich die Kehrseite europäischer Flüchtlings- und Abgrenzungspolitik: die extreme Armut in Flüchtlingslagern in Marokko, Uganda oder im Kongo, und die Gewalt der Schleuser. Für mich war und ist es völlig unverständlich, dass wir in Deutschland so lange der Auffassung waren, dass uns diese Probleme nicht betreffen. Und es war mir ein journalistisches Anliegen, zu zeigen, dass die Entwicklungen dort direkt etwas mit Deutschland zu tun haben. Als dann 2015 plötzlich knapp eine Million Flüchtlinge zu uns nach Deutschland kamen, wurde überwiegend das Bild einer anonymen Masse gezeichnet: „Flüchtlingswelle“, „Flüchtlingsstrom“, „Flüchtlingskrise“. „Wann schieben wir ab?“, „Wie schieben wir ab?“, „Ist Afghanistan ein sicheres Herkunftsland?“ Die Betrachtung des Einzelnen ging verloren. Dabei ist Flucht immer ein individuelles Schicksal. Diese Lücke wollte ich schließen und den Blick öffnen für das Schicksal jedes Einzelnen. Auch wenn Menschen aus ein und demselben Land kommen, haben sie nicht dieselben Fluchtgründe. Flüchtlingsschutz heißt, sich diese Geschichten anzuhören und sich zuzumuten. Das Buch ist somit auch ein Plädoyer für die individuelle Prüfung jedes einzelnen Schicksals, wozu wir laut Asylgesetz verpflichtet sind.

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Warum haben Sie die Perspektive der Kinder gewählt?

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Schaeffer: Als Journalistin interessiert mich vor allem der Perspektivwechsel. Die Protagonisten meines Buchs sind Kinder und Jugendliche. Die haben zunächst keine Agenda, was ich sehr interessant finde. Hinter ihrer Entscheidung zu gehen, steckt noch nicht der ganz große Lebensplan. Sie entscheiden aus einer existenziellen Situation, zum Beispiel wenn sie ihre Eltern verloren haben oder von ihren Eltern nach Deutschland geschickt werden, um später die Familie nachzuholen. Sie suchen oft nach einer Perspektive, ohne zu wissen, was auf sie zukommt. Sie wollen „Einfach nur weg!“.

… so wie es der Titel des Buches nahelegt. Welches Deutschlandbild ist Ihnen in den Gesprächen mit den Kindern und Jugendlichen begegnet?

Schaeffer: Keins oder ein verzerrtes. Deutschland stand für viele erst einmal für Sicherheit, für Ruhe. Aber dieses Bild war verzerrt, zum Beispiel durch die Vorstellung, dass man ein Begrüßungsgeld in Höhe von mehreren Tausend Euro erhält. Solche Informationen verbreiten sich über soziale Medien und die Schleuser, die sie instrumentalisieren. Oft blenden die Jugendlichen völlig aus, dass man zunächst einmal die Sprache lernen muss, und dass das sehr aufwendig und schwierig sein kann. Sie denken, man habe hier sofort Arbeit, eine Wohnung und könne innerhalb weniger Monate die ganze Familie nachholen. Keiner dieser Jugendlichen hat sich gefragt, ob Deutschland das überhaupt leisten kann und will.

Wie hat sich dieses Bild nach ihrer Ankunft verändert?

Schaeffer: Die meisten von ihnen haben unterschätzt, wie lang der Weg kultureller Annäherung und Integration ist. Als ich nach vier Monaten mit ihnen sprach, sagten sie: „Deutschland ist nicht leicht zu verstehen“; „Deutschland ist wahnsinnig kompliziert“; „Deutschland hat nicht immer und überall offene Türen.“ Die 21-Jährige alleinerziehende Mutter aus der Elfenbeinküste zum Beispiel hat auch nach vier Jahren in Deutschland noch immer keine deutsche Freundin. Sie hat mit deutschen Frauen wenige Themen gemeinsam. Auch Ahmed aus Somalia, der seit fünf Jahren in Deutschland lebt und arbeitet, hat vor kurzem eine Somalierin geheiratet und verbringt viel Zeit mit seinen somalischen Freunden.

Als Medienvertreterin kennen Sie auch die journalistischen Herausforderungen im Umgang mit dem Thema. „Flüchtling“, „Geflüchtete“, „Migrant“ – Welche Rolle spielt die Sprache in der aktuellen öffentlichen Debatte um Flucht und Migration?

Schaeffer: Sprache spielt eine sehr große Rolle, weil sie eine bestimmte Haltung hervorruft. Wer in diesen Tagen das Wort „Flüchtling“ hört, denkt vor allem an den 22-jährigen terrorverdächtigen Syrer, der sich in seiner Gefängniszelle in Leipzig erhängt hat. Vielleicht denkt der eine oder andere auch an die Übergriffe der Silvesternacht in Köln. Und auch der inflationäre Begriff der „Flüchtlingskrise“ ist unpräzise und nichtssagend. Die Frage, wie wir über solche Vorfälle berichten und welche Begriffe wir wählen, ist entscheidend für unsere Wahrnehmung der Flüchtlinge.

Die meisten Bilder vermitteln: Von Flüchtlingen geht eine Gefahr aus. Sie halten sich nicht an Regeln, und wir sind damit ordnungspolitisch überfordert. Das zentriert unser Denken vollkommen auf den Flüchtling als Problem und als Sicherheitsrisiko. Und es verhindert, die richtigen Fragen zu stellen, zum Beispiel mit Blick darauf, auf welche Weise Integration wirklich gelingen kann. Die in sozialen Medien massenhaft geteilten Schreckensbilder bilden nicht das ab, was ist.

Wie sollten Medien berichten, um der Komplexität des Themas gerecht zu werden?

Schaeffer: Es liegt in der Verantwortung von Journalisten, auch die anderen Geschichten zu erzählen, zum Beispiel über den Ehrenamtlichen und wie schwierig es ist durchzuhalten, oder über den Preis, den Jugendhilfe hat. Es ist wichtig, zu beobachten, nah an den Einzelnen heranzutreten, genau zu beschreiben und zu differenzieren. Das ist unser journalistischer Auftrag und der wird bei diesem Thema sehr oft nicht gemacht. Als Journalist muss man sich klarmachen, was man eigentlich ergründen will, bis dahin vorstoßen und nicht nur an der Oberfläche kratzen. Natürlich ist die Berichterstattung auch von Aktualität geprägt, die immer mehr vom Selben reproduziert. Was mir fehlt, sind Langzeitrecherchen.

Auf einer längeren Recherche beruht auch ihr Buch: Sie haben die Jugendlichen ein halbes Jahr lang begleitet. Welche der Geschichten hat Sie am meisten bewegt?

Schaeffer: Das ist schwer zu sagen. Am meisten bewegen mich die Geschichten, die mich ratlos machen, vor allem die der Mädchen. Sie sind Opfer von Frauenhandel und brutaler Gewalt geworden, nicht nur in ihrem Heimatland, auch während der Flucht und manchmal auch im Ankunftsland in Europa. Es sind die vielen Geschichten in den Geschichten, die mich bewegen – von der menschenverachtenden Behandlung während der Flucht im Kriegsland Libyen, von entkräfteten Menschen, die dort einfach zurückgelassen und wie Vieh von den Schleusern behandelt werden. Es sind Geschichten wie die der 21-jährigen Yamina, die höchst traumatisiert ist und ihr Schicksal vermutlich nie überwinden wird. Mich bewegt aber auch die Resilienz, die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit all der Menschen, die es bis hierhin geschafft haben. Und gleichzeitig erschrickt mich die Vorstellung, wie viele Menschen diesen gefährlichen Weg nicht geschafft haben, weil sie auf der Flucht starben.

Im Buch schreiben Sie, „dass gute vorausschauende Flüchtlingspolitik mit guter vorausschauender Außenpolitik beginnt“. Was heißt das konkret?

Schaeffer: Vorausschauend heißt für mich: die Flüchtlingskrisen von morgen heute schon politisch wahrzunehmen und entwicklungs- und außenpolitisch zu begleiten, zum Beispiel den Zusammenschluss der Terrorgruppen von Ost- und Westafrika, der ganz sicher in den kommenden Jahren noch mehr Menschen vertreiben wird. Im Allgemeinen ist oft von „Fluchtursachenbekämpfung“ die Rede. Das bedeutet, die Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und Partizipation in diesen Ländern zu stärken und für Sicherheit zu sorgen. Es heißt auch, stärker über Regionen als über Länder nachzudenken, denn Fluchtbewegungen finden länderübergreifend statt. Die Flüchtlingskatastrophe im letzten Jahr war absehbar, auch in ihrer Dimension. Wir hätten sie im vorhinein fast berechnen können. Werfen wir einen Blick auf die Flüchtlingsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent: Wir wissen, wie viele Menschen zum Beispiel von Somalia nach Uganda geflohen sind. Schon vor sechs Jahren war absehbar, dass sich die Situation in Nigeria zu einer Vertreibungs- und Terrorpolitik entwickeln würde. Trotzdem haben wir dieses Thema viel zu spät entwicklungspolitisch besetzt, auch wenn ich glaube, dass durch die Krise im letzten Jahr bereits ein Umdenken eingesetzt hat.

Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik?

Schaeffer: Sie ist Teil dieser vorausschauenden Flüchtlingspolitik. Mittlerorganisationen wie das ifa oder der deutsche Auslandssender Deutsche Welle sorgen im Voraus dafür, dass sich Menschen begegnen, sich verständigen, sich kennenlernen. Nur wenn ich den Anderen verstehe und seine Situation kenne, kann ich geeignete politische Maßnahmen entwickeln. Es ist zudem wichtig, nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für die Ankunftsgesellschaften zu arbeiten, also auch in Ländern wie dem Libanon, wo aktuell jeder vierte Einwohner ein Flüchtling ist. Das leisten diese Organisationen. Es ist wichtig, geflüchtete Menschen erst einmal selbst zu Wort kommen zu lassen und ihnen eine Stimme zu geben, bevor wir eine Meinung über sie entwickeln. Darauf sollte Kulturarbeit bauen. Sie sollte sich aber auch mehr Kontroverse trauen.

Haben Sie hierfür ein Beispiel?

Schaeffer: Wir müssen uns auch mal streiten. Und eine Kontroverse, der wir in Deutschland gerade aus dem Weg gehen, lautet: Wie sieht eigentlich unsere Gesellschaftsordnung aus, wenn all diese Menschen bleiben? Ich glaube nicht an die Willkommenskultur, sie reicht nicht aus. Willkommen ist schön, aber nach ein paar Wochen wieder vorbei. Die wichtige Frage ist doch: Wie sieht Integration für diejenigen aus, die bleiben? Diese Frage betrifft unsere eigenen Werte und auch die Frage, wie liberal unsere Gesellschaft ist, welche Lebens- und Rollenmodelle wir akzeptieren. Die Kinder und Jugendlichen in meinem Buch haben zum Beispiel eine völlig andere Vorstellung von Familie, von Partnerschaft, von Freundschaft. Mit ihnen kommen mitunter sehr konservative Modelle in unsere Gesellschaft. Wir müssen genau wissen, wer kommt und welche Integration wir wollen. So unterschiedlich all diese Menschen sind, so unterschiedlich muss auch unsere Integrationsleistung sein. Darauf machen die Geschichten im Buch aufmerksam.

Und noch eine persönliche Frage: Was war Ihre größte Herausforderung während der Recherchen an diesem Buch?

Schaeffer: Nichts auszulassen und sich auf die zum Teil sehr verwobenen, wirren Erzählungen einzulassen. Es waren ja keine journalistischen Interviews, sondern Zuhörinterviews. Ich erinnere mich zum Beispiel an eines der Mädchen, das anfing, ohne Unterbrechung zu erzählen – vier Stunden lang, ohne dass ich überhaupt eine Frage gestellt hatte. Ich habe mich oft gefragt: Habe ich die Geschichten richtig verstanden? Fehlt etwas? In Fällen, in denen ich mir unsicher war, habe ich die Texte vom Vormund gegenlesen lassen. Und über Nachrichtenquellen, Agenturen hatte ich eine Art zweiten Kanal, um die Schilderungen zu verifizieren und Fakten zu recherchieren.

Zwölf Geschichten , zwölf Schicksale, die dem komplexen Thema Flucht ein Gesicht geben. Vielen Dank dafür – und für das Gespräch! Aktuell Feuilleton Interview

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