Diskriminierung
Bildungsrassismus, Klassismus und Sozial-Protektionismus
Freier Zugang zu Bildung und Chancengleichheit existieren nur auf dem Papier. Das belegen zahlreiche Studien. Das Bildungspersonal an Schulen erkennt „Ihresgleichen“ und favorisiert sie - bewusst oder unbewusst. Die anderen haben es doppelt oder dreifach schwer.
Von Dr. Rodolfo Valentino Dienstag, 30.05.2017, 4:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 05.06.2024, 9:56 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Das Recht auf Bildung ist ein Menschenrecht gemäß Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 und ein kulturelles Menschenrecht gemäß Artikel 13 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Die soziale Realität sieht indes anders aus. Viele Soziologen weisen seit Jahrzehnten darauf hin, dass der vermeintlich „freie“ Zugang zu Bildung, zu Chancengleichheit sowie das Schulrecht durch subtile „sozialdiskriminierende“ Strategien behindert und sogar ins Gegenteil gekehrt wird. Für den amerikanischen Ökonomen Chuck Barone liegt der Grund auf der Hand: Klassismus. Er unterscheidet 3 Ebenen des Klassismus:
(1) Auf der Makroebene unterdrückt eine soziale Klasse die andere durch ein bestimmtes politisch-ökonomisches System, wo bestimmte Berufsgruppen weniger verdienen als andere, z.B. Sozialberufe versus Wirtschaftsberufe, weniger Sozialprestige aufweisen oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. Für ihn ist der Kapitalismus an sich bereits klassistisch, oder anders gesagt „der Antiklassismus ist auf dieser Ebene notwendigerweise antikapitalistisch“.
(2) Auf der Mesoebene unterdrücken Angehörige einer „höheren Klasse“ diejenigen, die einer „niedrigeren“ Klasse angehören, als Gruppe, indem sie negative Vorurteile gegenüber ihnen aufbauen. „Helfershelfer“ sind dabei die Massenmedien. Sein Konzept des Antiklassismus basiert auf dieser Ebene auch auf der Forderung nach einer anderen Medienkultur.
(3) Auf der Mikroebene werden Angehörige einer „niedrigeren Klasse“ als einzelne Subjekte von Individuen einer „höheren Klasse“ durch individuelle Einstellungen, Identitäten und Interaktionen unterdrückt. „In den USA gibt es seit einigen Jahren Anti-Klassismus-Training analog zu den Anti-Rassismus-Training“, um individuelle klassistische oder sozial-rassistische Einstellungen zu überwinden.
Der soziale Habitus
Doch wie „riechen“ oder identifizieren sich sich die Angehörigen einer vermeintlich gleichen „Klasse“, eines ähnlichen „Sozialmilieus“ oder eines gemeinsamen „Lebensstils“? Ganz einfach, würden der deutsche Soziologe Norbert Elias und sein französischer Kollege Pierre Bourdieu antworten: am (sozialen) Habitus.
Elias definiert den „sozialen Habitus“ als gemeinsame Gewohnheiten im Denken, Fühlen und Handeln, die Mitgliedern einer Figuration (ein Abhängigkeitsgeflecht aufgrund von gedachter und vermuteter Zugehörigkeit und Solidarität) eigen sind und dadurch eine ähnliche „soziale Persönlichkeitsstruktur“ aufweisen. Bourdieu geht stärker ins „plastische“ Detail und definiert den „Habitus“ als Gesamtpaket einer Person: ihr gesamtes Auftreten, ihr Lebensstil, ihre Sprache (Sprachcode), ihre Kleidung und ihren Geschmack.
Lehrer favorisieren „Ihresgleichen“
So kommt es, dass die Mehrheit des aus der akademischen Mittelschicht stammenden „Bildungspersonals“ in Europa „Ihresgleichen“ und ihre „Sprösslinge“ am Sprachcode, am Bildungsabschluss, an der Kleidung etc., trotz zunehmender Pluralisierung der Lebensstile und Sozialmilieus, erkennt und bewusst oder unbewusst favorisiert. Gerade in Ländern, in denen sich die „Lehrer“ einbilden, die Schüler (z.B. in Deutschland) nicht erziehen zu müssen, wird die Klasse und somit auch der Habitus als unveränderbares „Sozialmakel“ angesehen und aktiviert bewusst oder unbewusst „sozialrassistische“ oder klassistische Strategien des „Sozial-Protektionismus“ zum Erhalt der vermeintlich eigenen „Klasse“ oder „sozialen Gruppe“. Dadurch haben es Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen und einkommenschwächeren Haushalten aufgrund ihre Habitus und des Sozialrassismus doppelt oder dreifach schwer. Sie müssen auch bei gleich guten Leistungen mehr Überzeugungsarbeit bei den Lehrer leisten als jene aus „besseren Schichten“.
Ein soziales Dilemma, das noch mal dadurch verstärkt wird, dass Fehltritte oder abweichendes Verhalten rasch zum Sozialstigma werden, das man praktisch nicht mehr abstreifen kann. Gerade in nordeuropäischen Ländern kann ein „südländisches“ Aussehen (dunkle Haare, dunkle Augen, dunkle Hautfarbe) den „schulischen“ Stigmatisierungsprozess beschleunigen und zum „Diskriminierungsverstärker“ werden.
Kompensatorische Erziehung
Eine mögliche Lösung könnte aus einem Land kommen, das große Erfahrungen mit Diskriminierung hinsichtlich der Rasse, der Hautfarbe, der nationalen oder sozialen Herkunft gemacht hat. Es handelt sich um die „kompensatorische Erziehung“ aus den USA, die in Westeuropa bereits in den 1980er Jahren diskutiert wurde. Ihr Ziel ist es, die schulischen Leistungen von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien zu steigern, d.h. aus bildungsfernen Schichten und benachteiligten Vierteln (Ghettos), um Bildungsbenachteiligung abzubauen und Chancengleichheit herzustellen. Soziale Probleme wie Kriminalität, Drogenkonsum, Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfeabhängigkeit, Elternschaft von Minderjährigen, etc. sollen dabei offensiv angegangen werden, ohne dass sie zum „Sozialstigma“ werden.
Die Erwartung, dass die Bildungsexpansion eine weitgehende Angleichung der Bildungschancen erreichen kann, ist in vielen europäischen Ländern wie Deutschland eine Illusion geblieben. Auch wenn die Pforte für den Zugang breiter geworden ist, bleiben der Einfluss der sozialen Herkunft in Form von Habitus, Lebensstil, Sprache (Sprachcode), Kleidung, Verhalten, etc. aber auch der Migrationshintergrund die wichtigsten Faktoren für die soziale Mobilität „nach oben“. Aktuell Meinung
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Rheinland-Pfalz-Studie Jeder zweite Polizist lehnt muslimfeindliche…
- Der Fall Prof. Dr. Kenan Engin Diskriminierung an deutschen Hochschulen kein Einzelfall
- Drama im Mittelmeer Seenotretter bergen hunderte Geflüchtete
- Neue Integrationskursverordnung Bundesregierung will Integrationskurse verschlanken
- Prof. Heckmann im Gespräch Migrationspolitik, die von Sicherheitsthemen…
- „Menschenwürde verteidigen“ Zivilgesellschaftliche Kampagne fordert AfD-Verbot
Ich vermute, Lina meint diesen Artikel aus unserem Wissenschaftsblog https://www.textundwissenschaft.de/blog/2018/03/08/unterschiedlicher-studienerfolg-von-deutschen-studierenden-und-studierenden-mit-migrationshintergrund/
Hier der richtige Link.