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Gepräch mit Fereshta Ludin

„Ich beobachte eine bewusste strukturelle Diskriminierung“

Antisemitismus unter Muslimen, Kopftuchverbot für Lehrerinnen, multikulturelle Schulklassen und Ramadan. Van Bo Le-Mentzel spricht mit Lehrerin und Menschenrechtlerin Fereshta Ludin über ihren Traum von Europa, warum sie das Grundgesetz so schätzt.

Von Freitag, 18.05.2018, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 22.05.2018, 22:10 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Van Bo Le-Mentzel: Reden wir aufgrund der Vorfälle der letzten Zeit über Antisemitismus. Der Vorwurf: Muslime hätten ein Antisemitismusproblem. Dabei gibt es erstaunlich viele Initiativen, ob von türkisch-deutschen Aktivisten wie denen von Akran oder von Staatssekretärin Sawsan Chebli (Arbeitskreis Antisemitismus) bis hin zu interreligiösen Kita-Projekten von Imam Andrea Reimann. In Köln steht Dr. Erika Theissens muslimische Begegnungsstätte für Toleranz und interreligiöse Verständigung. In München engagiert sich der Moscheeverband MFI gegen Antisemitismus. Offensichtlich haben muslimische Communities neben dem vermeintlichen Antisemitismusproblem vor allem ein PR-Problem, oder?

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Fereshta Ludin: Ich denke, dass das Bewusstsein für das Thema Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung in allen Communities leider noch fehlt. Sie sind kein muslimisches Phänomen. Ich beobachte jedoch auch zunehmend, dass muslimische Gemeinden bemüht sind für das Thema zu sensibilisieren und aufzuklären, es könnte jedoch noch mehr geleistet werden, vor allem in der Jugendarbeit.

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Le-Mentzel: Sie unterrichten seit fast 20 Jahren in einer Grundschule. Deutsche Schulen haben nicht den allerbesten Ruf. Wir wissen mittlerweile alle: Jedes Kind ist anders, doch immer noch werden Kinder im 45 Minutentakt unterrichtet in Gruppen bis zu 30 Personen und dann miteinander verglichen mit Zahlen von eins bis sechs. Ist das noch zeitgemäß?

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Info: Fereshta Ludin ist eine deutsche Lehrerin afghanischer Herkunft. Sie war eine Symbolfigur im Kopftuchstreit in Deutschland Ende der 1990er bis Anfang der 2000er Jahre. Sie unterrichtet seit fast 20 Jahren an einer privaten Grundschule in Berlin. In der Zwischenzeit hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass pauschale Kopftuchverbote mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Ihr Fall hat eine hitzige Debatte entfacht über die Frage, wie neutral die deutschen Behörden tatsächlich auftreten. Ihr autobiographisches Buch „Enthüllung der Fereshta Ludin“ ist 2015 im Levante Verlag erschienen.

Ludin: Ich denke, dass das wirtschaftliche Gründe hat. Es hat nicht unbedingt pädagogische Gründe. Im Mittelpunkt der schulpolitischen Entscheidungen stehen leider noch zu selten die Kinder und ihre individuellen Bedürfnisse.

Le-Mentzel: Werden die angehenden Lehrer_innen überhaupt richtig vorbereitet auf den Job? Mir scheint, Lehrer_innen müssen zunehmend sozialpädagogische Kompetenzen erlernen.

Ludin: Insgesamt verändert sich unsere Gesellschaft, und deswegen sind die Ansprüche, die Eltern an die Schulen haben, immer andere. Man müsste von Jahr zu Jahr die Entwicklungen der Schule, der Lehrkräfte, Elternarbeit und vor allem die pädagogischen Erfolge der Kinder auswerten und schauen, was brauchen unsere Kinder, wenn sie sich weiterentwickeln. Ich befürchte, dass die Tendenz eher dahin geht, dass man nicht nach den Bedürfnissen der Kinder schaut, was der Einzelne braucht, sondern eher fragt, wie wollen wir wirtschaftlich vorankommen und dahingehend werden Rahmenpläne gestaltet und staatliche Mittel zur Verfügung gestellt. Das muss ich als Pädagogin wirklich kritisieren.

Man spricht zum Beispiel von Diversity, Multikulturalität, interkulturelle Erziehung und Globalisierung. Aber man schafft nicht die Rahmenbedingungen für die Ausbildung der angehenden Lehrkräfte. Sie werden bildungspolitisch mit den genannten Herausforderungen oft alleine gelassen. Wenn ich an meine Studienzeit denke, da hatte ich ein Pflichtseminar namens „Ausländerpädagogik“. In den Großstädten gibt es viele Kinder mit unterschiedlichen Kulturen und religiösen Hintergründen und darauf sind Lehramtsanwärter_innen überhaupt nicht vorbereitet.

Le-Mentzel: Glaubt man aktuellen Studien, spiegeln die Lehrerzimmer die Diversität ihrer Klassen nicht wieder. 97 % aller Beamten bestehen aus weißen Personen. Nur 3% sind People Of Color. Im Klassenzimmer ist es oftmals genau umgekehrt. Ist das ein Problem?

Ludin: Auf jeden Fall. Allerdings beobachte ich auch eine bewusste strukturelle Diskriminierung. Es ist nicht so, dass es keine Bewerber*innen gibt für diesen Beruf, sondern es wird selektiert. Ich kann mich erinnern an eine Situation, als ich mich als Referendarin in Stuttgart beworben habe. Ich wurde abgelehnt mit dieser Begründung: „In dem Ballungsgebiet gibt es sehr viele muslimische Kinder und da wollen wir Sie nicht hinschicken, weil Sie da als Vorbild für die dienen.“ Und da dachte ich mir, was für ein schlimmes Vorbild ich denn sei, dass ich an diesem Ort nicht existieren darf.

Le-Mentzel: Ihre Mutter kannte diese Konflikte offenbar nicht. Sie war eine beliebte Lehrerin in Afghanistan. So beliebt, dass sie mehrfach zur besten Lehrerin der Stadt und sogar des Landes ausgezeichnet wurde. Eine Vollblutlehrerin und Respektperson. Wie hat Sie das beeinflusst?

Ludin: Da mein Vater sehr früh verstarb, habe ich sie eher als Mutter erlebt und nicht als Lehrerin. Ich erinnere mich daran, dass Sie mir mal erzählte, dass eine Kollegin aus Frankreich in die Schule kam und sie fand es bereichernd, dass die Kinder verschiedene Kulturen kennenlernen. Das war sie auch gewohnt aus Afghanistan, wo viele verschiedene Kulturen zu Hause sind.

Le-Mentzel: Ein Vielvölkerstaat mit 21 Ethnien.

Ludin: Meine Mutter hat nicht aufgegeben mich zu motivieren, das Positive in mir heraus zu kitzeln. Meine Mutter ist meine große Heldin.

Le-Mentzel: Ist es nicht unangenehm Lehrer als Eltern zu haben? Intellektualität meint nicht unbedingt Barmherzigkeit. Haben Ihre Eltern einen Leistungsdruck auf Sie ausgeübt? Ihr Vater war ja ein Karrieremensch, der es bis zum Minister geschafft hat.

Ludin: Meine Mutter war sehr geduldig mit mir. Sie hat gesehen, dass ich oft bei Null anfangen musste. Im Kindergarten in Deutschland, als ich mit vier in den Kindergarten kam, später in Saudi-Arabien, wo ich plötzlich eine völlig andere Sprache lernen musste.

Le-Mentzel: Nach Saudi-Arabien flüchtete gewissermaßen Ihre Familie auf der Suche nach einer neuen Heimat, nachdem die Sowjets Afghanistan eingenommen haben…

Ludin: Mein Vater musste auch oft von vorn anfangen. Aus Afghanistan in die USA, hat eine neue Sprache lernen müssen, hat dort studiert.

Le-Mentzel: Sie sprechen vier Sprachen fließend: Dari, arabisch, englisch und deutsch. Welche Sprache sprechen Sie mit Ihren Kindern?

Ludin: Persisch, weil es meine Muttersprache ist. Deutsch lernten sie wie von selbst. Und Englisch durch die Verwandtschaft.

Le-Mentzel: Was verändert sich, wenn man mit mehreren Sprachen aufwächst?

Ludin: Man kann sehr schnell sich in den Anderen hineinfühlen und auch Gesten besser deuten und Lebensweisen und Haltungen besser kennenlernen. Je mehr Sprachen man lernt, umso entspannter ist man in allem was man tut. Man erwartet nicht das Eine, sondern Verschiedenes. Man spürt in sich auch Verschiedenes. Verschiedene Ebenen, Horizonte. Das empfinde ich als sehr bereichernd. Wenn jemand in dem Raum auftaucht, der arabisch spricht, kann ich ihn verstehen und eine Verbindung aufbauen.

Le-Mentzel: Sie haben im Schwabenland das Refererendariat gemacht und erwähnen in Ihrem Buch die schwäbischen Wecken, die Sie hier in Berlin vermissen. Was stimmt nicht mit den Berliner Schrippen?

Ludin: Die haben einfach einen anderen Geschmack. Auf schwäbisch sagen wir „lätschig“, sehr weich und nicht so knusprig. Doch mehr hat mich aufgeregt, dass ich keine gescheiten Brezeln gefunden habe. Das hat sich aber zwischenzeitlich auch hier weiterentwickelt. Wir wissen ja, dass hier mittlerweile viele Schwaben wohnen (lacht).

Le-Mentzel: Ja Sie zum Beispiel! Schwäbische Einwanderer sollen im Prenzlauer Berg unbeliebt sein, habe ich mir sagen lassen (lacht). Man nennt das ja intersektionale Diskriminierung, wenn man aufgrund verschiedener Merkmale diskriminiert wird. Sie haben ja erlebt, als Muslima diskriminiert zu werden. Und vielleicht in Berlin nun auch als Schwäbin?

Ludin: Die schwäbische Kultur ist auch eine Kultur, wie es viele andere in Deutschland gibt. Mir sind sie sehr sympathisch, weil ich hierzu viele positive Bezüge habe. Meine Tochter ist ja dort auch geboren.

Le-Mentzel: Der Vater der Tochter ist ein weißer Schwabe. Ihre Tochter ist also eine waschechte Schwäbin. Spricht sie auch so?

Ludin: Nein (lacht), sie bevorzugt das Hochdeutsch.

Le-Mentzel: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie sich eine Generation wünschen, voll Offenheit, Energie und Kreativität. Wenn Ihre Tochter so alt ist wie Sie heute. Wie wird Europa dann aussehen?

Ludin: Ich wünsche mir, dass meine Tochter und allen Frauen bei der Realisierung ihrer Visionen keine Grenzen gesetzt werden. Aufgrund meines muslimischen Hintergrundes würde ich mir wünschen, dass das Thema Islam nicht so sehr im Vordergrund steht. Ich würde mir wünschen, dass meine Tochter als Frau nicht mehrfach diskriminiert wird. Ich wünsche mir, dass wir als alleinerziehende Frauen zum Beispiel nicht diskriminiert werden oder aufgrund unseres religiösen Hintergrundes. Dass wir nicht aufgrund unserer Herkunft und unseres Aussehens diskriminiert werden. Alle Menschen sollen die gleiche Chance bekommen, sich zu entwickeln.

Le-Mentzel: Das steht nahezu wortwörtlich auch so im Grundgesetz. Sie haben in Ihren Antworten gerade Artikel 2 und 3 zusammengefasst.

Ludin: Ich schätze an unserem Grundgesetz, dass man seine Identität auch in seiner Religiosität bewahren darf und es nicht verstecken oder besser gesagt verleugnen muss. Unsere Verfassung schützt die Religionsfreiheit und beinhaltet eine Neutralität und Offenheit gegenüber aller Religionen.

Le-Mentzel: Da wären wir dann bei Artikel 4.

Ludin: Denn Religion ist, wie auch keine Religion zu haben, ein Teil der Identität. Die religiösen Praktiken gehören dazu. Trotzdem bin ich für die Trennung von Staat und Religion, auch wenn mir beides viel bedeutet.

Le-Mentzel: Warum? Würde ein praktizierender Christ nicht bevorzugen, in einem christlichen Land zu leben? Ihnen als praktizierende Muslima würde doch ein muslimisches Land weniger Hürden bereiten.

Ludin: Nein, darauf kommt es nicht an.

Le-Mentzel: Als junges Mädchen verschlug es sie nach Saudi-Arabien, wo Ihr Vater als Ingenieur gearbeitet hat. Dort gilt der Islam als Staatsreligion. Sie haben dort mit dem strengen Wahabismus gehadert, der eine strikte Geschlechtertrennung vorsieht und Ungläubigkeit unter Strafe stellt. Kommt daher ihr Wunsch nach Säkularität?

Ludin: Ja. Der Missbrauch der Religion ist für mich nicht akzeptabel.

Le-Mentzel: Wussten Sie, dass in Artikel 6 „Jede Mutter hat den Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft“ steht? Solche Sätze tauchen auch in den heiligen Schriften auf, oder?

Ludin: Das wollte ich auch gerade sagen. Das Paradies liegt unter den Füßen der Mütter, hat der Prophet Muhammad gesagt. Und er hat auch zur besonderen Achtung der Mutter aufgefordert, dreimal mehr als beim dem Vater.

Le-Mentzel: Sie haben in Ihrem Buch Ihre Bewunderung für die Schwarze Bürgerrechtlerin Rosa Parks zum Ausdruck gebracht. Rosa Parks bestand darauf, im öffentlichen Bus sitzen zu dürfen, obwohl eine strikte Rassentrennung galt.

Ludin: Mich fasziniert, dass sie trotz der hoffnungslosen Situation, in der sie gelebt hat, wo eindeutig Weiße das Sagen hatten, eingesetzt hat für Gleichheit. Das imponiert mir heute noch sehr. Es wird zwar viel von Liberalität und Freiheit gesprochen, aber es gibt eben noch viele Menschen, die nicht teilhaben können an dieser Freiheit. Da gilt es, die Augen offen zu halten und immer wieder zu schauen, was fehlt den Menschen.

Le-Mentzel: Der Ramadan hat begonnen. Erinnern Sie sich an Ihr schönstes Fastenjahr?

Ludin: Ramadan in Istanbul! Als wir zum Fastenbrechen und Sonnenuntergang nach dem Ruf des Muezzins an so vielen verschiedenen schönen Orten dort in Zelten unser Fasten brechen konnten ohne dafür zu bezahlen. Es war märchenhaft schön!

Das Interview ist eine Zusammenfassung aus Gesprächen, die der MiGAZIN-Autor Van Bo Le-Mentzel im Mai 2018 im Rahmen eines Seminars an der Akademie für Illustration in Berlin mit Frau Ludin geführt hat.

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  1. FrankUnderwood sagt:

    Frau Ludin spricht bei ihrer Bewerbung als Referendarin von „struktureller Diskriminierung“.
    Allerdings spricht sie hier von ihrer eigenen persönlichen Erfahrung. Mir drängt sich deshalb die Frage auf, wann dieses Bewerbungsverfahren stattgefunden hat. Wenn ich Anfang der 1990er Jahre vermute (Info fehlt wie gesagt) und sie ihre Situation einfach mit der Gegenwart gleichsetzt, ist das mit Vorsicht zu genießen.
    Ich bezweifle, dass angehende Lehrer mit Migrationshintergrund heute noch „struktureller Benachteiligung“ unterliegen. Beispielsweise enthält so gut wie jede Stellenanzeige des öffentlichen Dienstes den Satz, dass „Bewerbungen von Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund oder einer Behinderung ausdrücklich begrüßt werden oder, dass diese sogar bevorzugt eingestellt werden“.

    Und bevor der Einwand mit dem Kopftuch folgt, ein Neutralitätsgesetz in einem säkularen Staat ist keine strukturelle Benachteiligung.

  2. karakal sagt:

    Die vorgebliche Neutralität des Staates ist doch nur ein Vorwand für diese Kopftuchverbote. Selbst wenn die Lehrerin kein Kopftuch trägt, wissen die Schüler meist, daß sie Muslima ist oder welcher Religion oder Weltanschauung der jeweilige Lehrer oder die Lehrerin folgt. Daher ist allein schon der Name „Neutralitätsgesetz“ ein Täuschungsversuch.
    Ich selbst empfinde den Staat als solchen schon nicht neutral, sondern als Bedrohung („Der Staat ist der bewaffnete Arm der Raubtierkapitalisten“ – eine passende Definition von irgend jemandem im Internet). Wenn die Richter aus jener Mitte der Gesellschaft kommen, die bereits von Islamophobie befallen ist, dann spielt es auch keine große Rolle mehr, ob sich der oder die eine von ihnen durch seine/ihre Kleidung oder Haartracht unterscheidet. Im Gegenteil: von einer Kopftuch tragenden muslimischen Richterin würde ich erwarten, daß sie Muslimen gegenüber eher Gerechtigkeit walten läßt als eine nichtmuslimische. Wenn es aber gar nicht erst eine muslimische Richterin gibt, weil das Kopftuchverbot als Berufsverbot wirkt …

  3. Otto W sagt:

    „Wenn es aber gar nicht erst eine muslimische Richterin gibt, weil das Kopftuchverbot als Berufsverbot wirkt …“

    Ganz schön entlarvend…damit disqualifizieren Sie sich