Anzeige

Hintergrund

Was ist Antisemitismus?

Ist Israel-Kritik Antisemitismus? Was ist die Ausschwitzkeule? Und was ist der Unterschied zwischen dem Antisemitismus im Mittelalter und heute? Fakt ist: Es gibt keine klare Definition von Antisemitismus. Mal wird sie weiter, mal enger formuliert. Von Elisa Makowski

Von Elisa Makowski Montag, 19.02.2018, 6:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 19.07.2018, 17:44 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen“, heißt es einer Arbeitsdefinition, die das Bundeskabinett im September vergangenen Jahres angenommen hat. Zwar ist diese rechtlich nicht bindend, sie soll aber eine Hilfe für staatliche Stellen sein, Erscheinungsformen von Judenfeindlichkeit einzuordnen.

Im vergangenen Jahr stieg die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland laut Bundesinnenministerium auf mindestens 1.495. 2016 hatte die Zahl bei knapp 1.400 gelegen, im Jahr davor bei rund 1.250. Judenfeindliche Angriffe sorgten zuletzt etwa bei der Beschimpfung eines Restaurantbesitzers in Berlin bundesweit für Empörung.

___STEADY_PAYWALL___

Anders als Rassismus, der sich aus überzogenen Vorurteilen speist, haben antisemitische Stereotype laut Forschung keinerlei Realitätsbezug. Judenfeindschaft ist demnach ein kulturell verankertes Glaubenssystem: Antisemiten sind fest davon überzeugt, dass Juden das Übel der Welt sind. Auch Israel, das dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, kann Ziel solcher Angriffe sein. Antisemitismus erklärt und deutet auf einfache Weise komplexe, teil widersprüchliche Zusammenhänge. Die Ressentiments finden sich – bewusst oder unbewusst – Forschern zufolge in jedem Milieu und in nahezu jeder politischen und religiösen Ideologie.

Anzeige

Christlicher Antijudaismus

Im Mittelalter ging die Judenfeindschaft auf das Christentum zurück, das Juden als Ketzer sah, weil sie nicht an Jesus als den Messias glaubten. Auch der Reformator Martin Luther (1483-1546) wollte die Juden missionieren – als dies nicht gelang, schlug seine Haltung in blanke Ablehnung um. Christen bezichtigten Juden, Christus getötet zu haben, Brunnen zu vergiften und christliche Kinder zu schlachten. In ganz Europa wurden Juden politisch und ökonomisch diskriminiert. Sie wurden aus Städten vertrieben, es gab Pogrome und Schauprozesse. Juden war es untersagt, Handwerksberufe auszuüben, ihnen blieb das Zinsgeschäft und der Handel. Dies wiederum brachte ihnen den Vorwurf der Wucherei ein.

Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert

Der moderne Antisemitismus sieht Juden als Mitglieder einer eigenen „Rasse“ oder „Gegenrasse“ im Gegensatz zu einer „ursprünglichen“ Nation. Juden stehen für den sich rasant entwickelnden Kapitalismus, den die Gesellschaft bewältigen muss. Im Nationalsozialismus verfolgten die Deutschen einen Wahn, der Juden zu Feinden des „deutschen Volkes“ machte und eine allgegenwärtige jüdische Weltverschwörung imaginierte. Juden wurden systematisch diskriminiert und vertrieben. Insgesamt ermordeten die Nationalsozialisten und ihre Helfer sechs Millionen europäische Juden.

Antisemitismus nach und trotz Auschwitz

Nach dem Massenmord an den Juden setzte im postfaschistischen Deutschland eine Täter-Opfer-Umkehr ein. Aus Schuld- und Schamgefühlen wird die Verantwortung am Holocaust verdrängt. Weil sich Antisemitismus nun nicht mehr offen äußern ließ ohne auf ein Tabu zu treffen, wurden Juden nun selbst schuld verantwortlich gemacht für ihre Vernichtung – weil sie als Partisanen gegen das nationalsozialistische Deutschland gekämpft hatten oder als Überlebende Zeugnis ablegen konnten vom millionenfachen Mord.

Immer öfter ist von der „Auschwitzkeule“ die Rede: Demnach instrumentalisierten jüdische oder israelische Interessengruppen das Gedenken an die Schoah für ihre Zwecke. Codewörter wie „Rothschilds“ oder „Goldman Sachs“ stehen für eine angebliche jüdische Weltverschwörung. Man kann sich nach Angaben von Antisemitismusexperten dieser Chiffren bedienen – ohne Antisemit sein zu wollen oder sich zum Antisemitismus öffentlich bekennen zu müssen.

Antizionismus und Israel-Hass

Auch Israel kann im Fokus antisemitischer Angriffe stehen. Wurden vormals die Juden gehasst, ist es heute Israel als das wichtigste Symbol jüdischen Lebens. Kritik an Israel ist allein nicht antisemitisch. Der „3D-Test“ von Natan Scharanski kann eine Orientierung bieten, um zu beurteilen, ob sich eine Kritik judenfeindlicher Stereotype bedient: Wenn Israel dämonisiert oder delegitimiert wird oder Doppelstandards bei der Bewertung seiner Politik angelegt werden, handelt es sich demnach um Antisemitismus.

Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Israel mit Nazi-Deutschland verglichen oder sein Existenzrechtinfrage gestellt wird. Immer wieder steht auch die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) in der Kritik, antisemitische Hetze zu verbreiten. Sie will Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren – so sehr, sagen Kritiker der Initiative, dass sie Israel nachhaltig schadet.

Muslimischer Antisemitismus

Seit Europa verstärkt Einwanderer aufnimmt aus mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern gibt es eine Diskussion um einen importierten, islamischen Antisemitismus. In Ländern wie Syrien, Iran oder Irak gehört Israel-Hetze und Judenfeindschaft laut Studien zum Alltag. Wenn wie kürzlich in Berlin Israel-Fahnen vor dem Brandenburger Tor brennen oder während des Gaza-Kriegs 2014 auf Demonstrationen in Deutschland „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ skandiert wird, werden Befürchtungen laut, dass sich Konflikte im Nahen Osten auf Europa verlagern und das Zusammenleben bedrohen könnten.

Der unabhängige Expertenkreis Antisemitismus des Bundestages warnt davor, muslimische Einwanderer grundsätzlich eine antisemitische Haltung zu unterstellen. Zwar seien viele von ihnen in Ländern sozialisiert, wo Antisemitismus Tradition habe. Diese Menschen seien aber aus diesen Ländern geflohen und zeigten großes Interesse an demokratischen Strukturen. Bislang gebe es auch keine ausreichenden Untersuchungen zu möglichen antisemitischen Einstellungen unter Flüchtlingen. (epd/mig) Aktuell Panorama

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. karakal sagt:

    Der Begriff „semitisch“ mit seinen Ableitungen wird meist unzutreffend gebraucht. Es ist eigentlich unzulässig, „Semit“ nur auf Juden zu beziehen, und es gibt auch keine „semitische“ Rasse. Semitisch kann nach wissenschaftlichem Gebrauch nur auf die Sprachen der semitischen Sprachfamilie, zu der auch das Arabische als deren Urspünglichste gehört, und deren Sprecher bezogen werden. Daher ist es für viele Araber unverständlich, wenn ihnen eine „antisemitische“ Einstellung vorgeworfen wird, wo sie selbst doch auch Semiten sind. Demnach dürfte man nur Juden, die Hebräisch oder eine andere semitische Sprache gebrauchen, als „Semiten“ bezeichnen, nicht jedoch Juden, die keine der semitischen Sprachen sprechen.
    Bevor dieser Begriff nicht entsprechend seiner ursprünglichen Bedeutung gebraucht und durch andere passendere, wie „Judenfeindlichkeit“ ersetzt wird, ist ein vernünftiger Meinungsausstausch nicht möglich.
    Das alles ganz abgesehen davon, daß wir zwischen Judenfeindlichkeit und Antizionismus zu unterscheiden haben.
    Selbstverständlich darf man das „Existenzrecht Israels“ genauso in Frage stellen, wie man das Existenzrecht eines jeden anderen Staates in Frage stellen darf, auch dasjenige der BRD oder Nordkoreas.

  2. NCCClaims sagt:

    Tatsache ist, dass die ganze Debatte über Antisemitismus in Deutschland nichts anderes ist, als die Fortsetzung des Nahost-Konfliktes auf deutschen Boden. Und es ist, wie es ein israelischer Botschafter in den USA einmal ausgedrückt hat, als man ihn fragte was sein größter Erfolg während seiner Amtszeit war: „Mein größter Erfolg war, dass es mir gelungen ist die amerikanische Administration zu überzeugen, dass Antizionismus gleich Antisemitismus ist“. Es geht weniger um Antisemitismus als um Benjamin Netanjahu und seine unsägliche Politik.

  3. aloo masala sagt:

    Richtig ist, dass Antisemiten Israel kritisieren, dämonisieren und delegitimieren. Allerdings ist Kritik gegen Israel häufig eben nicht antisemitisch motiviert, sondern vielmehr getrieben von humanistischen Motiven, von Menschen- und, Völkerrecht und von Gerechtigkeit.

    Der 3D-Test von Scharanski ist populistischer Unsinn und definitiv nicht geeignet, um zu beurteilen, ob sich eine Kritik judenfeindlicher Stereotype bedient. Jakob Augstein und Günter Grass sind zwei prominente Beispiele, die wegen ihrer Kritik an Israel auf Grundlage des 3D Tests als antisemitisch gebrandmarkt wurden. Grass war alles mögliche aber definitiv kein Antisemit. Das gleiche gilt für Augstein.

    Der populistische Unsinn des 3D Tests von Sharansky wird dann sichtbar, wenn man einen ähnlichen 3D Test für totalitäre Geisteshaltungen vorschlägt:

    „Wenn die Kritik an einer Weltanschauung dämonisiert oder delegitimiert wird oder Doppelstandards bei der Bewertung der Kritik angelegt werden, dann handelt es sich um eine totalitären Geisteshaltung.“

    Genau das passiert bei Kritikern der israelischen Politik. Sind es Juden wie Noam Chomsky oder Ilan Pape handelt es sich um selbsthassende Juden. Sind es Nicht-Juden, dann sind das Antisemiten.

    Wenn Netanyahu den Iran dämonisiert und mit dem Nazi-Regime vergleicht, ist er natürlich kein Anti-Arier. Doppelter Standard? Wer Nordkorea oder Italien unter Berlusconi kritisierte, ist kein Anti-Koreaner oder Anti-Italiener. Wer die Sowjetunion unter Stalin kritisierte war allerdings ein Anti-Sowjet und wer die US Außenpoliitk kritisierte wurde als Antiamerikaner gebrandmarkt. Argumente bleiben dabei zu Gunsten einer totalitären Geisteshaltung auf der Strecke. Es galt schließlich den Kritiker mundtot zu machen und das funktioniert am besten, wenn man seine Person angreift und nicht seinen Standpunkt.

    Der 3D Test ist auch aus anderen Gründen populistischer Unsinn:

    —-
    Wenn Israel dämonisiert oder delegitimiert wird oder Doppelstandards bei der Bewertung seiner Politik angelegt werden, handelt es sich demnach um Antisemitismus.
    —-

    Nichts ist definiert. Was ist überhaupt Dämonisierung? Wann wird die Grenze gezogen. In der Praxis zieht man sie so, wie es gerade passt.

    Eine judenfeindliche Stereotype wird nur dann bedient, wenn man Israel mit Juden gleichsetzt. Gegen diese Gleichsetzung wehrt sich der Zentralrat der Juden genau dann völlig zu Recht, wenn Juden pauschal für die Verbrechen Israels kritisiert werden.

    Geht es aber darum, Kritik gegen Israel zu dämoniseren, dann wird selbstredend eine judenfeindliche Stereotype konstruiert, also Juden mit Israel gleichgesetzt, um dann im nächsten Satz Antisemitismus vorwerfen zu können. Das ist doppelter Standard sowie Delegitimierung von Kritik gegen Israel und Dämonisierung der Kritiker.

    Der 3D Test hat nur ein Ziel, nämlich Kritiker Israels zu delegitimieren und zu dämonisieren. Abraham Melzer, dessen jüdische Eltern vor den Nationalsozialisten fliehen mussten, geht davon aus, dass bestimmte Personengruppen gezielt den Begriff Antisemitismus einsetzen, um Kritik an Israel zu verhindern. Er erzählte folgende Anekdote:

    Der israelische Journalist und Publizist Elon fragte einen israelischen Botschafter in Washington, der sein Amt beendet hat und nach Israel zurückgekommen ist, was sein größter Erfolg in den USA war. Er sagte, sein größter Erfolg sei es gewesen, dafür zu sorgen, dass Antizionismus und Antisemitismus gleichgesetzt werden.

  4. -Ute Plass sagt:

    „Gab es in den letzten Jahren ausschließlich oder primär antisemitischen Rassismus in Deutschland? Welche Rolle spielt die Merkelsche „Staatsräson“, das besondere Verhältnis der Bundesrepublik zu Israel in dieser Debatte? Was kann, was soll der Antisemitismusbeauftragte für eine Rolle spielen?
    Zu diesen Fragen wollen Wolfgang Gehrcke und Uli Gellermann ein öffentliches Gespräch führen.“
    Am 20. März 2018 um 20.30 Uhr
    im Buchhändlerkeller-Berlin. Carmerstr. 1,
    10623 Berlin (nahe Savignyplatz)

    http://www.rationalgalerie.de/home/merkels-massaker.html