Essay
Keine Schuldzuweisung, sondern Verantwortung
Über den Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel, “Wir schaffen das!“, wurde viel diskutiert. Nicht besprochen wurde jedoch die Frage, wer zu diesem „Wir“ gehört und wer weshalb nicht. Eine Aufforderung zu konsequentem Mitdenken. Von Nina Simon
Von Nina Simon Freitag, 12.05.2017, 4:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 14.05.2017, 22:54 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
“Wir schaffen das!“. Dieser Satz von Angela Merkel vom Sommer 2015 ist im Diskurs um die häufig als „Flüchtlingsstrom“, „-welle“ oder „-krise“ 1 bezeichnete Einwanderung von Menschen nach Deutschland ein populäres Motto all jener, die sich als Teil der in diesem Kontext entstandenen „Willkommenskultur“ begreifen. Dabei wird selten darüber nachgedacht, wer denn eigentlich zu diesem „Wir“ gehört und wer weshalb nicht. Gerade dies ist jedoch notwendig, wenn ein ernsthaftes Interesse an einer Auseinandersetzung mit (migrations)gesellschaftlichen Fragen besteht und somit auch der „Herausforderung Einwanderung“ konstruktiv begegnet werden soll.
Ein solches Nachdenken kann durch inklusive rassismuskritische Bildungsarbeit angeregt werden, weil diese alle und nicht nur die vermeintlich „zu Integrierenden“ adressiert. Für die scheinbar „Integrierten“ mag dies zunächst ungewöhnlich, gar unbequem sein und somit möglicherweise Abwehr(-reflexe) hervorrufen 2. Wenn künftig allerdings von einem reflektierten „Wir“ ausgegangen werden soll, ist es unabdingbar, eine solch kritisch-(selbst-)reflexive Perspektive zu erwerben und konsequent mitzudenken.
Wie dies aussehen könnte, versucht dieser Text exemplarisch anhand dreier Aspekte aufzuzeigen, die dem Versuch gewidmet sind, Alltägliches der Selbstverständlichkeit(en) zu berauben. Ein solches Vorgehen soll unter anderem ein Erkennen kultureller Konstruktionen ermöglichen und ein Bewusstsein für die Macht vorherrschender Diskurse befördern.
1. „Die Anderen“ und ihre „Kultur“
In einem ersten Schritt wird Alltägliches der Selbstverständlichkeit(en) beraubt, indem die Unterscheidung zwischen „Wir“ und „den Anderen“ sowie das vorherrschende Verständnis von „Kultur“ problematisiert wird. Rassismus ist ein System, das dazu dient, Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten und zu legitimieren 3. Es ist also nicht nur auf individueller, sondern zugleich immer auch auf institutionell-struktureller und medial-ideologischer Ebene zu verorten. Ein zentraler Bestandteil dieses Systems ist die Unterscheidung zwischen einem „Wir“ und einem „Nicht-Wir“, also einem „Wir“ und einem „die Anderen“. Die dadurch hervorgebrachte Differenz ist dabei eine (wiederholt) konstruierte, die in enger Verbindung mit gesellschaftlicher Macht steht: Nur der sozialen Gruppe, die über Macht verfügt, gelingt eine Durchsetzung ihrer Konstruktion(en) der jeweils „Anderen“.
Edward Said erläutert in seinem Werk „Orientalism: Western Concepts of the Orient“, dass dabei allerdings nicht nur „Andere“ zu solchen gemacht werden, sondern zeitgleich stets auch ein „Wir“ konstruiert wird: „Wir“ sind zivilisiert, „die Anderen“ wild, „wir“ sind rational, „die „Anderen“ hingegen emotional. Die Hervorbringung einer „westlichen“ Identität ist somit Ergebnis des Ausschlusses des „Rests“, also „der Anderen“ 4.
Da wir alle in gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse involviert sind, ist auch Rassismus ein System, das alle Mitglieder einer Gesellschaft betrifft, wenn auch auf unterschiedliche Weise: Während sich weiße Menschen – also „Wir“ – in diesem System in einer privilegierten Position befinden, werden all jene als „Andere“ Konstruierte durch dieses rassistisch diskriminiert. Im Kontext der „Herausforderung Einwanderung“ wird dabei häufig von „kultureller Differenz“ gesprochen: Unter „anderen Kulturen“ werden dabei meist statische Nationalkulturen verstanden, die als nicht veränderbar und die Menschen determinierend verhandelt werden. Selten wird dabei berücksichtigt, dass auch „Kultur“ eine Konstruktion darstellt, die es beständig zu hinterfragen gilt. Vielmehr wird „Kultur“ auf diese Weise zu einem Ersatz für „Rasse(-Konstruktionen“) 5: Gruppen werden definiert, es wird ihnen eine „Kultur“ zugeschrieben, die „Kulturen“ werden hierarchisiert. Ohne ein Nachdenken über den hybriden Konstruktcharakter von „Kultur(en)“ werden so Rassismen reproduziert und die „Herausforderung Einwanderung“ bleibt Aufgabe „der Anderen“, wird also kein Projekt aller.
2. Balance reloaded: Wer balanciert was?
In einem zweiten Schritt wird über Ungleichgewichte nachgedacht: Über konstruierte Ungleichgewichte und über tatsächlich bestehende. Ein Nachdenken über tatsächlich bestehende ist schwieriger, weil es der Bereitschaft der mächtigen „Wir“-Gruppe bedarf, sich mit den für sie daraus resultierenden Privilegien auseinanderzusetzen.
Wenn im Kontext der „Herausforderung Einwanderung“ von Balance gesprochen wird, ist dieser Begriff nicht unabsichtlich gewählt: Balance ist dann notwendig, wenn ein Ungleichgewicht besteht, wenn also balanciert werden muss, was als unvereinbar propagiert wird. „Demokratie und Rechtsstaat“ versus „kulturelle Vielfalt“ werden häufig als einer Balance bedürfend verhandelt. Die Vorstellung von „kultureller Vielfalt“ entspricht dabei meist dem erwähnten dominanten Kulturverständnis. Dies trägt nicht nur dazu bei, die Unterscheidung zwischen „Wir“ und „den Anderen“ aufrechtzuerhalten, sondern ist auch immer dann von Bedeutung, wenn von tatsächlich einer Balance bedürfenden, weil real existierenden, Ungleichgewichten abgelenkt werden soll.
Ein solch real existierendes Ungleichgewicht lässt sich mit Blick auf die ungleich verteilte gesellschaftliche Macht erkennen: Welchen Gruppen wird Sprechen und damit auch Gehört-Werden (ver-)(un-)möglich(t)? Welche Gruppe kann also „ihre Geschichte(n)“ selbst erzählen und für welche Gruppen wird erzählt? Auch im Kontext der „Herausforderung Einwanderung“ besteht hier ein Ungleichgewicht in Bezug auf die erzählten (und über mediale Diskurse verbreiteten) Geschichten. Chinua Achebe bezeichnete das anzustrebende Gleichgewicht als „Balance of Stories“ 6 und Chimamanda Ngozi Adichie erläutert in ihrem Vortrag „The Danger of a Single Story“ die Macht (nicht) erzählter Geschichte(n): Wie Geschichten erzählt werden, wer Geschichten erzählt, wann sie erzählt werden und wie viele Geschichten erzählt werden, hängt entscheidend davon ab, wer über die Macht verfügt, diese zu generieren 7.
- Beachtet werden sollte hier die häufig einer Wassermetaphorik entlehnte abwertende Semantik
- s. Helms, Janet E./Carter, Robert T. (1990): Development of the White Racial Identity Inventory. In: Helms, Janet E: Black and White Racial Identity. Theory, Research and Practice. Westport. 67-80.
- s. Rommelsbacher, Birgit (2009): Was ist eigentlich Rassismus?, online verfügbar: http://www.birgit-rommelspacher.de/pdfs/Was_ist_Rassismus.pdf
- s. Said, Edward (1991): Western Concepts of the Orient. (New edition). London
- s. Leiprecht, Rudolf (2004): Kultur – Was ist das eigentlich?, online verfügbar
- s. Achebe, Chinua (2000): „Today, the Balance of Stories.“ Home and Exile, Oxford
- s. Adichie, Chimamanda Ngozi (2009): The danger of a single story, online verfügbar (inkl. Untertitel in versch. Sprachen)
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Alles gut und richtig, aber wie kann man das alles in die Sprache der Emotionen übersetzen, damit auch Nicht-Akademiker*innen das Konstrukt verstehen. Ich wünsche mir hier mehr Anregungen, z.B. aus theaterpädagogischer Sicht.
Viel theoretisches Palver. Wie sieht denn die konkrete Wirklichkeit in Deutschland aus?
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bei Stadträten, Kreisräten und Gemeinderäten der AFD ist es ähnlich. All das sind Fakten, die man schlecht widerlegen kann.
Berichten die Medien darüber (außer auf Seite 20)? Nein.
Reagieren die anderen Parteien Nein.
Reagiert die Polizei?
Reagiert die Justiz?
Eben. Empören Sie sich bitte, wenn ich den Vergleich mit der Weimarer Republik nicht scheue.
Frage 1: Was sagt die Kirche dazu? Was sagt Charlotte Knobloch dazu? Was sagt der Bundespräsident dazu? Was sagen die Migrationsverbände dazu? Was sagen die Innenminister dazu? Was sagen die Intellektuellen dazu? Sieht so Meinungsaustausch aus? Toleranz? Weltoffenheit?
Frage 2: Ist das die Demokratie der Demokraten?
?????????Und da wollt Ihr von WIR reden????????
Den Artikel finde ich schwierig, da die Autorin einfach mal davon ausgeht, mit dem WIR sei die dominante Gruppe der einheimischen Mehrheitsgesellschaft gemeint. Das wird aber nur von den „WIR schaffen das nicht!“ Zeitgenossen so gesehen, die sich durch die Neuankömmlinge überfordert fühlen, weil sie es eben nicht schaffen, ihr WIR zu erweitern auf alle Menschen, die nun hier sind.
Dagegen empfinden gerade Fans der Wilkommenskultur das WIR selbstverständlich als ein Miteinander aller Beteiligten, also aller derer, die WIR nun in Deutschland sind. WIR schaffen das!
Das könnte die Autorin in jeder Flüchtlingsinitiative beobachten, wo Flüchtlinge selbstverständlich auch Aufgaben übernehmen und mithelfen.
Der Satz „Wir schaffen das!“ ist richtig und gut. Leider wurde er aber offensichtlich nicht von jedem verstanden.
@Gegenstimme
Demokratie ist immer etwas für alle. Einer der Leitsätze der AfD ist „Keine Toleranz den Intoleranten“. Ohne jetzt unterstellen zu wollen, die AfD habe direkt etwas mit Schmierereien, Drohungen und Brandanschlägen auf Flüchtlinge und Freunde zu tun, ist es doch diese Logik, die Menschen enthemmt. Denn indem sie andere als intolerant brandmarken, machen sie sie zum Freiwild. Zu „Untermenschen“, die eben nicht toleriert werden sollen,nicht geduldet oder ertragen.
Die politischen Gegner der AfD sind leider auf einem ähnlichen Niveau. Nur sind nach deren Definition die AfDler die „Intoleranten“, die nicht toleriert werden sollten.
Im Grunde schluckt die AfD gerade ihre eigene Medizin.
@Anja ??????Sie beschönigen Gewalt gegen Kinder?????
Zwischen politischer Rhetorik und nackter Gewalt besteht sehr wohl ein Unterschied. Es ist der feine Unterschied, den viele Linke als vernachlässigbar betrachten: Das RECHT.
Keiner der Abgeordneten ist durch Gewalt aufgefallen. Die AFD schluckt hier keineswegs die eigene Medizin. Das ist Ihre Erfindung.
Der Ansicht, dass man den politischen Gegner nicht grundsätzlich als Unmenschen hinstellen soll, kann ich hingegen zustimmen. Allerdings hat man die AFD schon 2013 in die ganz, ganz rechte Ecke gestellt, als Lucke Vorsitzender war. Soll die AFD jetzt ihre Gegner lieben?