Hanni Lévy, die Unsichtbare
Wie eine Jüdin den Nationalsozialismus in Berlin überlebte
Als die Gestapo weg ist, nimmt sie Handtasche und Mantel und verlässt das Haus. Nicht aufzufallen, das weiß Hanni Lévy, ist der beste Schutz vor den Nazis. In einem Kino findet sie Entspannung - und ihre Retterin. Von Sigrid Hoff
Mittwoch, 25.10.2017, 6:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 25.10.2017, 16:40 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Ein gutbürgerliches Miethaus in der Nollendorfstraße in Berlin, unweit vom Wittenbergplatz. Rechts hinter der Tordurchfahrt befindet sich der Eingang zu einer Erdgeschosswohnung im Seitenflügel. Daneben erinnert eine Gedenktafel an die ehemaligen Bewohner, das Ehepaar Kolzer, die im Herbst 1943 ein ihnen bis dahin unbekanntes jüdisches Mädchen aufnahmen und bis zum Kriegsende beherbergten. So retteten sie der jungen Frau das Leben.
Hanni Lévy, 1924 als Hannelore Weißenberg in Berlin geboren, ist heute 93 Jahre alt und noch immer dankbar für das, was ihre „stillen Helden“ für sie getan haben: „Nicht nur, dass sie ihr Leben eingesetzt haben, dessen sie sich vielleicht gar nicht bewusst waren, aber wir haben auch sehr innig zusammen gelebt.“
Seit 1946 lebt Hanni Lévy in Paris. In ihre Heimatstadt Berlin ist sie jetzt zurückgekehrt für die Premiere des Films „Die Unsichtbaren – Wir wollen leben“, der am Donnerstag (26. Oktober) in die Kinos kommt. Regisseur und Autor Claus Räfle erzählt die Geschichte von vier jungen Juden, die den Nazis Widerstand leisteten und sich nicht deportieren ließen. Sie machten sich unsichtbar, überlebten die Verfolgung und den Krieg unter falscher Identität und mit der Hilfe von Menschen, die ihnen Obdach und Essen boten.
In Spielfilmszenen, mit eingestreuten Kommentaren der Zeitzeugen, erinnert der Film an das Schicksal von 1.700 Juden, die allein in der Reichshauptstadt als „U-Boote“ überlebten. Und er würdigt zugleich die Mitmenschlichkeit und Zivilcourage Zehntausender, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um den Verfolgten in der Zeit der Gewaltherrschaft zu helfen.
Eine der Porträtierten ist Hanni Lévy. Sie war in Berlin-Kreuzberg aufgewachsen und hatte ihre Eltern bereits mit Beginn des Krieges verloren. Der Vater starb 1940 an Entkräftung infolge der Zwangsarbeit, die schwer herzkranke Mutter an mangelnder ärztlicher Hilfe 1942. Bei einem Besuch der Gräber auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee betrachtet die Holocaust-Überlebende nachdenklich den Grabstein. Sie sei froh, dass ihre Eltern so früh gestorben sind, bekennt sie. Dadurch sei ihnen vieles erspart geblieben.
Die geliebte Großmutter hingegen wurde im Herbst 1942 nach Theresienstadt deportiert. Der schwere Abschied weckte in der damals 18-Jährigen Widerspruchsgeist. Sie beschloss, sich nicht abholen zu lassen. Im Februar 1943 geht sie wegen einer Entzündung am Finger nicht zur Zwangsarbeit in die Fabrik. Und ist zufällig zu Hause, als die Gestapo, auf der Suche nach Juden, an der Tür klingelt. Hanni Lévy beschließt, nicht aufzumachen. Als die Männer weg sind, nimmt sie Handtasche und Mantel und verlässt das Haus.
„Ich bin ganz kaltblütig auf die Straße gegangen“, erinnert sich Hanni Lévy, „ich hatte keinen Plan, aber ich wusste, ich darf nicht auffallen, das ist mein bester Schutz.“ Sie färbt sich die Haare blond, nimmt eine neue Identität an. Eine Odyssee durch Berlin beginnt, auf der Suche nach einer Unterkunft. Doch nirgendwo kann sie lange bleiben.
Info: Film „Die Unsichtbaren – Wir wollen leben“ (106 Minuten), bundesweiter Kinostart am Donnerstag, 26. Oktober 2017
Zur Entspannung geht Hanni Lévy gern ins Kino, wo sie den Schutz der Dunkelheit genießt. Als sie im Herbst 1943 erneut ohne Obdach ist, vertraut sie sich in ihrer Verzweiflung der Kartenverkäuferin an der Kino-Kasse an. Viktoria Kolzer nimmt die junge Frau mit nach Hause. Der Sohn ist an der Front, der Mann schwer krank, Hanni Lévy hilft bei der Pflege. „Wir sind zusammengewachsen wie Mutter und Tochter“, sagt sie und bekennt: „Ich habe mich so an dieses neue Leben gewöhnt, dass ich fast vergessen habe, in welcher Gefahr ich mich eigentlich befand.“
Gemeinsam mit Viktoria Kolzer erlebt sie die Bombennächte und endlich das Kriegsende 1945 und die Befreiung. 1946 holt sie ihr einziger Onkel, der früh nach Frankreich emigriert war, nach Paris. Dort lernt sie ihren Mann, einen deutschstämmigen Juden, kennen, heiratet und gründet eine Familie. Die Verbindung zu Deutschland und ihren Rettern hat sie nie abreißen lassen. Und anders als viele Holocaust-Überlebende im Ausland hat sie die deutsche Sprache weiter gepflegt: „Man kann Kinderlieder und Zärtlichkeiten nicht in einer fremden Sprache austauschen.“
Auch bei ihren Kindern und Enkeln hält sie die Erinnerung an diejenigen hoch, die Mitmenschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit bewiesen. Und ist glücklich, dass der Film „Die Unsichtbaren“ auch ihnen ein Denkmal setzt. Zufrieden und auch ein bisschen stolz steht die kleine Frau, die mit großem Mut den Nazis trotzte, bei der Premiere auf dem Roten Teppich in Berlin: „Für mich ist das ein großer Moment. Ich hätte nie gedacht, dass meine Geschichte nach so vielen Jahren so viel Anklang findet!“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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