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Roman Lietz © privat, bearb. MiG

Bundestagswahl

Don´t believe the hype

Im kommenden Jahr sind Bundestagswahlen. Wenn 1992 das Wahlkampfmantra von Bill Clintons Chefberater James Carville „It´s the Economy, stupid!” lautete, so scheint es in Deutschland heute „It´s the Integration, stupid!“ heißen zu müssen. Dabei gibt es drei andere Themen, die viel dringlicher sind.

Von Roman Lietz Dienstag, 13.12.2016, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 14.12.2016, 21:51 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Ach, was waren das für Zeiten. Damals, in den 90ern und frühen 00er-Jahren. Als die politische Agenda bestimmt war durch die Wiedervereinigung, den Golfkrieg, Schwarzkonten, den Kosovo-Krieg, die Einführung des Euro, die Abschaffung der Wehrpflicht und Reduzierung der Arbeitslosigkeit. Ja, auch damals ging es schon gelegentlich um Integrationsthemen: Den Asylkompromiss, Anschläge auf Flüchtlingsheime, den Fall „Mehmet“ oder Fachkräfteanwerbung – Stichwort: „Kinder statt Inder“. Doch „Integration“ beschäftigte vor allem, nur die, die damit unmittelbar zu tun hatten, und die Themen füllten nur gelegentlich die Talkshows und Stammtische und waren somit nur eine Randnotiz im Wahlkampf.

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Und heute? In einer Zeit, in der populäre Sachbücher die gleiche hysterische Emotionalität auslösen wie damals höchstens der neue Harry Potter, sind wir ständig dem Integrationskomplex ausgesetzt: „Flüchtlinge“, „Migranten“, „Islam“ und – auch das gehört dazu – „Xenophobie“. Kaum eine politische Debatte kommt ohne diese Themen aus. Integrationsfragen treiben die AFD-Wähler an die Urne und sie entzweien die Unionsparteien. Selbst in Internetforen, in denen es eigentlich um ganz andere Themen geht, braucht man häufig nicht einmal beide Hände, um den ersten Kommentar zu zählen, der sich mit Integration befasst („Danke, Merkel!“).

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Die Öffentlichkeit treibt die Politik an, sich mit Integrationsthemen profilieren zu wollen

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Dadurch wird das Thema noch mehr in der Öffentlichkeit verankert. Sehr wahrscheinlich wird „Integration“ das große Thema für den kommenden Bundestagswahlkampf sein. Es scheint so, als wäre „Integration“ die große Herausforderung, die es zu meistern gilt, um Frieden und Wohlstand zu erhalten. Zu Recht? Nein. Ich biete Ihnen drei Themen an, die dringlicher sind:

1. Wohnen

Schon 2010 zahlten Städter durchschnittlich 35% ihres Einkommens für Miete. Maßnahmen wie die Mietpreisbremse halten den Trend bislang nicht auf und die Mietkosten steigen weiterhin drastisch schneller als die Einkommen. Gerade für junge Familien wird es immer schwerer, bezahlbaren Wohnraum – egal ob zur Miete oder als Eigentum – in Stadtnähe und in angemessener Größe zu finden. In der Konsequenz hat man die Wahl zwischen (a) keine Familie gründen, (b) nicht in Stadtnähe wohnen oder (c) an die finanziellen Belastungsgrenzen gehen. Im Interesse von Frieden und Wohlstand brauchen wir Lösungen, damit niedrige und mittlere Einkommensgruppen nicht weiter abgehängt werden.

2. Energie

Bei Tag und bei Nacht sind wir Energiefresser. Und wir wissen genau, dass (a) fossile Energiequellen endlich und (b) nukleare Energiequellen tickende Zeitbomben sind, deren Abfallentsorgung auch noch ganz und gar nicht gelöst ist. Dennoch etablieren wir nachhaltige und erneuerbare Energien nur sehr träge. Die Energiepreise steigen seit Jahren und teure und umweltschädliche Energie gefährdet Frieden und Wohlstand. Wir brauchen so schnell wie möglich langfristige Lösungen.

3. Rente

Norbert Blüms Ausspruch: „Die Rente ist sicher“ ist längt ein geflügeltes Wort geworden. Und natürlich ist sie es nicht und natürlich ist das auch Politikern bekannt. Somit schlage ich hier kein neues Thema vor (mit den Themen „Wohnen“ und „Energie“ übrigens auch nicht). Die Probleme mit dem Generationenvertrag sind längst bekannt und immer mehr Rentner sind auf Grundsicherung angewiesen. Da schwant der Generation der Mittdreißiger und Jüngeren, dass am Ende nicht alles gut wird. Längst sind wir darauf eingeschossen, privat vorsorgen zu müssen. Mit Finanzprodukten, die kaum Rendite bringen und mit Immobilien, die wir uns nicht leisten können. Wir wollen auch noch in 40 Jahren in Frieden und Wohlstand leben, auch wenn wir heute nur zu den mittleren und niedrigen Einkommensgruppen gehören.

Die Wahlkampfprogramme sind hoffentlich noch nicht geschrieben

Nicht die „Integration“, die ständig wie die Sau durchs Dorf gejagt wird, sondern die Themen „Wohnen“, „Energie“ und „Rente“ sind die größeren Herausforderungen. Bei diesen Themen sollten wir Lösungen von den Parteien fordern, so dass sich diese sich darauf konzentrieren können, statt alles auf die „Integrationskarte“ (oder – je nach Partei – „Ausgrenzungskarte“) zu setzen.

Natürlich scheint es paradox, dass ein Integrationswissenschaftler in einem ausgewiesenen Integrations-Blog den „Integrationskomplex“ kleinredet und die Themen „Wohnen“, „Energie“ und „Rente“ auf die Agenda setzen möchte. Das heißt auch nicht, dass alle „Integrationsfragen“ geklärt sind. Aber mehr Bedacht, Sachlichkeit und eine gesunde Einordnung des Themas „Integration“ in den Gesamtkontext würde Wählern und Parteien gut tun und den eigentlichen Integrations-Akteuren endlich mal die Ruhe gönnen, um zu arbeiten.

Sind Sie anderer Meinung und würden stattdessen gerne andere als die hier genannten Themen auf der Agenda sehen? Schreiben Sie dies gerne in die Kommentare.

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  1. Kathrin Uhlig sagt:

    Danke, Roman, sehr gut! Und ein Vorankommen in den drei Themen dürfte die Integration auch erleichtern.

  2. aloo masala sagt:

    Die Themen, die hier augelistet werden, sind wie das Thema Integration lediglich Symptome eines tieferliegenden Problems.

    Das tieferliegende Problem ist das Zusammenspiel wirtschaftlicher und politischer Eliten, kurz, das neoliberale System. Das wurde kürzlich durch den Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung bestätigt:

    „Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung von einer großen Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen unterstützt wird.“

    Die Rede war demnach von einer „Krise der Repräsentation“. So hieß es: „Personen mit geringerem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.“

    Diese Sätze standen in der ursprünglichen Fassung des Armuts- und Reichtumsberichts. Die Bundesregierung hat kritische Passagen gestrichen. Das heißt, der neoliberale Kurs, soll nicht zur Diskussion gestellt, sondern wie gehabt fortgesetzt werden.

    Die Auswirkungen dieses neoliberalen Kurses soziale Schieflagen, Renten, Mieten, Energiepreise aber auch Fremdenfeindlichkeit.

    Das Schlimme ist, dass sich die Wut der Menschen über dieses sozial ungerechte System nicht gegenüber deren Urhebern äußert, sondern gegenüber Flüchtlingen und muslimischen Einwanderern.

    An erster Stelle sollte also dafür gelämpft werden, dass die Belange Menschen in diesem Land und nicht die Belange der Eliten repräsentiert werden.