Ein Jahr Özil-Rücktritt
Karma ist eine b****, Deutschland
Heute vor einem Jahr trat Mesut Özil mit einem Twitter-Manifest aus der deutschen Nationalmannschaft zurück. Begründung: Rassismus. Ein Rückblick auf die Tage nach dem WM-Aus. Von Timo Al-Farooq
Von Timo Al-Farooq Montag, 22.07.2019, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 24.07.2019, 16:43 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Genau heute vor einem Jahr, am 22. Juli 2018, hat Mesut Özil über Twitter seinen Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft erklärt. Begründung: Rassismus. Schon zuvor, während der FIFA Fußball-WM der Männer in Russland, hatte Deutschland die sportliche Quittung für sein rassistisches, türkenfeindliches und islamophobes Mobbing gegen Mesut Özil und Ilkay Gündogan (der heute noch für den DFB spielt) bekommen. Hintergrund der Aufregung war ein Selfie der beiden mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan.
Südkorea hatte im letzten Gruppenspiel die deutsche Mannschaft mit 2:0 geschlagen, dazwischen ein erlösender finaler Rettungsschuss gegen Schweden und zuvor eine überraschende 0:1 Pleite gegen Mexico im ersten Gruppenspiel. Der Schmach einer verfrühten Heimreise war für den amtierendem Weltmeister perfekt.
Schadenfreude ist ein urdeutsches Gefühl, für das es im Englischen keine adäquate Entsprechung gibt, weshalb sie im angelsächsischen Sprachraum unübersetzt weiterverwendet wird. Und Schadenfreude war genau das, was ich nichtweißer gebürtiger Deutscher mit elterlicher Migrationsbiographie, der Zeit seines Lebens hier – wie unzählige andere – wegen meiner Hautfarbe wie Bürger zweiter Klasse behandelt worden bin, in jenem Moment an diesem glorreichen Sommertag gefühlt habe.
Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich nach dem Schlusspfiff auf meinen Kreuzberger Balkon hinaustrat und passionierte, erlösende und halbverrückte Fick-Dich-Deutschlands in den gentrifizierten Wrangelkiez hinausschrie, meine Stimme schon heiser von dem 90-minütigen einseitigen Schreiduell mit meinem Fernseher, welches den Krimi übertrug, dessen unerträgliche Spannung zum großen Teil auch davon lebte, dass Deutschland womöglich aus dem Turnier fliegen könnte.
Der überaus willkommene Casus Belli damals, der einer weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft den Vorwand lieferte, in den Medien und sozialen Netzwerken auf die beiden Sympathikuse Özil und Gündoğan loszugehen, die stets stolz darauf gewesen sind, das DFB-Dress zu tragen: ein Selfie mit einem in der deutschen Politik unbeliebten Präsidenten des Geburtslandes ihrer Eltern.
Diese Non-Nachricht wurde von der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft als ein Akt der Aggression und des Landesverrats gewertet und machte über Nacht aus zwei in England gefeierten Weltstars, vogelfreie Staatsfeinde Nummer Eins in ihrem eigenen Heimatland Deutschland – Deutschland über alles, wie die verbotene ersten Strophe der deutschen Nationalhymne lautet, die zwar niemand singen darf, aber deren Inhalt nicht wenige absegnend unterschreiben würden, egal wie un(ter)bewusst.
Was als Erdoğangate in der Presse die Runde machte, hätte ehrlicherweise Weiße-Deutschegate heißen müssen: denn der wahre Skandal lag nicht in der Tat Özils und Gündoğans, sondern in der Reaktion auf diese Tat durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die – ob politisch links, rechts, oder mittig, sich schnell darin einig waren, dass es ok ist, diese beiden gestandenen jungen Männer mit rassistischen und islamfeindlichen Beleidigungen und Meinungen zu überhäufen.
Von der Doppelmoral, ständig Erdoğan oder WM-Gastgeber Putin für ihre autoritären Umtriebe zu kritisieren, bei erprobten Faschisten wie Donald Trump, Ungarns Victor Orban oder Indiens Narendra Modi jedoch bemerkenswerterweise das sonst so übereifrige Großmaul zu halten, davon kein einziges Wort.
Nein, der wahre Skandal lag in der bereitwilligen Lynchmobmentalität, mit der eine weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft ihrer angestauten Turkophobie und Islamfeindlichkeit freien Lauf ließ, die im Verlauf eines Jahrzehnts Merkelscher Postdemokratie und Selbstbeweihräucherung stets unter der verlogenen Firniss eines pseudopluralistischer Gesellschaftsmodells brodelten. Bis ein Selfie die braune Suppe, an der auch politisch Rote, Grüne, Gelbe und Schwarze emsig mitgekocht hatten, schließlich zum Überlaufen brachte.
Die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft ließ die Beiden in aller Unmissverständlichkeit wissen, dass sie – wie alle anderen hierzulande, die sich weigern, sich weißer Hegemonie unterzuordnen – mit ihrer (elterlicher oder gar großelterlicher) Migrationsbiographie – niemals echte, vollständige Deutsche sein werden, auch wenn sie hier geboren, aufgewachsen, deutsche Staatsbürger sind und bei internationalen Sportturnieren mit dem Adler auf der Brust für Deutschland auflaufen.
Ein kollektivistisches weißes Deutschland fiel in den Tagen vor, während und nach der WM in Russland (die allen westlichen russophoben Unkenrufen zum Trotz ein voller Erfolg war) über Özil und Gündoğan her wie Raubtiere um ihre Beute.
In ihrem (liberal-)rassistischen Wahn ging es sogar soweit und sorgte dafür, dass jedwede Kritik an weißer Vorherrschaft in Deutschland – sei es Özils Twitter-Manifest oder die Flut an Social-Media-Posts von migrantischstämmigen Menschen in Deutschland – bis zur Unkenntlichkeit lächerlich gemacht und in Stücke gehackt wurde. So lässt sich Geburt und Tod der kurzlebigen #metwo-Bewegung zusammenfassen, zerstampft von weißen Deutschen, von denen viele sich tatsächlich für liberal, weltoffen und gute Menschen halten.
Und nur zur Erinnerung: diese weiße Mehrheitsgesellschaft umfasst auch nicht wenige von jenen Leuten, für die Ex-Nationalspieler Lukas Podolski stets als Deutscher gesehen wurde, bis zu dem Breaking Point, an dem er am Tor vorbeischoss und für den weißen deutschen „Fan“ zum „Scheißpolacken“ mutierte. Ich habe etliche Public Viewings und Sportkneipenbesuche zu EMs und WMs mitgemacht, wo ich in vorderster Reihe diesem weißen deutschen Opportunismus beiwohnen durfte.
Die französischen und belgischen Nationalspieler Paul Pogba und Romelu Lukaku haben diese Unart rassistischer Meritokratie eingehend kritisiert, bei der sie nur französisch oder belgisch sind solange sie Tore schießen. Falls nicht, dann sind sie wieder Afrikaner (eine Zuschreibung, die – wenn sie von fahnenschwenkenden weißen Ersatzreligionszeloten kommt, die ihren Mainstream-Nationalismus als Patriotismus beschönigen – nie als Kompliment gemeint ist).
In der Causa Özil und Gündoğan kann ich nur sagen, dass es so etwas wie kosmische Gerechtigkeit zu geben scheint: heute vor einem Jahr erschien sie in der Gestalt der Rücktrittserklärung von Özil in englischer Sprache – so konnte die ganze Welt erfahren, in welchem Verhältnis Deutschland und Rassismus stehen – und der mexikanischen, südkoreanischen und sogar schwedischen Nationalmannschaft. Ja auch der schwedischen, weil die sich – anders als der DFB bei Özil und Gündoğan – schützend und solidarisch vor ihren eigenen türkischstämmigen Mitspieler Jimmy Durmaz gestellt hat, als dieser von weißen schwedischen „Fans“ im Stadion und in den sozialen Netzwerken rassistisch gemobbt wurde. Etwas Vergleichbares habe ich von der „Die Mannschaft“ bis heute nicht gesehen. An mangelnden rassistischen Beschimpfungen liegt es nicht.
Was bleibt da noch zu sagen außer: Viva Mexico, tack sa myket Sverige, Go Taeguk Warriors. Ich wie so viele andere, die in der Realität abseits der abstrakten Sphäre des Gesetzes nicht selbstbestimmt deutsch sein dürfen, ausschließlich aufgrund unserer werkseingestellten Hautfarbe oder religiöser Überzeugung, sind Euch für immer dankbar, dass Ihr Deutschland vorzeitig nach Hause geschickt habt, und der weißen suprematistischen Mehrheitsgesellschaft, die nur die reinrassigen Teile der „Mannschaft“ bedingungslos feiert, in ihre Schranken gewiesen habt.
Dank kosmischer Gerechtigkeit bekam Deutschland während jenes russischen Sommermärchens nicht seinen Platz an der Sonne, sondern das, was es verdient hatte: einen untersten Tabellenplatz – und eine Rücktrittserklärung wie eine schallende Ohrfeige.
Was Mesut Özil angeht: er ist durch sein Twitter-Manifest zu nichts Geringerem geworden als die deutsche Entsprechung des US-Footballspielers Colin Kaepernick: nicht weil sich Beide weigerten, ihre jeweiligen Nationalhymnen mitzusingen, sondern weil Beide es wagten, in ihrer Eigenschaft als Sportler nicht nur als bloße Unterhaltungsdienstleister für Dritte wahrgenommen werden zu wollen, sondern als selbstbestimmte Menschen. Menschen mit starkem Gerechtigkeitssinn und dem Mut, zu systemischen Ungerechtigkeiten klar Stellung zu beziehen (wie der US-amerikanische Historiker Howard Zinn es mal treffend formuliert hat: „You can’t be neutral on a moving train.“).
Menschen, die sich nicht damit abfinden wollen, in ihren Heimatländern – die sich gerne liberal und demokratisch nennen – von einer weißen Mehrheitsgesellschaft mit ihrem strukturellen und – das folgende ist wichtig – selbstverursachten Rassismusproblem (nicht der rassistisch Behandelte ist schuld an Rassismus, sondern der Rassist) als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden.
Wie Kapernick ist also auch Mesut Özil ein Whistleblower der feinsten Sorte: und das ist ein weitaus wichtigeres Vermächtnis für die deutsche Gesellschaft als sein sportliches für den DFB. Danke Dir dafür, Mesut abi: Menschen wie Du machen uns migrantischstämmigen Deutschen das Leben in diesem Land um einiges erträglicher. Aktuell Meinung
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