"Umsiedlung" in den Tod
Vor 75 Jahren begann die Deportation der Juden aus dem Warschauer Ghetto
Auf Anweisung der Besatzer muss der Judenrat des Warschauer Ghettos ab Juli 1942 Listen derer zusammenstellen, die in die Vernichtungslager deportiert werden sollen: täglich mehr als 6.000 Menschen. Im Frühjahr 1943 greifen die Juden zu den Waffen.
Von Dirk Baas Freitag, 21.07.2017, 4:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 25.07.2017, 16:05 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
SS-Sturmbannführer Hermann Höfle betritt am Vormittag des 22. Juli 1942 mit einigen Offizieren eiligen Schrittes das Gebäude des Judenrates im Warschauer Ghetto an der Grzybowskastraße. Er will Wichtiges anordnen. Das von den Deutschen eingesetzte Gremium wird ins Büro des Vorsitzenden Adam Czerniaków befohlen. Die Männer hören in nur wenigen Minuten das Todesurteil für rund 400.000 Bewohner des Ghettos. Der SS-Offizier befiehlt dem Rat, ihre Glaubensgenossen zu Transporten zur „Umsiedlung“ in den Osten zusammenzustellen.
Das Ziel, das rund 100 Kilometer nordöstlich gelegene Vernichtungslager Treblinka, ist da noch geheim. „Bis heute um 4 Uhr müssen 6.000 Menschen bereitgestellt werden. Und so wird es jeden Tag sein“, schreibt der verzweifelte Czerniaków in sein Tagebuch. Doch er will auf keinen Fall mitwirken an der Umsetzung des Befehls. Nur einen Tag später finden Mitarbeiter den toten Vorsitzenden in seinem Büro, vor sich auf dem Schreibtisch ein leeres Zyankali-Fläschchen und ein halbvolles Glas Wasser.
Marcel Reich, später prominenter Literaturkritiker, ist Augenzeuge der dramatischen Vorgänge. Der 22-Jährige arbeitet als Dolmetscher für den Judenrat und protokolliert auf einer Schreibmaschine die Anweisungen Höfles zur Deportation.
„Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben.“
Auf dem Schreibtisch Czerniakóws finden sich zwei kurze Notizen, berichtete Reich-Ranicki 2012 in seiner Rede im Bundestag zum Holocaust-Gedenktag. Die eine, für dessen Frau bestimmt, lautete: „Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben.“
Das zweite Schreiben war an den Judenrat gerichtet: „Ich habe beschlossen abzutreten. Betrachtet dies nicht als einen Akt der Feigheit oder eine Flucht. Ich bin machtlos, mir bricht das Herz vor Trauer und Mitleid, länger kann ich das nicht ertragen. Meine Tat wird alle die Wahrheit erkennen lassen und vielleicht auf den rechten Weg des Handelns bringen.“
Noch am gleichen Tag hängen Plakate im Ghetto, von den Besatzern zynisch „Jüdischer Wohnbezirk“ genannt. Es sind Plakate, die über die „Umsiedlung“ informieren. Aber noch wusste niemand, wohin die Transporte gingen, was den Deportierten bevorstand, wie Reich-Ranicki berichtete: „Was die ‚Umsiedlung‘ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.“
Der Aufstand im Warschauer Ghetto beginnt
„Ein Fetzen Mensch, der sich eine Wand entlangdrückt, blutbespritzte Pflastersteine, der Rauch von den glimmenden und allmählich verlöschenden Feuern auf den Straßen und der scharfe Brandgeruch verleihen dieser Stadt des Todes ihre eigene Atmosphäre“, schreibt der Chronist und Gründer des Ghettoarchivs, Emanuel Ringelblum (1900-1944). Bis Mitte September 1942 werden rund 260.000 Menschen vom Umschlagplatz im Norden des Ghettos in Vernichtungslager transportiert.
Nach der Entscheidung, das Ghetto endgültig aufzulösen, stoßen die deutschen Truppen im April 1943 auf bewaffnete Kämpfer, die der Organisation „Zydowska Organizacja Bojowa“ (ZOB) angehören: Der Aufstand im Warschauer Ghetto beginnt. Die Untergrundgruppe war im Herbst 1942 entstanden, als noch etwa 60.000 Menschen unter unvorstellbaren Bedingungen hinter der zehn Kilometer langen Mauer des Ghettos lebten.
Sie hatten lange ausgeharrt, Leid und Elend im Ghetto erduldet, das im Oktober 1940 eingerichtet worden war. „Durchschnittlich 13 Menschen teilten sich ein Zimmer, Krankheiten und Seuchen breiteten sich aus. (…) Der Hunger bestimmte Leben und Sterben im Ghetto“, schreibt die Historikerin Andrea Livnat.
„Es ging nur darum, die Art des Sterbens zu wählen“
Den Aufständischen gehören mehrere hundert Menschen an, und es erscheint unmöglich, die SS-Truppen lange aufhalten zu können. Und doch gelingt es dem Anführer Mordechai Anielewicz, die Widerstandskämpfer zunächst im Häuserkampf zu halten: Der erste städtische Volksaufstand im nationalsozialistisch besetzten Europa. „Der Kampf der schlecht ausgerüsteten Aufständischen war ebenso verzweifelt wie aussichtslos“, schreibt der Historiker Arnulf Scriba.
Die Deutschen setzen Flammenwerfer ein und stecken ganze Straßenzüge an. SS-Generalleutnant Jürgen Stroop, der SS- und Polizeiführer von Warschau, schlägt den Aufstand bis zum 16. Mai 1943 endgültig nieder. Stroop notiert in seinem Bericht: „Nur durch den ununterbrochenen und unermüdlichen Einsatz sämtlicher Kräfte ist es gelungen, insgesamt 56.065 Juden zu erfassen bzw. nachweislich zu vernichten. Dieser Zahl hinzuzusetzen sind noch die Juden, die durch Sprengungen, Brände usw. ums Leben gekommen, aber zahlenmäßig nicht erfasst werden konnten.“
„Es ging nur darum, die Art des Sterbens zu wählen“, sagte Marek Edelman später, einer der wenigen Überlebenden des Aufstandes im Warschauer Ghetto: „Es ging darum, sich nicht abschlachten zu lassen.“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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