Manchester Molenbeek
Molenbeek in Brüssel
Ein Selbstmordattentäter hat in Manchester 22 Menschen getötet und 59 weitere verletzt. Wie kann das passieren? Was treibt einen Menschen zu dieser Untat? Welche Faktoren spielen eine Rolle? Und warum ist nicht jedes Leben gleich wert? Von Murat Kayman
Von Murat Kayman Freitag, 26.05.2017, 4:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 31.05.2017, 17:28 Uhr Lesedauer: 12 Minuten |
Ein Selbstmordattentäter hat in Manchester 22 Menschen getötet und 59 weitere verletzt. Die Opfer sind Besucher eines Popkonzertes, darunter viele Kinder und Jugendliche. Angesichts dieser Tatsache haben sich einige mediale Kommentatoren zu der Bewertung hinreißen lassen, es handele sich um eine „neue Qualität“ des Terrors, der sich jetzt auch gezielt gegen Kinder richte. Was in dieser Wahrnehmung mitschwingt, ist die Vorstellung, zur Niedertracht und Menschenverachtung sei nur das Böse fähig, das uns fremd ist, das vermeintlich nicht unserem Wesen entspricht. Julian Reichelt will in seinem aktuellen Kommentar in der BILD – getragen von eben dieser Wahrnehmung – hier eine religiöse Differenzierung vornehmen.
Der Terror gedeihe nur da, „wo nicht jedes einzelne Leben als unantastbar angesehen wird. Nur da, wo ‚Ungläubige‘ weniger wert sind als die Anhänger des ‚Kalifats‘.“ Das gelte „bittererweise für manche Viertel in unseren europäischen Städten“.
Ich glaube, dass diese Betrachtung verzerrend ist. Eine solche Bewertung der Ereignisse verstellt unseren Blick für die dem Terror zu Grunde liegenden Phänomene.
Zunächst ist die Annahme falsch, nur islamistische Terroristen seien zu Grausamkeiten gegenüber Kindern fähig.
2011 hat Anders Behring Breivik, ein rechtsextremer, islamfeindlicher Terrorist, in Norwegen 69 Kinder und Jugendliche erschossen. Kaltblütig. Berechnend. Sein Ziel war das Feriencamp der „Arbeidernes Ungdomsfylking“, der Jugendorganisation der sozialdemokratischen „Arbeiderpartiet“. Sein jüngstes Opfer war 14 Jahren alt. 33 seiner Opfer waren unter 18 Jahren.
Damit wollte Breivik seiner Vorstellung nach eine Jugend bestrafen und so weit wie möglich dezimieren, die auch in der nächsten Generation an dem Ziel einer weltoffenen, pluralistischen Gesellschaft in Norwegen festhalten würde. Er brachte eine Jugend um, die nicht so hassen wollte, wie er selbst. Die differenziert und reich an unterschiedlichen Ansichten und Empfindungen war. Die nicht bereit war, ein ganzes Kollektiv pauschal als das Böse, als Grund allen Übels zu begreifen. In diesem Denken und Leben waren seine Opfer ihm vollkommen fremd. Erst diese Entfremdung von der Gesellschaft und die dieser Entfremdung folgende Entmenschlichung der Opfer ermöglicht es den Tätern, die Schwelle der Tötungshemmung zu überwinden.
Islamisierung der Radikalität
Die meisten extremistischen Täter, so vermutlich auch der Täter von Manchester, müssen einen ähnlichen Weg der Entfremdung beschreiten, um am Ende dieses Weges in der Lage zu sein, sich und andere umzubringen. Es sind Täter, die nicht vom Himmel fallen. Sie tauchen nicht plötzlich auf. Sie sind keine außerirdische Spezies, die uns aus Zweckmäßigkeitserwägungen umbringt. Sie müssen sich erst zu Tätern entwickeln. Und das tun sie mitten unter uns. Dabei spielt nicht die Religion an sich die entscheidende Rolle. Sie sind nicht das Resultat eines sich radikalisierenden Islam. Sie islamisieren vielmehr ihren Weg in die Radikalität.
Es kommt nicht darauf an, was im Koran steht. Darin liegt vielleicht der größte Irrtum unserer ganzen öffentlichen Debatten. Faktisch und nüchtern betrachtet, wäre etwa die Bibellektüre ein geeigneteres Mittel der Gewaltlegitimation, käme es tatsächlich auf den bloßen Inhalt religiöser Texte an. Die drastische Schilderung von Kampfhandlungen, von unerbittlicher, mitleidloser Vernichtung des Gegners, das ständige Flehen, Gott möge die Feinde besiegen, sie erniedrigen, sie von der Erde tilgen, all diese expliziten Inhalte sind in der Bibel qualitativ wie quantitativ deutlich ausgeprägter als im Koran.
Die Täter berufen sich aber nicht auf das Christentum, sondern auf den Islam, wenn sie ihre Taten verüben. Auf den bloßen Inhalt der religiösen Schriften selbst kommt es letztlich nicht an. Nicht die Schriften selbst radikalisieren.
Antrieb des Terrors
Die Täter müssen erst einen Prozess der Entfremdung durchlaufen, um zu solchen Taten wie in Manchester fähig zu sein. Die Gesellschaft, in der sie leben, die Menschen, von denen sie umgeben sind, müssen von Subjekten des Zusammenlebens zu Objekten des Hasses verfremdet werden. Eine Mischung aus Bestrafungsphantasien, Rachegelüsten und eigener Erlösungssehnsucht ist der Antrieb dieses Terrors.
Das Hassobjekt wird als Gemeinschaft des Bösen verfremdet. Als Ursache allen Übels, als Nutznießer des eigenen Niederganges. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Täter häufig bis wenige Monate oder Jahre vor ihrer Tat sich selbst keineswegs im Kollektiv der Muslime verorteten, gar ein völlig areligiöses Leben führten. Oftmals sind die Täter als Mehrfachdelinquenten polizeibekannt. Das religiöse Gewand der Entfremdung dient damit auch der Entfremdung von der eigenen früheren Identität. Auch diese Identität gilt es mit dem endgültigen Fanal zu zerstören. Das Tabu dieser Selbstvernichtung und der Vernichtung anderer wird durch die Aufladung der Tat als Widerstandshandlung, als Aufbegehren überwunden.
Die Tötung anderer wird erst durch diesen Prozess der Entfremdung und Entmenschlichung möglich. Dabei sind authentische religiöse Inhalte eher hinderlich. Vielmehr gilt es, das Ziel der Zerstörungsabsicht zu entmenschlichen. Es zum Objekt zu degradieren, es als Quelle der Gefahr und Bedrohung wahrzunehmen. Es ist dann nicht mehr das 10 Jährige Kind, das umgebracht wird. Sondern der zukünftige gesellschaftliche Gegner, der in der Vorstellung der Täter zum Staffelträger einer fortgesetzten Bedrohung, einer neuen Generation des Bösen herangezogen wird.
Dieser Weg der Entfremdung beginnt im Alltag. Er beginnt banal. Jedes Erlebnis für sich ist niemals die Erklärung oder gar die Entschuldigung für terroristische Gewalt. Eine solche kann es nicht geben. Es sind aber Wegmarken der Irritation, des Sich-abgestoßen-Fühlens von der Gesellschaft, die einen umgibt. Sie sind Nadelstiche der Entfremdung, der Abstumpfung, der letztlich völligen Aufgabe jeglichen Gedankens, Teil dieser Gesellschaft zu sein, Pflichten für diese Gesellschaft zu haben, Verantwortung für ihr Gelingen zu tragen.
Erst wenn diese Gesellschaft nicht mehr die eigene ist, haben radikale Ideologen die Chance, mit ihrer Menschenverachtung an die Gedanken und Absichten junger Menschen anzudocken. Dann beginnt der Weg der ideologischen Viktimisierung der eigenen Person und ihr Wandel zum Handelnden, der gegen den vermeintlichen Aggressor aufbegehrt.
Die Narrative, derer sich die Ideologen des Hasses bedienen, ähneln der Diagnose, mit der zum Beispiel Julian Reichelt eine Differenzierung vornehmen will. Auch sie wollen ihre Anhänger davon überzeugen, dass für den „Gegner“ nicht jedes Leben als unantastbar gilt. Sie predigen, dass Muslime in dieser Gesellschaft weniger wert sind. Sie berichten davon, dass diese Betrachtung nicht bloß ein Hirngespinst, sondern bittererweise in manchen Vierteln unserer europäischen Städte Alltag geworden ist. Leitartikel Meinung
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,,Die drastische Schilderung von Kampfhandlungen, von unerbittlicher, mitleidloser Vernichtung des Gegners, das ständige Flehen, Gott möge die Feinde besiegen, sie erniedrigen, sie von der Erde tilgen, all diese expliziten Inhalte sind in der Bibel qualitativ wie quantitativ deutlich ausgeprägter als im Koran.“
Wo sind die Belege??
Ohne Belege ist diese Aussage nur ein Ausdruck Ihrer Christophobie.