Verfassungsschutzbericht
Verharmlosung von rechter Gewalt
Selbst das Bundesamt für Verfassungsschutz hat 2018 einen Anstieg der rechten und rassistischen Gewalttaten registriert. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass von der Politik auch die richtigen Schlüsse gezogen werden. Von Kai Stoltmann
Von Kai Stoltmann Freitag, 28.06.2019, 5:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 02.07.2019, 17:41 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Angesichts der gesellschaftspolitischen Entwicklung kann es eigentlich nicht überraschen: Laut dem aktuellen Verfassungsschutzbericht haben rechte Straftaten im vergangenen Jahr leicht zugenommen. 2018 registrierten die Behörden demnach 1156 Gewalttaten, 26 mehr als im Vorjahr. Parallel ist auch die Zahl jener Menschen weiter angestiegen, die von der Behörde als gewaltorientierte Rechtsextremisten eingestuft werden.
Ein Vergleich der staatlichen Zahlen mit den Erkenntnissen zivilgesellschaftlicher Initiativen zeigt jedoch, dass die Daten des Verfassungsschutzes bestenfalls einen kleinen Ausschnitt der rechten, rassistischen und antisemitischen Angriffe überhaupt erfassen. Viel sinnvoller ist es dagegen, den Betroffenen von rassistischer und rechter Gewalt zuzuhören, deren Positionen in der Öffentlichkeit meist zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. Gerade migrantische Organisationen haben seit längerem auf Alltagsrassismus und rechten Terror hingewiesen.
Acht Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU sieht der Bundesinnenminister Horst Seehofer in einem aktuellen Gespräch mit der ARD „noch Verbesserungsbedarf“ im Kampf gegen Rechtsextremismus und fügt hinzu: „Aber ich möchte jetzt nicht behaupten, dass alles Menschenmögliche getan wurde“.
„Warum wurde seitens des Staates bisher nicht alles unternommen, um die Menschen vor rechter Gewalt zu schützen? Neun ermordete Migranten, eine getötete Polizistin sowie 43 weitere Mordversuche des NSU waren für Seehofer und seine Behörde jedenfalls keine ausreichenden Gründe, um sich intensiv mit Neonazis und ihren Taten auseinanderzusetzen.“
Angesichts dieser Aussagen stellt sich erneut die Frage: Warum wurde seitens des Staates bisher nicht alles unternommen, um die Menschen vor rechter Gewalt zu schützen? Neun ermordete Migranten, eine getötete Polizistin sowie 43 weitere Mordversuche des NSU waren für Seehofer und seine Behörde jedenfalls keine ausreichenden Gründe, um sich intensiv mit Neonazis und ihren Taten auseinanderzusetzen. Insofern beschönigen die jetzigen Statements massiv die Politik des Innenministers, die das Ausmaß rechter Gewalt seit Jahren herunterspielt und dabei gleichzeitig jenen Initiativen misstraut, die sich gegen rechte Hetze und ihre Folgen engagieren.
Eine dringend notwendige Aufarbeitung von rassistischen Strukturen bei den Ermittlungsbehörden sowie eine glaubhafte Positionierung gegen menschenfeindliche Stimmungsmache sind von Horst Seehofer und dem Verfassungsschutz nicht zu erwarten. In einer Zeit, in welcher der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Teilhabe aller Menschen durch rassistische Alltagsgewalt und organisierten Neonaziterror massiv bedroht werden, ist dies eine ernüchternde Erkenntnis, die bei der Lektüre des aktuellen Verfassungsschutzberichtes bestätigt wird.
Deutlich werden die Mängel der behördlichen Lagebeschreibung besonders an jenen Stellen, an denen der Verfassungsschutzbericht Lücken aufweist, wie der Mord an Christopher W. deutlich macht. Der Homosexuelle wurde am 17. April 2018 in Aue (Sachsen) zu Tode gefoltert, weil er nicht in das rechte Weltbild seiner Peiniger gepasst hat. Im Verfassungsschutzbericht wird er nicht erwähnt. Auch hinsichtlich der rechten Terrorstrukturen, die letztes Jahr bekannt geworden sind, bleibt der Bericht bei einer oberflächlichen Darstellungsweise. Tiefergehende Informationen über Neonazis und ihre Organisationen werden der Öffentlichkeit ohnehin meist von antifaschistischen Recherchenetzwerken und engagierten Journalisten zugänglich gemacht und nicht von staatlichen Behörden.
Auch für das laufende Jahr ist zu befürchten, dass es zu einer weiteren Zunahme rechter und rassistischer Übergriffe kommen wird. Gerade in Zusammenhang mit den Landtagswahlkämpfen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen scheint es wahrscheinlich, dass rechte Strukturen mit Gewalt gegen zahllose Menschen vorgehen werden, weshalb die entsprechenden Statistiken noch weiter ansteigen könnten. Umso mehr ist eine deutlich sichtbare Solidarität der Gesellschaft mit allen Betroffenen von rechten Angriffen notwendig.
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