Über 1.000 Vorfälle in 2018
Antisemitismus in Berlin wird roher und direkter
Die Zahl antisemitischer Vorfälle nimmt in Berlin zu. Beobachter registrieren eine immer offener ausgetragene Judenfeindschaft in der Bundeshauptstadt. Viele Betroffene erleben Anfeindungen in ihrem direkten Wohnumfeld.
Donnerstag, 18.04.2019, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 24.04.2019, 17:39 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Berlin ist im vergangenen Jahr um 14 Prozent gestiegen. Insgesamt wurden 1.083 antisemitische Vorfälle im Jahre 2018 in der Bundeshauptstadt erfasst, 132 mehr als im Vorjahr (951), teilte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) am Mittwoch bei der Vorstellung ihres Jahresreports mit. Häufiger als in den Jahren davor habe der Antisemitismus dabei verrohte Formen angenommen und sei direkter geworden, sagte RIAS-Projektleiter Benjamin Steinitz.
Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, nannte die gestiegene Zahl von Angriffen „zutiefst besorgniserregend“. Schuster forderte mehr politische Maßnahmen gegen die rechte Szene und ein Verbot des jährlichen israelfeindlichen Al-Kuds-Marschs und der Hisbollah als Veranstalter. Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) erklärte, es sei Aufgabe der gesamten Gesellschaft, jüdisches Leben in Deutschland zu schützen. „Der Hass gegen Juden ist beschämend für unser Land“, sagte Barley.
Antisemitismusbeauftragte: Politik und Justiz in der Pflicht
Der Antisemitismusbeauftragte der Berliner Jüdischen Gemeinde, Sigmount Königsberg, forderte eine zügigere Klageerhebung bei antisemitischen Vorfällen. Von Politik und Justiz sei zu gewährleisten, dass jüdische Menschen sich sicher fühlen können, sagte Königsberg.
Besorgniserregend sei der deutliche Anstieg bei Vorfallsarten mit besonderem Gefährdungspotenzial für die Betroffenen, hieß es weiter bei der Recherchestelle. Die Anzahl antisemitischer Angriffe erhöhte sich um 155 Prozent von 18 auf 46, die Zahl der Bedrohungen stieg um 77 Prozent von 26 auf 46. Von den Attacken waren 86 Menschen betroffen, darunter mindestens 13 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
Gewaltbereitschaft erkennbar gestiegen
Die Recherchestelle registrierte auch einen Anstieg bei schriftlichen und mündlichen Anfeindungen, Propaganda und Veranstaltungen mit antisemitischen Inhalten. Hier wurden 831 Fälle dokumentiert, ein Anstieg von 22 Prozent. Die meisten Vorfälle wurden in Berlin-Mitte registriert (146), gefolgt von Charlottenburg-Wilmersdorf (80).
Die Bereitschaft, gegen erkennbare Juden, Kritiker antisemitischer Äußerungen und politische Gegner Gewalt auszuüben, sei erkennbar gestiegen, betonte Steinitz. Diese Entwicklung sei für viele Betroffenen bereits alltagsprägend.
„Du Jude“
Als Beispiele nannte Steinitz einen Mann, der von Fußballfans aus Mönchengladbach ins Gesicht geschlagen wurde, nachdem er von ihnen als „Du Jude“ beschimpft wurde und diese Äußerung kritisiert hatte. Ein Spätkaufverkäufer in Berlin-Neukölln bewarf eine jüdische Frau mit Kronkorken, als er ihren Davidstern-Schlüsselanhänger sah, und beschimpfte sie als „Judenschlampe“. Eine Gruppe wurde im April 2018 auf dem Weg zur Demonstration „Berlin trägt Kippa“ bespuckt, getreten und mit „Verpisst Euch Ihr Juden“ beschimpft. Ein Mann las in der U-Bahn die „Jüdische Allgemeine“, woraufhin ihm ein Fahrgast auf die Zeitung schlug.
Von den antisemitischen Vorfällen waren laut Steinitz insgesamt 368 Menschen betroffen, 73 Prozent mehr als im Vorjahr. Mit 187 waren über die Hälfte davon jüdisch, doch auch zahlreiche nichtjüdische Personen, die sich gegen Antisemitismus oder Rechtsextremismus aussprachen, wurden angefeindet.
Anfeindungen im direkten Wohnumfeld
Viele erlebten die Anfeindungen mittlerweile im direkten Wohnumfeld, sagte Steinitz. So wurde die Wohnungstür eines jüdischen Mieters in Friedrichshain-Kreuzberg mit einem Hakenkreuz beschmiert. Ein anderer fand an seinem Briefkasten in Mitte den Schriftzug „Judensau“. An einer Wohnungstür in Charlottenburg-Wilmersdorf befestigte Israel-Flaggen wurden abgerissen und im Hof verbrannt.
„Wir erleben eine Verschiebung vom Sagen zum Tun“, warnte die Projektleiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR), Bianca Klose. Dafür müsse nicht mehr weit nach rechts geschaut werden, es reiche ein Blick in die Mitte der Gesellschaft. (epd/mig) Aktuell Panorama
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