Das Gästezimmer
Das weiße Parlament
Am 2. Juli wird das neu gewählte Europäische Parlament zum ersten Mal zusammentreffen. Es wird aus 751 Abgeordneten bestehen, von denen nur 5 Prozent einer Minderheit angehören. Ein Abbild der Gesellschaft ist das nicht. Warum ist das so?
Von Francesca Polistina Freitag, 28.06.2019, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 01.07.2019, 21:02 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Seit der ersten Europawahl 1979 ist im alten Kontinent viel Wasser unter den Brücken hindurchgeflossen. Nicht immer handelte es sich um das gleiche Spektakel: manchmal war es ein reißender Strom, der auf einmal kommt und alle Barrieren zerstört (der Fall der Berliner Mauer), manchmal ein schläfriger Fluss, der trotz aller Hindernisse unerschrocken fließt (die Europäische Integration vor 2008), häufig eine Überflutung, die erhebliche Schäden hinterlässt (die Finanzkrise 2008) oder ein schmales Rinnsal, das kurz vor der Austrocknung steht (die Europäische Integration nach der Krise). Alles in allem kann man aber sagen, dass sich Europa in den letzten vierzig Jahren tiefgreifend, zum Teil sogar drastisch, verändert hat – wirtschaftlich sowie politisch und sozial. Was hingegen gleichgeblieben ist, ist die Farbe seines Parlaments: sie war weiß, sie ist und bleib hartnäckig weiß.
Am 2. Juli wird das neu gewählte Europäische Parlament zum ersten Mal zusammentreffen. Es wird aus 751 Abgeordneten bestehen, die aus allen 28 Ländern der EU kommen und vor der schwierigen Aufgabe stehen, die Bedürfnisse von diametral unterschiedlichen Staaten und Regionen unter einem Deckel zu vereinen – in Zeiten, in denen tiefe Risse durch den Kontinent laufen. Die Aufgabe mag heutzutage besonders gravierend sein, neu ist sie allerdings nicht. Denn das Motto der Europäischen Union, das immer wieder auf T-Shirts oder Plakaten aufpoppt, lautet schon lange „United in diversity“, was an sich ein wunderschöner, inklusiver Spruch ist. In Vielfalt vereint bedeutet, dass eben diese Vielfalt – und damit sind vor allem kulturelle Aspekte wie Sprache und Traditionen gemeint – gleichzeitig die Basis und die Kraft des ganzen europäischen Projektes darstellt. Doch hier ist der Haken: denn Vielfalt ist nicht grenzenlos, sondern selektiv und elitär, vor allem wenn es um Minderheiten geht.
Schätzungen zufolge leben in der Europäischen Union ungefähr 50 Millionen Menschen, die ethnischen Minderheiten angehören – damit sind People of Color (Nicht-Weiße) sowie nationale Minderheiten wie die Sorben in Sachsen gemeint. Das entspricht ungefähr 10% der Gesamtbevölkerung der EU. Schaut man sich die zukünftigen Abgeordneten an, so sind nur 5% (nach Brexit 4%) Vertreter solcher Minderheiten, wie eine Analyse vom European Network Against Racism (ENAR), einem Netzwerk von mehr als 600 NGOs mit Sitz in Brüssel, zeigt. Die Parlamentarier, die vor allem aus linken oder mitte-links Parteien kommen, sind so verteilt: 7 Abgeordnete mit afrikanischer Abstammung, 6 Abgeordnete aus Nord-Afrika, 6 aus dem Mittleren Osten, 5 aus nationalen Minderheiten, 3 Roma und 1 aus Ostasien. Dazu auch 6 Abgeordnete aus Südasien, die aber in UK gewählt wurden und deshalb nur noch wenige Monate im Parlament sitzen werden. Zugegeben: im Vergleich zum scheidenden Parlament hat die Zahl von nicht-weißen Abgeordneten zugenommen, und zwar von 18 auf 30 (24 nach dem Brexit), ein Abbild der Gesellschaft, die mittlerweile bunt und multikulturell ist, ist das Parlament aber trotzdem nicht. Warum ist das so?
Es gibt viele Gründe, die die schmale politische Repräsentation von Minderheiten, insbesondere von Nicht-Weißen erklären. Laut ENAR sind das vor allem der strukturelle Rassismus und die Ausgrenzung in der Gesellschaft, aber auch das mangelnde Handeln seitens der Europäischen Institutionen – und zwar nicht nur in der Politik, sondern auch in den Ämtern und Büros. „Die Europäische Kommission beschäftigt mehr als 33.000 Mitarbeiter und verfügt über echte Befugnisse bei der Gestaltung der europäischen Politik. Doch weder veröffentlicht sie Daten über rassische/ethnische Vielfalt, noch setzt sie positive Maßnahmen zur Verbesserung der Repräsentation um“, schreibt die NGO in ihrem Bericht. Laut Sarah Chander von ENAR spielen auch nationale Parteien eine wichtige Rolle. „Selbst wenn Parteien Minderheitskandidaten auf ihre Listen setzen, stehen sie selten an der Spitze oder auf den sicheren Plätzen“, betonte sie in einem Kommentar in der britischen Tageszeitung The Guardian. Ein weiterer Faktor ist die Homogenität der Lebensläufe in der sogenannten EU Bubble, die dazu führt, dass vor allem Menschen, die sich lange Studiengänge und Praktika im Ausland leisten können, Karrieren in den Institutionen anstreben können.
Eine häufig kursierende Idee ist, dass diversity ausschließlich von unten starten sollte, und zwar direkt von den Menschen, die sich am unteren Ende der politischen Hierarchie befinden. Das ist ein Fehler. Auch diejenigen, die Machtpositionen innehaben, sollten sich aktiv für mehr Vielfalt einsetzen – und öffentlich anerkennen, dass die Beförderung von unterrepräsentierten Gruppen zu ihren Aufgaben gehört. Das Thema der unzureichenden Anzahl an Frauen und, in letzter Zeit, Osteuropäern auf den höheren Etagen der Europäischen Institutionen ist mittlerweile angekommen – das bedeutet nicht, dass konkrete Maßnahmen getroffen werden, wohl aber, dass der Druck in dieser Hinsicht, wenn auch gegen den Willen der Machtinhaber, steigt. Über die niedrige Repräsentation von ethnischen Minderheiten, insbesondere People of Color, ist hingegen bisher sehr wenig gesagt worden. Brüssel bleibt farbenblind, sowie ein Großteil der nationalen Parlamente.
Verschiedene Studien belegen, dass die politische Partizipation von ethnischen Minderheiten der ganzen Gesellschaft zu Gute kommt. Sie führt zum Beispiel dazu, dass schnelle und gemeinsame Lösungen gefunden, Spannungen gemildert und Rassismus bekämpft werden. Sie ermutigt das politische und soziale Engagement von Menschen, die sich nicht als Teil der Gesellschaft fühlen und beschleunigt deren Integrationsprozess. Natürlich ist das nicht das Allheilmittel: dass Nicht-Weiße mächtige Positionen innehaben bedeutet lange nicht, dass sie auch konsequente antidiskriminierende Positionen unterstützen und durchsetzen. Das wäre aber ein erster, notwendiger Schritt im Sinne einer wirklichen repräsentativen Gesellschaft. Europa hat sich geändert, die Europäische Institutionen sollten nun folgen. Aktuell Meinung
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