Perspektivwechsel
Wie Menschen in die Ideologie weißer Überlegenheit hinein sozialisiert werden
Wenn wir jemandem auf den Fuß treten, dann entschuldigen wir uns und gehen runter, oder? Manchmal sind Entschuldigung und Runtergehen schwer aber machbar. Von Annette Kübler
Von Annette Kübler Montag, 24.04.2017, 4:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 27.04.2017, 10:51 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Gelernt habe ich viel von Menschen, die mich darauf aufmerksam machten, dass ich auf ihrem Fuß stand. Gelernt habe ich vom Streit hierzulande über das „wir“: wer legitimerweise zum „wir“ dazugehört und wessen Zugehörigkeit tagtäglich infrage gestellt wird. Besorgt vom Anwachsen rechtsnationaler Parteien möchte ich dazu beitragen, mit der Angst vor Privilegienverlust konstruktiver umzugehen und sich rassistischen Denkmustern kompetenter entgegenzustellen.
Manchmal treten wir anderen Menschen auf den Fuß und merken es gar nicht. Oder wir wollen nicht darauf hören, wenn wir aufmerksam gemacht werden. Manchmal sind wir die, auf deren Fuß getrampelt wird, die sich Gehör verschaffen wollen. Die Perspektive ist eine andere – je nachdem ob mein Fuß oben oder unten ist. Dafür streiten, dass weniger getrampelt wird – das ist mein beruflicher Schwerpunkt. Neben der Selbstreflexion ist mir das Erkennen des Fuß-Trampelns durch Verstrickungen in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse wichtig.
Der Begriff Weiß bezieht sich nicht auf die Hautfarbe, sondern beschreibt eine sozial-historische Position. Weiß ist eine Konstruktion und wurde im Kolonialismus als Norm etabliert mit dem Ziel, Privilegien der eigenen Gruppe und Rassismus zu legitimieren. Um den Konstruktionscharakter der Kategorie weiß hervorzuheben, schreibe ich es kursiv.
Dieser Artikel handelt hauptsächlich von der Diskriminierungsform Rassismus, ein Begriff sehr unterschiedlich verstanden wird. Das Reden über Rassismus wird oft darauf begrenzt, moralisch böse Individuen zu identifizieren und einzelne verwerfliche Handlungen zu bestrafen. Viele gutwillige weiße Menschen sind v.a. darum bemüht, sich ‚nichts zuschulden kommen zu lassen’. „Bin ich denn böse, nur weil ich weiß bin? Ich bin doch nicht schuld daran“, wird oft gefragt. Ja, es geht nicht um Schuld, sondern um Verantwortung.
Die Tradition der Rassismuskritik, aus der ich komme, ist von einem anderen Rassismusverständnis geprägt: Es geht ihr nicht um das außergewöhnlich Böse, sondern um den Alltag, um die Analyse gesellschaftlicher Norm-Setzungen. Es geht nicht um komische Reaktionen auf angeblich „Fremdes“, sondern um Herrschaftsverhältnisse, nicht um die Intention, sondern um die Wirkung.
Der Begriff Schwarz ist eine politische Selbstbezeichnung und meint nicht die Hautfarbe. Er wurde in den 1960er Jahren durch die Black Power-Bewegungen in den USA geprägt, um solidarische Bündnisse zwischen Menschen, die von alltäglichem, strukturellem und institutionellem Rassismus betroffen sind, zu stärken.
In meinem Lernen half mir die Metapher „jemandem auf den Fuß treten“, um eine andere Perspektive zu akzeptieren, neue Chancen zu sehen und Handlungsweisen zu entwickeln. Szenisch vorgestellt: Wenn eine Person sagt, „Du stehst auf meinem Fuß, das tut mir weh, bitte gehe herunter“, dann gehen wir herunter und entschuldigen uns. Wenn aber eine Schwarze Person auf Rassismus hinweist und sagt, „Das tut mir weh“ erhält sie meist zur Antwort, „Aber ich merke gar nichts, ich mache das schon immer so. Das kann kein Rassismus sein, weil ich es nicht böse meine.“
PoC (People of Color) ist eine selbst gewählte Bezeichnung von Menschen, die sich als nicht-weiß definieren. Was PoC verbindet, sind geteilte Rassismuserfahrungen, Ausgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft und kollektive Zuschreibungen des „Andersseins“. In weiß dominierten Gesellschaften sind nicht-weiße Menschen seit der Kolonialzeit von Rassismus und Diskriminierung betroffen – bis heute.
Diese Erfahrung machen People of Color regelmäßig. Weiße negieren die Erfahrung von Stigmatisierung oder Diskriminierung, im Bild gesprochen: Sie merken nicht, was sie tun und bleiben auf dem Fuß stehen. Sie haben es ja „gut gemeint“. Menschen, die vom Rassismus privilegiert werden, sehen nicht, dass sie rassistische Erfahrungen verursachen. Sie haben und nutzen die Macht, zu definieren, was sie als Rassismus anerkennen und was nicht – und wissen oft nicht einmal, dass sie ihre Macht nutzen.
Viele möchten in ‘Happyland’ bleiben. So nennt Tupoka Ogette den Zustand, in dem weiße Menschen leben, bevor sie sich aktiv und bewusst mit Rassismus beschäftigen. „Happyland ist ein Ort, an dem Menschen verletzt und entwürdigt werden, wo Menschen Privilegien auf Kosten anderer Menschen genießen, und das meistens komplett unbewusst, oft mit einem Lächeln im Gesicht und wirklich guten Intentionen.“
Es lohnt sich hinzusehen, wie Menschen in die Ideologie weißer Überlegenheit hinein sozialisiert werden, was gelehrt wird in Kinderbüchern, in Schule, all die Einseitigkeit und Ignoranz, dass Europa entwickelter ist, dass hier Menschenrechte gelten. Wichtig für kritische weiße Menschen: auch wer gegen Rassismus ist, ist weiterhin Teil der Strukturen – struktureller Rassismus macht mit allen etwas – manche werden benachteiligt, manche privilegiert. Die Erwähnung von Privilegien löst oft Widerstand aus, doch vom Weggucken verschwindet Rassismus nicht.
Was tun?
„Weiße Leute, niemand bittet euch, euch für eure Vorfahren zu entschuldigen. Wir fordern, die Systeme, die sie aufgebaut haben, die ihr pflegt und von denen ihr profitiert, zu demontieren.“
Was sind die Systeme, die demontiert werden sollen? Sie umfassen zum Beispiel die „Ordnung“, dass in Europa Privilegien fraglos vorhanden sind, die anderen Teilen der Welt fraglos nicht zukommen. Sie umfassen rassistische Bilder von Schwarzen Männern als barbarisch, Stichwort Köln – ein alter Mechanismus, um das eigene Patriarchat zu stabilisieren. Sie umfassen illegitime Mauern rund um Europa – und Rassismus hilft, dieses gewaltvolle System schön zu reden – auch den Gegensatz zwischen dem Selbstbild Europas als Hort der Menschenrechte und der brutalen Grenzpolitik, die Menschen ins Meer und in den Tod treibt. Rassistische Deutungen der Welt schützen Privilegien und legitimieren Herrschaftsverhältnisse – für einen besseren Schlaf. Sie legitimierten damals kolonialen Eroberungen, die als Missionen zu Zivilisierung und zur Emanzipation von Frauen verkauft wurden – und legitimieren bis heute.
Die Systeme umfassen auch die Vorstellung, wer legitimer weise zu Deutschland dazugehört und wessen Zugehörigkeit tagtäglich infrage gestellt wird. Grenzziehungen zwischen „wir“ und „ihr“ schwingen mit in der scheinbar nett gemeinten Frage „Wo kommst du her?“
Mutlu Ergün bringt es auf den Punkt: „Was meint der gemeine Teutone mit dieser Begrüßungsformel: Wo kommst du her? Hinter dieser Frage verbirgt sich kein wohlmeinendes Interesse. Um die germanische Denkweise zu veranschaulichen, verwende ich den neanderthalischen Satzbau: ‚Wo kommst du her‘ bedeutet: ‚Du nicht sein weiß. Weil du nicht weiß, du nicht sein kannst deutsch. Also: Wo kommst du her? Ich sein weiß, ich schon vorher hier, du gekommen später. Weil ich schon vorher hier, ich mehr Rechte.‘“
Rassismuskritisches Wissen birgt wertvolle Handlungsperspektiven, die Auseinandersetzung damit lohnt gerade jetzt, um dem Anstieg rechtsnationaler Parteien Paroli bieten zu können. Der populistische Ruf nach „guten alten Zeiten“ meint nämlich auch die Zeit, in der Europa sich noch als Nabel der Welt inszenieren und den Widerspruch übertönen konnte. In einem brillanten Essay zeigt Toni Morrison wie die Angst, weiße Privilegien zu verlieren, benutzt wird und auch zur Wahl von Trump führte. Sie schreibt, es sei schwer, die die Bequemlichkeit des „ich bin von Natur aus besser als“ aufzugeben.
Was tun?
Abschließend zwei Tipps für Videoclips als kreative Beispiele, wie rassismuskritische Räume erweitert werden können: den Menschen, auf deren Füßen getrampelt wird, zu hören.
First we need to listen! Zwei Frauen aus Australien, eine weiß, eine Schwarz, sprechen über die Invasion und Gewalt, bis heute. Sie zeigen, was es bedeuten könnte zuzuhören, um zu beginnen, den Schmerz zu verstehen.
Do your research! US-amerikanische Muslime fordern in diesem Poetry Slam, die eigentlichen Bedeutung von Worten wieder anzuerkennen: „Islam ist kein Synonym für Terror. Islam heißt wortwörtlich Ehrerbietung. Es heißt Hingabe, es heißt Friede. Terrorismus ist tatsächlich verboten und djihad heißt nicht heiliger Krieg. Es heißt Anstrengung, es heißt überleben, es heißt dem ins Gesicht zu sehen, das dich zu Boden drücken will.“ Sie fordern „do your research!“.
Typisch für die Lernprozesse, die bei der Arbeit angestoßen werden, sind Gefühle von Verwirrung. Es verunsichert: Wenn das, was ich bisher lernte, nicht stimmt, was ist dann wahr? Was haben Ideologien der Ungleichwertigkeit mit mir zu tun? Es gibt keine leichte Antwort, es braucht Zeit, es öffnen sich immer wieder Türen. Wie bei einem Mosaik setzen wir viele kleine Steine aneinander, wie bei einer Reise, die uns neue Wege und Richtungen eröffnet. Aktuell Meinung
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