Zur Bertelsmann-Studie
Kein Abschied von der Willkommenskultur, sondern „Willkommensrealismus“
Aus der jüngsten Bertelsmann-Studie über die Willkommenskultur haben Medien überwiegend die zurückgehende Aufnahmebereitschaft hervorgehoben. Dass die Bürger weiterhin und mehrheitlich Flüchtlinge in Deutschland weiter willkommen heißen, ging dabei unter. Von Ulrich Kober
Von Ulrich Kober Mittwoch, 12.04.2017, 4:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 18.04.2017, 17:44 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
„Willkommenskultur auf der Kippe“, „Willkommenskultur, das war einmal“, „Abschied vom Willkommen“– so kommentieren einige nationale Medien die jüngste Studie der Bertelsmann Stiftung zur Willkommenskultur. Dafür wird vor allem der Befund herangezogen, dass jetzt eine knappe Mehrheit von 54 Prozent gegenüber 40 Prozent der Befragten Anfang 2015 sagt, Deutschland habe die Belastungsgrenzen bei der Aufnahme von Flüchtlingen erreicht. Das greifen vor allem auch internationale Medien auf: „We cannot take in any more refugees, say most Germans“, titelt der Irish Independent und ähnlich die britischen Daily Telegraph, Daily Express oder die türkische Daily Sabah.
Die zurückgehende Aufnahmebereitschaft überrascht allerdings nicht wirklich. Schließlich hat Deutschland seit Januar 2015, als die Frage zur Aufnahmebereitschaft zum ersten Mal gestellt wurde, in den letzten beiden Jahren 1,2 Mio. Asylsuchende und damit die weitaus meisten Flüchtlinge aufgenommen, die nach Europa gekommen sind. Andere Länder in der EU haben sich zurückgehalten. Auch dieser Kontext ist wichtig, um das Antwortverhalten richtig einzuordnen. Denn 81 Prozent in Deutschland wünschen sich zugleich mehr Fairness bei der Verteilung der Flüchtlinge.
Erstaunlicher als die gedämpfte Bereitschaft, in gleichem Umfang wie 2015/16 Flüchtlinge aufzunehmen, ist vielmehr, dass die Bürger weiter mehrheitlich der Auffassung sind, Einwanderer und Flüchtlinge seien in Deutschland willkommen – sowohl in der Bevölkerung als auch bei den staatlichen Stellen vor Ort in den Kommunen. Von einer Abkehr von der Willkommenskultur kann also – mit Ausnahme der wahrgenommenen Offenheit der Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen im Osten – keine Rede sein.
Im Gegenteil: Die noch junge Willkommenskultur in Deutschland erweist sich als robust, vor allem auch, wenn man weitere – in den Medien kaum rezipierte – Befunde der Umfrage in den Blick nimmt. Willkommenskultur bedeutet eine Haltung der Offenheit gegenüber Migranten, die auf ihre gesellschaftliche Teilhabe zielt. Hier sind die Befragten sehr klar: Teilhabe von Migranten und Flüchtlingen wird ausdrücklich gewünscht. Weniger als ein Viertel betrachtet 2017 wie 2015 Flüchtlinge als „Gäste auf Zeit“, die nicht integriert werden sollten. Dagegen sagen über 80 Prozent 2017 wie 2015, Flüchtlinge sollen zügig arbeiten können.
Als Voraussetzung für das Willkommensein von Einwanderern in Deutschland halten die Befragten Integrationsanstrengungen seitens der Neuankömmlinge für nötig wie Deutschlernen, Anerkennung des Grundgesetzes und Bemühungen um ein gutes Zusammenleben mit Deutschen. Aber es werden auch Barrieren für Integration in der Aufnahmegesellschaft gesehen: Zwei Drittel sind der Ansicht, es herrsche keine Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und rund 60 Prozent nehmen Diskriminierung der Migranten aufgrund ihrer Herkunft als Integrationshindernis wahr. Es wird auch anerkannt, dass Migranten in vielen gesellschaftlichen Feldern nicht ausreichend vorkommen: Nur ein Drittel und weniger finden, dass Menschen nichtdeutscher Herkunft angemessen in der Polizei (34 Prozent), in den Kitas als Erzieher (33 Prozent), in den Schulen als Lehrer (30 Prozent) oder in den Ämtern (26 Prozent) vertreten sind. Hier werden deutliche Teilhabedefizite in der Gesellschaft ausgemacht.
In der Zusammenschau dieser Ergebnisse wird bei den Befragten ein Konzept von Integration deutlich, dass nicht einseitig auf Anpassung der Einwanderer setzt, sondern – ganz im Sinne der EU-Grundprinzipien zur Integration von 2004 – als ein dynamischer Prozess des gegenseitigen Entgegenkommens von Eingewanderten und Einheimischen verstanden wird. Das aber ist der Kern von Willkommenskultur: keine „grenzenlose“ Offenheit gegenüber allen, die kommen wollen, sondern die Bereitschaft, den Neuankömmlingen Teilhabe zu ermöglichen.
Willkommenskultur in diesem Sinne ist voraussetzungsreich, sowohl was das Wollen, als auch was das Können angeht – im Blick auf Neuankömmlinge wie Einheimische. Es geht um beidseitigen Integrationswillen und es geht um reale Integrationsmöglichkeiten. Viele Befragte befürchten nach der Aufnahme von so vielen Asylsuchenden in so kurzer Zeit, dass diese Möglichkeiten begrenzt sind. Darin liegt weniger eine Abkehr von der Willkommenskultur, sondern ein „Willkommensrealismus“. Dieser ist notwendig, um in Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft alle Kräfte für Integration und Zusammenhalt zu mobilisieren! Aktuell Meinung
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