Interview mit NSU-Nebenklage
„Aufklärung nur mit Auseinandersetzung staatlicher Mitverantwortung.“
Die AnwältInnen Seda Başay-Yıldız und Carsten Ilius vertreten Adile Şimşek und Elif Kubaşık als NebenklägerInnen im kurz vor Urteilsverkündung stehenden NSU-Prozess. Im Interview sprechen sie über die Bedeutung von institutionellem und strukturellem Rassismus bei den Ermittlungen, das Unterstützungsnetzwerk des NSU, Leerstellen bei der juristischen Aufarbeitung der rechtsextremen Taten sowie notwendige Ansatzpunkte, um Rassismus auf unterschiedlichen Ebenen zu begegnen.
Von Ellen Kollender Mittwoch, 04.07.2018, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 09.01.2024, 11:02 Uhr Lesedauer: 31 Minuten |
Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık sind zwei der insgesamt zehn Opfer, deren Ermordung dem sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugeschrieben wird. 1 Şimşek wurde am 9. September 2000 in Nürnberg an seinem Blumenverkaufsstand niedergeschossen und erlag zwei Tage später seinen schweren Verletzungen. Kubaşık wurde am 4. April 2006 in Dortmund in seinem Kiosk ermordet. Die Ermittlungsbehörden verdächtigten ihn bis zur ‚Selbstenttarnung‘ des NSU fälschlich krimineller Machenschaften und seine Familie der Beteiligung an der Tat. Elif Kubaşık, die Witwe von MehmetKubaşık, erinnert sich:
Alle schauen einen feindselig an, und dann wird man auch noch von der Polizei beobachtet. Es gab niemand, der uns mit freundlichen Augen ansah. Es ging sogar so weit, dass die, die uns nicht so gut kannten, uns nicht mehr auf der Straße begrüßen wollten. […] Dann gab es diese Berichte in der Zeitung, in der stand, wir hätten Verbindungen zur Mafia in Istanbul gehabt. Dabei hatte ich bis dahin Istanbul noch nie gesehen. 2
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Auch die Witwe und die Tochter von Enver Şimşek – Adile und Semiya Şimşek – wurden in zahlreichen Vernehmungen durch die bayerischen Ermittlungsbehörden mit Behauptungen konfrontiert, die sich schließlich als falsch herausstellten: Şimşek sei Drogenkurier gewesen und habe sich in mafiösen Strukturen bewegt. In ihrem Buch „Schmerzliche Heimat“ beschreibt die Tochter, Semiya Şimşek, die Erfahrung der Kriminalisierung im Rahmen der Ermittlungen und dessen traumatisierenden Folgen für die Familie. Sie kritisiert vor allem, dass die Polizei einem möglichen rassistischen Mordmotiv nie gleichberechtigt nachgegangen sei 3.
Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland. Figurationen und Interventionen in Gesellschaft und staatlichen Institutionen.
Der Sammelband (Hrsg.: Mechtild Gomolla, Ellen Kollender und Marlene Menk) beschäftigt sich mit unterschiedlichen Facetten von Rassismus und Rechtsextremismus in ihren historischen Kontinuitäten und gegenwärtigen Ausprägungen im Kontext von Globalisierung, aktueller Fluchtmigration, der Herausbildung neuer rechter Bewegungen sowie der Aufarbeitung der NSU-Morde. Die Beiträge geben einen Überblick über aktuelle Forschungsperspektiven auf Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland sowie zentrale Definitionen, Begriffe und Kontroversen. Einen Schwerpunkt bildet die Verwurzelung rechtsextremer, rassistischer und anderer menschen(rechts)verachtender Orientierungs- und Handlungsmuster, Strukturen und Gewaltformen in staatlichen Institutionen und der sogenannten gesellschaftlichen Mitte. Der Band fragt zudem nach geeigneten bildungspolitischen und -praktischen Ansätzen, um in Gesellschaft und staatlichen Institutionen alltägliche (Diskriminierungs-)Muster von Rechtsextremismus und Rassismus zu durchbrechen.
Erschienen am 7. Februar 2018 im Beltz Verlag. Weitere Infos gibt es hier…
„Die auf rassistischen Stereotypen beruhende Kriminalisierung der Opfer war kein Einzelfall, sondern erfolgte in allen Fällen, in denen die Opfer des NSU-Terrors Migrant*innen waren. Daraus ergibt sich ein Muster von routinierten Verhaltensweisen, das als institutioneller Rassismus bezeichnet wird“, heißt es in der Anklageschrift, die im Rahmen des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“ von verschiedenen zivilgesellschaftlichen antirassistischen und migrantischen AkteurInnen im Mai 2017 am Schauspiel Köln verlesen wurde 4). In ihrer Anklage beziehen sich die AutorInnen auf eine Definition von institutionellem Rassismus, wie sie 1999 während der juristischen Aufarbeitung des Mordes am Schwarzen Teenager Stephen Lawrence von der von Sir Macpherson of Cluny geleiteten Untersuchungskommission in Großbritannien erarbeitet wurde. Diese wies der britischen Polizei nach, systematisch eine rassistische Tatmotivation in ihren Untersuchungen vernachlässigt und zum Nachteil der Familie des Opfers ermittelt zu haben 5).
Die AnwältInnen Seda Başay-Yıldız und Carsten Ilius vertreten Adile Şimşek und Elif Kubaşık als NebenklägerInnen im NSU-Prozess. Seit Beginn der Verhandlungen am 6. Mai 2013 vor dem Münchener Oberlandesgericht begleiten sie die juristische Aufarbeitung der deutschlandweiten Mordserie. Der Angeklagten Beate Zschäpe sowie vier weiteren mutmaßlichen UnterstützerInnen des rechtsextremen NSU werden, neben den zehn Morden, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Banküberfälle zur Last gelegt.
Başay-Yıldız und Ilius haben in der Vergangenheit mehrfach öffentlich die Ausblendung eines institutionellen und strukturellen Rassismus im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen wie auch der politischen und juristischen Aufarbeitung der NSU-Morde kritisiert (vgl. u.a. Schellenberg, Britta/Daimagüler, Mehmet/von der Behrens, Antonia/Başay-Yıldız, Seda/Ilius, Carsten/Doerfer, Achim (2016): Parallelbericht zum 19.-22. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland an den UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung (CERD). Institutioneller Rassismus am Beispiel des Falls der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) und notwendige Schritte, um Einzelne und Gruppen vor rassistischer Diskriminierung zu schützen. (Abfrage: 16.08.2017) [/efn_note]. Kurz vor dem Ende des NSU-Prozesses und der Urteilsverkündung haben wir, die Herausgeberinnen des Sammelbandes „Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland. Figurationen und Interventionen in Gesellschaft und staatlichen Institutionen“ (s. Kasten), mit Başay-Yıldız und Ilius in einem schriftlich geführten Interview über Figurationen von Rassismus und Rechtsextremismus im Kontext des NSU-Prozesses gesprochen. 6
Mechtild Gomolla, Ellen Kollender und Marlene Menk: Frau Başay, Herr Ilius, als NebenklagevertreterInnen haben Sie das Prozessgeschehen von Anfang an verfolgt. Was hat Sie persönlich im Laufe des Prozesses rückblickend besonders bewegt?
Seda Başay-Yıldız: Berührt haben mich besonders die Tatortfotos der Opfer, die wir uns im Gerichtssaal ansehen mussten. Natürlich sind alle Morde sinnlos. Aber dass ein Mensch nur deswegen umgebracht wird, weil er kein ‚Deutscher‘ im Sinne der Mörder war, ist schockierend. Auch die Erkenntnis, dass Menschen so weit gehen können, um ihren Rassismus zu verteidigen, war für mich erschreckend. Stellen Sie sich vor, diese Menschen töten Menschen, die sie nicht kennen, nur weil es „Scheiß Kanacken“ sind und nur um „den Erhalt der Deutschen Nation zu sichern“.
Sie erkennen an den Bildern der Leichen den unbeschreiblichen Hass und den absoluten Vernichtungswillen der TäterInnen. Für die Opferangehörigen, die anfangs an dem Prozess teilgenommen haben und sich auch das Bekennervideo des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes angeschaut hatten, war das unerträglich. Für die von mir vertretene Opferfamilie Şimşek war das Foto von Enver Şimşek erschütternd, das die Täter kurz nach der Tat von dem zunächst Schwerverletzten gemacht hatten, mit dem Hinweis im Bekennervideo „Jetzt weiß auch Enver Şimşek wie wichtig uns der Erhalt der deutschen Nation ist“.
Auch bin ich bei den Gesprächen mit den Angehörigen immer wieder bestürzt, wie die Ermittlungsbehörden mit ihnen umgegangen sind. Sie verlieren einen geliebten Menschen durch einen brutalen Mord, wissen nicht, wer das getan hat und werden jahrelang verdächtigt.
Berührt haben mich auch die ZeugInnenaussagen der Familienangehörigen im Prozess. Die Aussage von Ismail Yozgat, der schilderte, wie sein Sohn Halit Yozgat in seinen Armen gestorben ist sowie die Aussage von Frau Kiliç, die eindrucksvoll berichtete, wie sie jahrelang wie eine Verdächtige behandelt wurde und das Blut ihres Mannes Habil Kiliç im Laden selbst reinigen musste – eine gebrochene, stark traumatisierte Frau, die all die Jahre hin- und hergeschoben wurde und sich immer wieder sagte, dass das Leben weitergeht, die aber irgendwann nicht mehr konnte. Frau Kiliç war es auch, die Frau Zschäpe während ihrer Aussage im Prozess direkt ansprach und fragte: „Was habt ihr von ihm gewollt? Er war ein guter Mensch und ein Deutscher“. Kiliç wurde darauf vom Vorsitzenden Richter mit erhobener Stimme zurechtgewiesen. Es tat mir leid, zu sehen, wie mit ihr umgegangen wurde. Wieder war sie die ‚Verantwortliche‘…
Carsten Ilius: Ich kann mich Seda Başay-Yıldız hier in Bezug auf die Aussagen der Angehörigen nur anschließen. Das war zum Teil sehr schwer auszuhalten. Für die Familien der Mordopfer und die Betroffenen der Bombenanschläge war es auch erschreckend zu erleben, dass nur einer der vielen aussagenden PolizeibeamtInnen sich für die rassistischen Ermittlungen gegen die Familien vor dem 4. November 2011 im Prozess entschuldigte. Entsprechende Entschuldigungen hatte es zuvor ja schon nicht gegeben. Dieses Verhalten deckt sich leider mit meinen beruflichen Erfahrungen.
Der NSU-Prozess steht nun kurz vor der Urteilsverkündung. Neben den gerade geschilderten Eindrücken und Erfahrungen: Welche Bilanz ziehen Sie aus dem Verlauf des Prozesses, insbesondere im Hinblick auf die Rolle der Ermittlungsbehörden bei der Aufarbeitung der Mordserie?
Başay-Yıldız: Im Laufe des Prozesses ist für mich deutlich geworden, dass der Rassismus in den Sicherheits- und Ermittlungsbehörden tief verankert ist. Die Ermittlungsakten zu den einzelnen NSU-Morden und die Vermerke der ErmittlungsbeamtInnen lassen erkennen, dass die Ermittlungen immer nur einseitig verliefen, d.h. in Richtung der Opfer beziehungsweise gegen die Opfer. Seitens der Ermittlungsbehörden wurde fast ausschließlich die These verfolgt, dass sowohl TäterInnen als auch Opfer in die organisierte Kriminalität verstrickt waren und es sich daher um eine „Milieutat“ handelt.
Beispielsweise ist vier Tage nach dem Tod des ersten Mordopfers, Enver Şimşek, einem polizeilichen Vermerk zu entnehmen, dass im „Hinblick auf Unterlagen bei Steuerberater und Bank ein Zusammenhang mit Rauschgift geprüft werden muss“. Dabei gab es zu diesem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen nicht einen einzigen Anhaltspunkt in diese Richtung. Tags zuvor wurde der LKW des Opfers bereits ohne Erfolg auf Betäubungsmittel durchsucht. Trotzdem hielten die ErmittlerInnen weiterhin an ihrer stereotypen Gedankenkette fest. Lediglich der Umstand, dass die Familie relativ gut mit dem Blumenhandel verdient hat, machte sie verdächtig. Dies könne nicht nur durch Blumenhandel erfolgen und müsse andere Gründe haben, so die ErmittlerInnen. Andere Möglichkeiten wurden erst gar nicht in Betracht gezogen – und wenn überhaupt sehr verspätet, um sie dann allerdings schnellstmöglich wieder auszuschließen.
Dabei äußerten bereits während der Ermittlungen mehrere Opferangehörige die Vermutung, dass die Taten rassistisch motiviert sein könnten. Diese Hinweise wurden seitens der BeamtInnen übergangen beziehungsweise. nicht ernst genommen. Stattdessen ermittelte man weiterhin intensiv bei den Opferfamilien. An fast allen Tatorten gab es außerdem ZeugInnen, die die mutmaßlichen TäterInnen vom Äußeren her eher nicht als ‚Südländer‘, sondern als Deutsche beschrieben. Diesen Aussagen wurde im Rahmen der Ermittlungen fast gar nicht nachgegangen.
Ilius: Ich fand es insbesondere nicht zu fassen, dass im Prozess immer wieder herausgearbeitet wurde, dass die Mordkommissionen auch nach dem achten und neunten Mord in Dortmund und Kassel im April 2006, das heißt vor dem Auffliegen des NSU am 4. November 2011 in Dortmund und Kassel strukturell rassistisch an den Motiven ‚Ehre‘, PKK, Mafia etc. und damit an den Ermittlungen gegen die Familien und ihr Umfeld festhielten. Dies geschah auch noch nach der Anfertigung eines Profilerberichts im Jahr 2006, der ein rassistisches Motiv für die Morde für wahrscheinlich hielt. Selbst in Bezug auf den Mord an Michèle Kiesewetter ermittelte die dortige Mordkommission zeitweise in strukturell rassistischer Art und Weise gegen Roma. 7 Insoweit stellen die Akten über die Ermittlungen bis zum Jahr 2011 eine Art empirische bundesweite Studie über die strukturell rassistische Ermittlungsweise deutscher Polizeibehörden dar.
Bezüglich der von uns als NebenklagevertreterInnen angestrebten Aufklärung des NSU-Netzwerkes im Prozess haben drei Punkte das Verfahren wesentlich geprägt: Erstens die nur sehr oberflächlichen Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft nach dem 4. November 2011 im Hinblick auf das UnterstützerInnennetzwerk in Zwickau und an den verschiedenen Tatorten. Vorherige Ermittlungsdefizite konnten auch während des Prozesses nicht mehr ausgeglichen werden. Die Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft in dieser Zeit zeigen geradezu ein Desinteresse an den weiteren Unterstützerstrukturen des NSU.
Die zweite strukturelle Schwierigkeit war der nachlässige Umgang der Generalbundesanwaltschaft, aber auch des Gerichts, mit den Dutzenden von offensichtlich lügenden NazizeugInnen. Es wurde auf die ZeugInnen kein Druck im Rahmen der Verfahrensregeln – beispielsweise durch die Androhung von Strafanzeigen bei Falschaussagen oder eine stärkere konfrontative Befragung durch das Gericht oder die Generalbundesanwaltschaft – ausgeübt, um zu wahrheitsgemäßen Aussagen zu kommen, die wesentlich weiter zur Aufklärung der Taten und der Struktur des NSU hätten beitragen können.
Schließlich – und drittens – wurde das Verfahren auch geprägt durch die Einstellung der Verfassungsschutzbehörden, die in absurder Weise in ihrer Art des Mauerns das Interesse am Schutz von V-Leuten über das Interesse insbesondere der Familien an der Aufklärung der Verbrechen sowie an der im Prozess möglich gewesenen Wiederherstellung des Vertrauens der Bevölkerung in die staatlichen Sicherheitsbehörden gestellt haben.
Başay-Yıldız: Die Sicherheitsbehörden hätten die Gefahr, die von der rechten Szene ausging, erkennen müssen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wusste bereits in den 1990ern von der Bewaffnung und Radikalisierung der rechten Szene. Die Behörden haben da auf ganzer Linie versagt. Vielmehr haben sie mit den an die zahlreichen V-Leute gezahlten Geldern dazu beigetragen, rechte Netzwerke zu stärken und aufzubauen. Eine Aufklärung – und diese ist seitens der Kanzlerin versprochen worden – ist letztendlich nur dann möglich, wenn auch eine Auseinandersetzung mit der staatlichen Mitverantwortung stattfindet.
Der Verdacht, dass die Verfassungsschutzämter Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt schon seit vielen Jahren beobachtet hatten, wurde bereits von unterschiedlicher Seite geäußert. Vom Verfassungsschutz wurde dies allerdings nie öffentlich zugegeben. Auf welche Informationen stützen Sie sich hier?
Başay-Yıldız: Es ist inzwischen aktenkundig, dass die Verfassungsschutzämter das NSU-Trio und deren UnterstützerInnenumfeld überwacht haben. Beispielsweise war in einer Ausgabe des Neonazi-Fanzines „Der Weisse Wolf“ im Jahr 2002 ein in Fettdruck isolierter Text zu lesen: „Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen ;-) Der Kampf geht weiter…“ (Heft Nr. 18). „Der Weisse Wolf“ war als „Rundbrief für Kameraden“ im Jahre 1996 in den brandenburgischen Justizvollzugsanstalten gegründet worden und hatte sich zu einem führenden und bestens vernetzten Heft der Neonaziszene in Mecklenburg-Vorpommern entwickelt. Das Heft wurde seitens der einzelnen Verfassungsschutzämter überwacht. Hintergrund der Danksagung im Fanzine war eine Geldspende des NSU. Die Information über die hohe Spende an den „Weissen Wolf“ erreichte im Frühjahr 2002 durch V-Leute auch das Bundesamt für Verfassungsschutz. Spätestens 2002 – wenn nicht schon lange vorher – war demnach dem Verfassungsschutz die Existenz einer Organisation oder Gruppe mit dem Namen NSU bekannt, die über erhebliche Barmittel verfügt.
Auch ist einem geheimen Vermerk des Innenministeriums Brandenburg zu entnehmen, dass diesem bereits im September 1998 konkrete Informationen zu Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt vorlagen, die auf den Angaben eines V-Mannes (Jan W.) basierten. Diese Informationen wurden nicht an die Ermittlungsbehörden weitergeleitet. Hier heißt es zu den drei Gesuchten, gegen die zu dieser Zeit bereits – unter anderem aufgrund eines Sprengstofffundes in einer Garage in Jena – Haftbefehl vorlag:
Sie [gemeint ist das Trio] beabsichtigen eine Ausreise nach Südafrika. Jan W. hat persönlichen Kontakt zu den drei Skinheads, er soll den Auftrag haben, die drei mit Waffen zu versorgen, Gelder dafür hätte die „Blood & Honour“-Sektion Sachsen bereitgestellt. Die Gelder stammten aus Einnahmen von Konzerten und dem CD-Verkauf. Vor der beabsichtigten Flucht nach Südafrika, würde das Trio einen weiteren Überfall nach dem Erhalt der Waffen planen. Dem weiblichen Teil des Trios will Antje P. ihren Pass zur Verfügung stellen. P. und W. sollen unabhängig voneinander und ohne das Wissen des anderen für die drei tätig sein.
Ein weiterer V-Mann, der für das Bundesamt für Verfassungsschutz tätig war, hat diesem zudem gegenüber angegeben, mit dem Umfeld des Trios Kontakt gehabt zu haben. Er, der V-Mann, habe in der rechten Szene von dem Untertauchen erfahren und sei gefragt worden, ob er das Trio verstecken könne. Er habe dies dem Bundesamt mitgeteilt und von dort habe man ihn angewiesen, dies abzulehnen. Aus diesem Wissen schließe ich, dass die einzelnen Verfassungsschutzämter Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt und deren UnterstützerInnenumfeld in Chemnitz bereits seit vielen Jahren überwacht haben. Es drängt sich mir hier der Verdacht auf, dass Morde und Anschläge des NSU bei Nutzung dieses Wissens durch die Sicherheitsbehörden hätten verhindert werden können.
In der Vergangenheit hieß es vor allem in den verschiedenen Untersuchungsausschüssen immer wieder, bei den Ermittlungen sei von Seiten der Verfassungsschutzämter ‚gemauert’ und ‚geschwiegen‘ worden. Teilweise wurde der Vorwurf laut, der Verfassungsschutz habe das Trio beim Untertauchen regelrecht unterstützt. Der Staatsanwalt Heiko Artkämper, der unter anderem an der Anklageschrift für den NSU mitarbeitete, hat im dritten Untersuchungsausschuss des Bundestages zum wiederholten Mal ausgesagt, dass die deutschen Ermittlungsbehörden vor November 2011 keine Kenntnis von der rechten Terrorzelle des NSU gehabt hätten. Wie erklären Sie sich die anscheinend fehlende Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutz?
Başay-Yıldız: Ich denke, die Verfassungsschutzämter haben mit ihrer Arbeit vor allem das Ziel verfolgt, Informationen über Leben und Netzwerke von Neonazis im Untergrund zu erhalten. Die Ämter haben die Strafverfolgungsbehörden deshalb in gewisser Hinsicht gesteuert und Informationen nicht weitergegeben, um eine Festnahme der Drei zu verhindern. Dies geschah alles, obwohl den einzelnen Verfassungsschutzämtern bekannt war, dass die drei Personen eine militant neonazistische, antisemitische und rassistische Einstellung hatten. Auch die Kenntnis des Umstandes, dass die drei Personen untergetaucht waren, weil sie Rohrbomben mit TNT in einer Garage gebaut hatten, führte nicht zu einer Festnahme.
Die Generalbundesanwaltschaft unterstützte in gewisser Hinsicht diese Mauerungstaktik. Sie wollte mit aller Macht die einzelnen Verfassungsschutzbehörden aus dem Prozess in München heraushalten. Dies geschah in der Form, dass Akten der einzelnen Verfassungsschutzämter von den jeweiligen Verfassungsschutzbehörden nicht herausgegeben wurden beziehungsweise die Bundesanwaltschaft deren Beiziehung kategorisch ablehnte. Als Begründung wurden das Geheimhaltungsinteresse der Behörde und der Quellenschutz genannt. Die Aufklärungspflicht des Staates und damit auch der grundrechtlich geschützte Anspruch auf ein faires Verfahren für alle Beteiligten ergeben eine Interessenabwägung zugunsten der Verfahrensbeteiligten und überwiegen somit das Geheimhaltungsinteresse der Behörden. Dieser Umstand wurde jedoch zur großen Enttäuschung unserer MandantInnen schlichtweg ignoriert.
Ilius: Nach anfänglicher Weigerung hat im November 2016 zumindest die Staatsanwaltschaft Köln strafrechtliche Ermittlungen gegen Lothar Lingen eingeleitet, der zum Zeitpunkt des Auffliegens des NSU Leiter der Abteilung Rechtsextremismus beim Bundesamt für Verfassungsschutz war. Dieser hatte im Oktober 2014 in einer erst jetzt bekannt gewordenen Vernehmung durch die Generalbundesanwaltschaft zugegeben, dass er kurz nach dem Auffliegen des NSU Akten von V-Leuten aus dessen Umfeld mit der Absicht hatte vernichten lassen, sie den Ermittlungen zu entziehen.
Im NSU-Prozess sind aktuell fünf Personen als mögliche UnterstützerInnen identifiziert und angeklagt: Beate Zschäpe, Ralf W., André E., Holger G. und Carsten S.. Wie Sie eben bereits ansprachen, Herr Ilius, hat die Bundesanwaltschaft nicht auf die Forderung reagiert, die Anklageschrift auf einen breiteren UnterstützerInnen-Kreis auszuweiten. Dabei hat sich der NSU selbst als „Netzwerk“ bezeichnet. Zum Beispiel im BekennerInnenvideo, wo es heißt: „Der NSU ist ein Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz: Taten statt Worte“. Was wissen Sie über dieses Netzwerk?
Ilius: Über die tatsächliche Größe des NSU-Netzwerkes besteht immer noch Unklarheit. Allerdings können wir über Teile des Netzwerkes klare Aussagen machen. So wissen wir aus dem Prozess und den verschiedenen Untersuchungsausschüssen auf Ebene des Bundestages sowie der Landesparlamente, dass es sowohl in Thüringen als auch in Chemnitz, wo das Trio von 1998 bis 2000 ‚untergetaucht‘ war, ein dichtes UnterstützerInnennetzwerk gab, aus dem heraus Waffen besorgt, Wohnungen angemietet und Geld für das Trio organisiert wurden. Zentrale UnterstützerInnenstruktur war dabei das überregional organisierte ‚Blood and Honour’-Netzwerk. Die vier zentralen ‚Blood and Honour’-Funktionäre in Chemnitz waren zugleich die wichtigsten Unterstützer des Trios in der Zeit in Chemnitz. Wir haben zugleich in der Verhandlung von einem der Vier erfahren, dass das Trio sich in der Chemnitzer Zeit recht offen und frei dort bewegt hat, man sei zusammen in die Kneipe und zum Grillen gegangen. Darüber hinaus ist auch in Zwickau von einer Unterstützung durch die lokale Naziszene auszugehen. Es gab viele Querverbindungen der Chemnitzer Unterstützerszene nach Zwickau. Zudem gibt es Indizien für einen persönlichen Kontakt von Ralf M., der zentralen Nazifigur in Zwickau, der zugleich V-Mann des Bundesverfassungsschutzes war, zu dem NSU-Trio.
Eine andere Stadt, die Tatort eines Mordes des NSU war und bezüglich derer viele Indizien für eine örtliche Unterstützung des NSU sprechen, ist Dortmund. Dort wurde am 4. April 2006 Mehmet Kubaşık ermordet. Es gab dort eine ‚Combat 18’-Gruppe (der bewaffnete Arm von ‚Blood and Honour’). Diese hatte nach Medienberichten geplant, in den Untergrund zu gehen. Die Gruppe soll sich über das ‚Blood and Honour’-Netzwerk in Belgien bereits Waffen besorgt haben, sich aber nach Zeitungsberichten und dem Untersuchungsausschussbericht aus NRW dann ganz überraschend im Frühjahr 2006 aufgelöst haben. In dieser Szene in Dortmund gab es auch einen V-Mann des Verfassungsschutzes NRW. Zentrale Figuren der ‚Blood and Honour’-Szene um die Band ‚Oidoxie’ in Dortmund hatten darüber hinaus sehr enge Kontakte in das Umfeld des NSU in Thüringen und nach Kassel, wo am 6. April 2006 Halit Yozgat vom NSU ermordet wurde. Das alles verweist darauf, dass die enge Aufeinanderfolge der Morde in Dortmund und Kassel möglicherweise in der Verflechtung der ‚Blood and Honour’-Szenen von Kassel und Dortmund und deren Kontakte zum NSU begründet liegt.
Başay-Yıldız: Im Zuge der Zielfahndung nach dem Trio ab dessen Untertauchen im Jahr 1998 fanden umfangreiche Telefonüberwachungsmaßnahmen im Unterstützungsumfeld in Jena und im Chemnitzer ‚Blood and Honour’-Umfeld statt. Erhalten sind heute die sogenannten S-Records, also die Verbindungsdaten und SMS. Hieraus geht unter anderem hervor, dass das Trio bis zu seiner Enttarnung im Jahr 2011 Kontakt zu Personen aus der rechten Szene hatte. Gegen einige Personen aus diesem Kreis führt die Generalbundesanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren. Über das weitere Unterstützerumfeld ist dennoch bisher wenig bis nichts bekannt.
Wir beobachten, dass Personen aus der rechten Szene, bei denen klar ist, dass sie Kenntnisse über das Trio haben, bei ihren Vernehmungen keine Angaben zum Trio machen beziehungsweise sich auf Erinnerungslücken berufen. Obwohl offensichtlich ist, dass sie Wissen zurückhalten beziehungsweise lügen, bleibt dies zumeist ohne Konsequenzen. Das zeigt sich auch daran, dass es fast fünf Jahre nach der Enttarnung des NSU keine einzige weitere Anklage gibt. Es ist infolgedessen davon auszugehen, dass auch nach dem NSU-Prozess keine weitere Anklage erfolgen wird. Dass viele Ermittlungsansätze seitens der Generalbundesanwaltschaft überhaupt nicht weiter verfolgt wurden, bestätigen auch die Ergebnisse des zweiten und dritten Bundestagsuntersuchungsausschusses. Es deutet sich an, dass die noch laufenden Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche UnterstützerInnen eingestellt werden. Die staatliche Mitverantwortung soll damit ausgeklammert werden. Anders ist diese Vorgehensweise nicht zu erklären. Am Ende wird es lediglich ein Urteil gegen die in München angeklagten Personen geben.
Der Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten, der die Bundesanwaltschaft im NSU-Prozess vertritt, sagte vor dem Untersuchungsausschuss vor einiger Zeit, dass es nicht möglich sei, gegen die gesamte rechtsradikale Szene einer Stadt oder Region zu ermitteln, ohne konkrete Anhaltspunkte für die Verwicklung von einzelnen Personen in Straftaten zu haben. „Ich kann nicht nach einem Mittäter suchen, solange ich keine Anhaltspunkte dafür habe, dass es einen Mittäter gibt“, so Weingarten. Sind der Anwaltschaft tatsächlich in gewisser Hinsicht die Hände gebunden, weitere Anklagen zu erheben? Was wären Ihrer Meinung nach notwendige Mittel und Wege?
Ilius: Wie schon beschrieben, hat es nach dem 4. November 2011 sehr wohl eine Vielzahl von Anhaltspunkten für Kontakte und damit für eine mögliche Unterstützung des NSU von regionalen Naziszenen wie in Zwickau oder Dortmund gegeben. Aufgrund dieser Hinweise hätten die Ermittlungen damals sehr viel intensiver hinsichtlich des Netzwerks NSU geführt und Strukturermittlungsverfahren eingeleitet werden müssen. Dann hätte man erst über mögliche Anklagen entscheiden können und müssen. Dies ist versäumt worden und heute wohl bittererweise nicht mehr nachholbar. Im Fall der Städte Zwickau und Dortmund wäre es gerade nicht um eine Ermittlung „gegen die Szene“, die beispielsweise in Dortmund viel größer als das Umfeld der Gruppe ‚Oidoxie‘ ist, sondern um die Untersuchung konkreter Anhaltspunkte gegangen.
Başay-Yıldız: Indem es heißt, dass es bei den NSU-Morden keine Anhaltspunkte für rassistisch-motivierte Taten beziehungsweise TäterInnen gegeben habe und deshalb nicht in diese Richtung ermittelt wurde, wird die Vorgehensweise der ErmittlungsbeamtInnen immer wieder gerechtfertigt. Diese Engstirnigkeit hat am Ende zehn Menschen das Leben gekostet. Nunmehr wird mit genau derselben Argumentation vorgetragen, dass es keine Anhaltspunkte für MittäterInnen gäbe. Es wird daher nicht ermittelt. Dabei gab es, wie Carsten Ilius sagte, Anhaltspunkte für Kontakte, aber diesbezügliche Ermittlungen wurden nicht aufgenommen.
Neben der Aufdeckung der Netzwerkstrukturen, ist von Ihrer Seite sowie von anderen NebenklagevertreterInnen in der Vergangenheit immer wieder eine stärkere Fokussierung der Dimension des strukturellen und institutionellen Rassismus im Rahmen der Auseinandersetzung mit behördlichen Ermittlungsfehlern im Kontext der NSU-Morde gefordert worden. Wie Sie zu Beginn bereits ansprachen, gibt es zahlreiche Anzeichen dafür, dass die Ermittlungen in der Mordserie auf vielfältige Weise durch ein gesellschaftlich breit verankertes rassistisches Wissen angeleitet waren. In den bisherigen Berichten des Untersuchungsausschusses des Bundestages ist von strukturellem sowie institutionellem Rassismus allerdings keine Rede. Die Bundesregierung, die sich in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Juli 2015 auf den Bericht beruft, vertritt nach wie vor die Position, dass sie in Bezug auf Rassismus „keinen Ansatz für die Feststellung eines Strukturproblems“ erkennen könne. Warum tut sich die Regierung so schwer mit der Anerkennung dessen? Warum wäre dies Ihrer Meinung nach aber wichtig?
Ilius: Deutschland, als sich selbst als ‚postnazistisch‘ wahrnehmende Gesellschaft, hat meiner Auffassung nach immer noch ein großes Problem mit der alltäglichen Realität von Rassismus und Antisemitismus in Deutschland. Dies hat sicher zum einen damit zu tun, dass es vor allem in den Familien eben doch keine wirkliche Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit und der gesellschaftlichen Prägung durch den Nationalsozialismus gegeben hat. Die Thematisierung von Rassismus stört die klare Abgrenzung von der Vergangenheit – es ist eben dann nicht mehr alles so gut im demokratischen Deutschland der ‚biodeutschen‘ Mitte. Gerade Alltagsrassismus in Gesellschaft, Schulen, Polizei und Gerichten stört dieses Bild doch sehr. Deswegen ist der Begriff der ‚Fremdenfeindlichkeit‘ sicher auch so beliebt, auch im Gerichtssaal. Der klingt nicht ganz so sehr danach, als hätte er wirklich etwas mit ‚uns‘ zu tun. Darüber hinaus geht es sicher auch in der breiten Gesellschaft um die Absicherung gesellschaftlicher Herrschaft. Noch ist es eben so, dass die ‚biodeutsche’ Ober- und Mittelschicht den Großteil der gesellschaftlich relevanten Posten unter sich verteilt. Unter anderem über das deutsche Schulsystem, welches durch strukturellen Rassismus geprägt ist, verfestigt sich ein solches gesellschaftliches Ungleichgewicht.
Başay-Yıldız: Es ist eine Verhöhnung der Opferangehörigen, wenn immer noch gesagt wird, dass es „keinen Ansatz für die Feststellung eines Strukturproblems“ bei der Polizei gäbe – und dies obwohl sich aus den Ermittlungsakten der einzelnen NSU-Morde explizit ergibt, dass die BeamtInnen eindeutig rassistische Denkweisen aufgezeigt haben. Ich verstehe bis heute nicht, warum dies trotz deutlicher Hinweise und Vermerke in den Akten immer noch in Abrede gestellt wird. Weil die Auseinandersetzung mit diesem Problem fehlt, wird sich, so befürchte ich, auch in Zukunft nichts ändern.
Wie muss institutionellem beziehungsweise strukturellem Rassismus auf den unterschiedlichen Ebenen begegnet werden? Wie kann dabei auch der Gefahr entgegengewirkt werden, dass die Verantwortung für Rassismus nicht allein wiederum auf die einzelne Beamtin beziehungsweise den einzelnen Beamten übertragen wird?
Ilius: Wir brauchen in Zukunft eine Möglichkeit für Opfer rassistischer Polizeiarbeit, sich effektiv beschweren zu können. Diese Option fehlte in Bezug auf die Ermittlungen zum NSU vor 2011. Erfolgreiche Ansätze in Bezug auf Polizeibeschwerdestellen existieren bereits etwa in Nordirland oder England. In Nordirland gibt es zum Beispiel ein sehr gut funktionierendes Ombudsmannbüro, welches im Rahmen des dortigen Friedensprozesses entstanden ist. PolizeibeamtInnen müssen im Falle von Rechtsverstößen und insbesondere Diskriminierungen ernsthaft befürchten, rechtlich belangt zu werden. Auch in Deutschland, insbesondere in Berlin, gibt es aktuell eine intensive Diskussion zur Schaffung von unabhängigen Beschwerdestellen sowohl für Betroffene von rassistischer Gewalt durch die Polizei als auch in Schulen. 8
Darüber hinaus ist es von großer Wichtigkeit, dass die Beratungsstellen für Opfer rassistischer Gewalt gestärkt werden. Gerade im Hinblick auf die derzeitige Welle rassistischer Angriffe befinden sich deren MitarbeiterInnen absolut am Rande ihrer Kapazitäten, insofern es regional überhaupt solche Stellen gibt. 10
Başay-Yıldız: Wichtig wäre es auch gewesen, die Rechte der Angehörigen im Prozess zu stärken und ihnen einzuräumen, für sie drängende Fragen in den Prozess einzubringen. Vor allem Fragen der Angehörigen zu den strukturell rassistischen Ermittlungen der Polizei wurden hier allerdings stets mit der Begründung abgelehnt, dass sie mit der Tat- und Schuldfrage der hiesigen Angeklagten nichts zu tun hätten. Die einzige Möglichkeit der Opferangehörigen, ihr Fragerecht in Bezug auf die ErmittlungsbeamtInnen auszuüben, war der Prozess in München. Andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel ein Fragerecht in den Untersuchungsausschüssen, hatten und haben die Angehörigen nicht. Leider wurde ihnen diese einzige Möglichkeit verwehrt. Auch deswegen wird die Frage, wie die Opfer in den jeweiligen Städten ausgesucht wurden, letztlich wohl nicht aufgeklärt werden. Dabei wäre es für meine MandantInnen enorm wichtig gewesen zu wissen, wie die Opferauswahl getroffen wurde und wer an der Vor- und Nachbereitung der Tat beteiligt war. Ob in der Nähe der jeweiligen Tatorte UnterstützerInnen des Trios leben, werden wir nun wahrscheinlich nie erfahren.
Der Bundestag hat im März 2015 ein Gesetz verabschiedet, mit dem Defizite bei der Verfolgung rassistischer Straftaten behoben werden sollen. Das Gesetz sieht eine verstärkte Zuständigkeit der Generalbundesanwaltschaft bei derartigen Delikten vor. Darüber hinaus will es „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Beweggründe und Ziele bei der Strafzumessung“ stärker berücksichtigen. Dadurch, so heißt es, „soll unterstrichen werden, dass auch die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen schon frühzeitig auf solche für die Bestimmung der Rechtsfolgen bedeutsamen Motive zu erstrecken hat“. Glauben Sie, dass es durch ein solches Gesetz gelingen kann, institutionellen ‚Bewusstseins- und Erkenntnislücken‘ in Sachen rassistischer Kriminalität künftig besser zu begegnen?
Ilius: Leider werden Gesetzesänderungen meiner Auffassung nach das Problem nicht lösen. Das Problem besteht vielmehr auf der Anwendungsebene. Solange Staatsanwaltschaft und Gerichte rassistische Motive nicht in ausreichender Art und Weise würdigen und ernst nehmen, solange Polizeibehörden nicht entschieden rassistische Taten ermitteln, werden Gesetzesänderungen nichts am Grundproblem ändern. Ich denke, dass die Ausbildung in den Sicherheitsbehörden insgesamt kritischer in Bezug auf rassistische Diskriminierung auf allen Ebenen der Gesellschaft erfolgen muss. Zudem braucht es klare Handlungsanweisungen an Staatsanwaltschaft und Polizei, die kontrolliert werden müssen. Bisher ist aber nicht einmal in den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) festgelegt, dass bei Beleidigungsdelikten – einem beträchtlichen Teil rassistischer ‚Alltagskriminalität‘ – bereits aus öffentlichem Interesse grundsätzlich Klage erhoben werden muss. Stattdessen werden die Betroffenen nach wie vor auf den sehr kostenlastigen ‚Privatklageweg‘ verwiesen, auf dem sie selbst einen Prozess gegen den ‚Täter‘ führen müssten und der deswegen so gut wie nicht genutzt wird.
Başay-Yıldız: Ich sehe das Problem ebenfalls auf der Anwendungsebene. Solange das Problem von rassistischen Denkweisen insbesondere bei den Ermittlungsbehörden nicht erkannt wird, findet auch keine Auseinandersetzung damit statt. Allein Gesetze zu ändern, hilft da nicht weiter.
Von der Aufarbeitung der NSU-Morde und den gezogenen Konsequenzen auf politischer und rechtlicher Ebene einmal abgesehen: Wie beurteilen Sie die Anteilnahme der Medien und der Zivilgesellschaft am Prozessgeschehen?
Ilius: In Bezug auf die Medien ist sehr interessant, dass die große Geschichte, die der NSU-Komplex gesellschaftspolitisch darstellt, von den Medien kaum erzählt wurde. Wie konnte die Naziszene in den 1990er Jahren in Ost und West so stark und so radikal werden? Wieso konnten Ermittlungsbehörden im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eigentlich so rassistisch ermitteln? Wieso wurde die von einigen Medien als „Dönermorde“ bezeichnete Mordserie nicht als deutsche, sondern nur als türkische Mordserie betrachtet? Wieso wurden und werden türkeistämmige Menschen in weiten Teilen der Bevölkerung – gerade des ‚biodeutschen‘ Mittelstandes – auch in dritter Generation nicht selbstverständlich als Deutsche betrachtet? Wieso ist und war die deutsche Staatstreue so groß, dass man deutschen BeamtInnen immer quasi bedingungslos vertraut? Wo steht unsere postnazistische Gesellschaft in ihrem Umgang mit staatlich-hierarchischen Strukturen und gesellschaftlichem Rassismus? Die Medien haben viele dieser Fragen nicht aufgegriffen. Auch in der gesellschaftlichen Diskussion sind sie bis heute weitestgehend unbeantwortet.
Başay-Yıldız: Es ist sicher insgesamt ein Problem, dass der NSU-Komplex nicht genug gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat. Auch von der gesellschaftlichen Linken gibt es zum Teil, aus Angst vor dem Vorwurf Verschwörungstheorien anzuhängen, nicht genug Druck und Interesse an der Rolle der Verfassungsschutzbehörden im NSU-Komplex. Es herrscht insoweit eine erstaunliche Staatstreue, die es schwer vorstellbar erscheinen lässt, dass die Taten quasi vor den Augen verschiedener Verfassungsschutzbehörden geschehen sein könnten. Auch die Auseinandersetzung mit der Frage, was die Taten des NSU und deren gezielt behinderte Aufklärung für das Sicherheitsgefühl von MigrantInnen in Deutschland bedeuten, spielte und spielt in der öffentlichen Debatte fast keine Rolle. Der Eindruck ist doch sehr stark, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich eigentlich nicht weiter davon betroffen fühlt. Es bleibt das nachlassende Interesse an den großen ‚Skandalen‘ es fehlt an Empathie. Man kann Ähnliches inzwischen ja leider auch in Bezug auf die vielen rassistischen Angriffe auf Flüchtlinge sehen. Es geht verstärkt um Statistiken, aber nicht mehr um die Frage, was es heißt, wenn sich Personen mit Migrationsgeschichte an vielen Orten nur noch mit Angst bewegen können. Insgesamt fehlte und fehlt es an einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Auseinandersetzung, was der NSU-Komplex in Bezug auf strukturellen Rassismus und die Rolle der Verfassungsschutzbehörden für die deutsche Gesellschaft als Ganze bedeutet.
Frau Başay-Yıldız, Herr Ilius, wir danken Ihnen sehr herzlich für den Austausch und Ihre Antworten auf unsere Fragen!
- Neben der Ermordung von Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık werden dem NSU von Seiten der Staatsanwaltschaft die Morde an Abdurrahim Özüdoğru (Nürnberg, 13.06.2001), Süleyman Taşköprü (Hamburg, 27.6.2001), Habil Kılıç (München, 29.8.2001), Mehmet Turgut (Rostock, 25.2.2004), İsmail Yaşar (Nürnberg, 9.6.2005), Theodoros Boulgarides (München, 15.6.2005), Halit Yozgat (Kassel, 6.4.2006) und der Polizistin Michèle Kiesewetter (Heilbronn, 25.4.2007) zugerechnet.
- vgl. Kubaşik, Elif/Kubaşik, Gamze (2016): Rassismus im Recht? – Ermittlungen gegen Opfer des NSU und deren Angehörige. (Abfrage: 17.08.2017) [zuerst abgedruckt im SonderBrief Rassismus & Recht 2016 des RAV (Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.)]
- vgl. Şimşek, Semiya/Schwarz, Peter (2013): Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater. Berlin: Rowohlt Berlin
- vgl. Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ (2017): Wir klagen an! Anklage des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“ – 17.-21. Mai 2017 – Köln-Mülheim. (Abfrage: 16.08.2017
- vgl. Macpherson of Cluny, William (1999): Report of the Stephen Lawrence inquiry, Ref: Cm 4262. (Abfrage: 16.08.2017
- Das Interview ist im Laufe des Jahres 2017 entstanden, weshalb jüngere Entwicklungen des Prozessgeschehens im Folgenden nicht thematisiert werden; (redaktionelle Bearbeitung: Ellen Kollender).
- Dies belegt ein Bericht des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg, in dem es um die Befragung eines Rom zum Mord an Michèle Kiesewetter ging. In diesem werden Roma als „Zigeuner“ bezeichnet und der befragte Rom als ein „typischer Vertreter seiner Ethnie“ beschrieben, was bedeute, dass „die Lüge ein wesentlicher Bestandteil seiner Sozialisation“ sei. Der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma, Romani Rose, hatte Anfang 2014 wegen der rassistischen Aktenvermerke die baden-württembergische Polizei angezeigt (vgl. Zentralrat der Sinti und Roma erstattet Anzeige gegen Polizei (2014). In: Zeit Online vom 4. Februar 2014. (Abfrage: 16.08.2017)
- Vgl. hierzu auch das von Ilius mitverfasste Rechtsgutachten „für eine unabhängige Beschwerdestelle zum Schutz gegen Diskriminierung in Berliner Schulen“ (Haschemi Yekani, Maryam/Ilius, Carsten (2016): Rechtlicher Rahmen für eine unabhängige Beschwerdestelle zum Schutz gegen Diskriminierung in Berliner Schulen. Berlin: GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft) ).
- Konkrete Handlungsansätze wurden von Ilius sowie weiteren AnwältInnen der NSU-Opfer und Angehöriger der NSU-Opfer auch im Rahmen einer „gemeinsamen Erklärung“ im Anschluss an die Veröffentlichung des ersten Abschlussberichts des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages im August 2013 formuliert. Neben der generellen Anerkennung des „Problem[s]“ des „institutionellen Rassismus“ sowie der von Ilius genannten Einrichtung von Kontrollgremien und unabhängigen Beschwerdestellen fordern die NebenklagevertreterInnen hier: Eine nachvollziehbare Begründung im Rahmen polizeilicher Aktenvermerke bei künftig jedem Gewaltverbrechen, „wenn die Ermittlungsbehörden der Auffassung sind, dass eine rassistisch oder neonazistisch motivierte Tat ausgeschlossen werden kann“; die „Ausbildung und stetige Qualifikation aller Polizeibeamten, die institutionellem wie individuellem Rassismus entgegenwirkt“; die Einrichtung „gut ausgebildete[r] und szenekundige[r] Abteilungen bei den Landespolizeien […], die sich spezifisch mit rechter Gewalt beschäftigen und allgemeine Abteilungen für ‚Staatsschutzdelikte‘ ersetzen“ und sich „zukünftig immer dann zwingend an den Ermittlungen“ beteiligen müssten, „wenn ein rechter Hintergrund nicht ausgeschlossen werden kann“; die Bildung von „Abteilungen“ bei den Staatsanwaltschaften, „die für rechte Gewalttaten gesondert zuständig und ausgebildet sind“; die gezielte Werbung von „BeamtInnen mit Migrationshintergrund auch in Führungspositionen“ sowie die (vorübergehende) Festsetzung einer „verbindliche[n] Quote“; die Auflösung des „V-Mann-System[s] der Verfassungsschutzbehörden“ sowie den flächendeckenden Ausbau und die Förderung von „Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt“ 9„Heute ist nicht der Tag des großen Abhakens“: NSU-Nebenklagevertreter kritisieren Abschlussbericht (2013). In: Belltower News vom 22.8.2013. (Abfrage: 16.08.2017).
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