Rezension
Migranten schulden Deutschland nichts
Die Journalistin Ferda Ataman hat der Wo-kommst-du-wirklich-her-Frage ein Buch gewidmet. Das Buch heißt "Ich bin von hier. Hört auf zu fragen!" - eine gelungene Mischung aus persönlichen Erfahrungen und sachlichen Inhalten.
Von Francesca Polistina Freitag, 12.04.2019, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 15.04.2019, 20:13 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Das Problem, mehr als die Frage an sich, ist, dass sie nur bestimmten Leuten gestellt wird. Und zwar denjenigen, die wegen ihres Namens oder ihres Aussehens woanders verortet werden – egal ob sie hier geboren sind und perfekt Deutsch sprechen. Das zweite Problem ist, dass die entsprechende Antwort häufig nicht akzeptiert wird. „Berlin“, „Köln“ oder „Hamburg“ klingt bei Menschen mit dunkler Haut nicht plausibel, denn im Endeffekt ist man ja an der wirklichen Herkunft interessiert. Und die wirkliche Herkunft kann natürlich nicht Deutschland sein, wenn man nicht von Deutschen abstammt – so zumindest scheint die Meinung von vielen zu sein.
Unter dem Hashtag #vonhier erzählen Menschen mit Migrationshintergrund auf Twitter, wie sie immer wieder von Unbekannten gefragt werden, wo sie wirklich herkommen – um dann schnell als „fremd“ etikettiert zu werden. Dass ihnen Überempfindlichkeit vorgeworfen wird, ist ein weiteres Zeichen dafür, dass einem der Alltagsrassismus gar nicht bewusst ist, oder besser, dass man als Gesellschaft gar nicht bereit ist, ihn angemessen wahrzunehmen. Doch Rassismus beginnt nicht erst da, wo Flüchtlingsunterkünfte angezündet werden oder „Ausländer raus“ gebrüllt wird, sondern deutlich früher. Und zwar da, wo Menschen aufgrund ihres Aussehens und Namens bestimmten althergebrachten Vorurteilen, Stereotypen oder Vorstellungen ausgesetzt und als etwas „anderes“ wahrgenommen werden, egal, ob das unbewusst und „natürlich nett gemeint“ passiert.
Die Journalistin Ferda Ataman hat nun der Wo-kommst-du-wirklich-her-Frage und allem, was dahintersteckt, ein Buch gewidmet. Das Buch heißt Ich bin von hier. Hört auf zu fragen! (S. Fischer Verlag, 2019) und ist gleichzeitig eine Streitschrift und ein Vorschlag für eine offenere und gelassenere Gesellschaft. Denn am Ende geht es um viel mehr als eine Frage: es geht um ein inklusiveres Deutschsein, in dem auch Migranten und deren Nachkommen Platz finden, ohne jedes Mal als Fremdkörper wahrgenommen zu werden. Und es geht um eine reifere Migrationsdebatte, mehr faktenbasiert und weniger Islam-fixiert, in denen die hochgeliebten Begriffe Integration und Leitkultur nicht missbraucht werden.
Ferda Ataman ist Kolumnistin für den Spiegel und Sprecherin des Netzwerkes Neue deutsche Organisationen. Sie wurde 1979 in Stuttgart geboren und ist in Nürnberg aufgewachsen, kann wie alle, die hier geboren sind, perfekt Deutsch und wird trotzdem immer wieder gefragt, woher sie wirklich kommt. In ihrem Buch erzählt sie, wie sie dadurch ständig migrantisiert und muslimisiert wird, obwohl sie keine Migrationserfahrung hat und nicht gläubig ist („Irgendwie halten mich alle für eine Türkei-Expertin und eine Islam-Gelehrte. Nur wegen meines Namens und dem Geburtsland meiner Eltern. Ist das nicht verrückt?“).
Sie erzählt, dass sie lernen musste, dass sie nicht so wie ihre Freundinnen war („Bis zu einem gewissen Alter bleibt man verschont von der Integrationsmanie der Deutschen“) und auch, dass von ihr immer noch Dankbarkeit erwartet wird („Diese Erwartung an Menschen mit Migrationshintergrund wird sogar vererbt. Auch ich soll dankbar sein, dass ich hier leben darf, und soll bitteschön die Politik nicht kritisieren und den Rechtsruck anprangern. Ein dankbarer Migrant beschwert sich nicht“).
Und eben hier ist der Widerspruch. Einerseits wird von Menschen mit Migrationshintergrund erwartet, dass sie sich nicht in die oberen Etagen der Politik, der Wirtschaft und der Justiz einmischen (denn dann hätten sie wohl Ansprüche), andererseits aber, dass sie sich an die vermeintliche Leitkultur anpassen. Die Frage ist nur: was ist die Leitkultur? Und noch: was heißt Integration und ab wann ist man abschließend integriert? Immer wieder wird vom Nicht-Gelingen der Integration der sogenannten Gastarbeiter gesprochen: doch stimmt das tatsächlich? Die Autorin ist einer anderen Meinung: „Die Integration meiner Eltern und ihrer Kollegen für gescheitert zu erklären, ist eine deutsche Zwangsneurose. Was wollt ihr eigentlich? Dass die Ex-Gastarbeiter*innen alle ‚Deutschsein, Deutschsein über alles‘ singen? Ihre Integration ist nicht gescheitert. In Anbetracht der Umstände – nämlich nullkommanull Integrationsangebote vom Aufnahmeland – ist sie sogar verdammt gut gelaufen“. Außerdem vergisst man, dass die Forderung nach Integration ein ziemlich neues Phänomen ist. Denn bis in die 1980er Jahre hat man konsequent die „Haut-wieder-ab-Politik“ verfolgt: Gastarbeiter wurden angeworben, um in deutschen Firmen zu arbeiten, aber bitte nur kurz, danach zurück in die Heimat.
Seit mehreren Jahrzehnten – spätestens seitdem die deutsche Regierung Abkommen mit Ländern wie Italien, Griechenland und der Türkei abgeschlossen hat, um die für das Wirtschaftswunder nötigen Arbeitskräfte zu rekrutieren – ist Deutschland ein Einwanderungsland im modernen Sinne des Wortes. Trotzdem taucht immer wieder die Frage auf, ob Deutschland überhaupt ein Einwanderungsland sein will. „Wir tun so, als könnten wir ernsthaft entscheiden, ob wir Migranten im Land haben wollen oder nicht, und wenn ja, wie viele wir davon vertragen. Das ist Blödsinn. Sie sind längst da – und ein Teil des ‚Wir‘“, schreibt Ferda Ataman. Das Bild von einer christlichen, weißen Gemeinschaft, in die nun muslimische Migranten reinkommen, nennt die Autorin „eine deutsche Lebenslüge“. Schließlich ist die Gesellschaft, in der wir leben, gar nicht homogen, und das schon immer. Wäre also nicht die Zeit gekommen, Migration als ein normales Phänomen zu betrachten und sachlich damit umzugehen?
Das Buch von Ferda Ataman ist eine gelungene Mischung aus persönlichen Erfahrungen und sachlichen Inhalten zum Thema Migration, die miteinander im Gleichgewicht stehen. Es ist ein mutiges Buch, weil es Klartext redet („Migranten schulden Deutschland nichts“), und gleichzeitig ein sehr konstruktives. Schließlich ist es ein wichtiges Buch, weil aus der Perspektive eines Menschen mit Migrationshintergrund erzählt wird – kein unbedeutendes Detail. Ferda Ataman gehört nämlich zu einer Reihe von neuen deutschen Autoren und Schriftstellern, die sich zu Wort gemeldet und die Migration(-shintergrund) aus ihrer Sicht erzählt haben. Dass sie von den großen Verlagen veröffentlicht werden und damit das große Publikum erreichen können, geschieht erst seit kurzem: die Eltern und Großeltern, die als erste eingewandert sind, blieben im politischen und gesellschaftlichen Diskurs meist unsichtbar. Auch deshalb ist ihre Stimme gefragter denn je. Aktuell Rezension
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