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Seltsam fremd

Mit Schülern im deutsch-tschechischen Grenzgebiet

Früher war hier der Eiserne Vorhang, heute ist davon nichts mehr zu sehen. Schließlich ist die Grenze schon beinahe 30 Jahren offen. Trotzdem wissen bayerische und tschechische Schüler oft überraschend wenig voneinander.

Von Gabriele Ingenthron Freitag, 16.08.2019, 5:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 11.09.2019, 0:13 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Kevin trägt einen Schutzhelm auf dem Kopf. Das ist auch gut so, denn er war heute in der „Hölle von Jachymov“. So nannte sich ein Stollen im Erzgebirge, in dem während und nach dem Zweiten Weltkrieg radioaktives Uran abgebaut wurde. Erst arbeiteten hier belgische und französische Kriegsgefangene in dem ans Deutsche Reich angebundenen Sudetenland, später taten dies deutsche Kriegsgefangene für die Sowjetunion. Nach 1948 kamen politische Gefangene der damaligen kommunistischen Tschechoslowakei zum Zwangseinsatz.

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Ein Uranstollen von Hand und ohne Schutzkleidung erbaut: Kevin ist wie ein Bergarbeiter in den Stollen geklettert und hat sich umgesehen, wie er aufgebaut ist. „Ich bin beeindruckt, was die Arbeiter leisten mussten“, sagt der 14-Jährige. Innerhalb von 15 Jahren wurden knapp 8.000 Tonnen Urankonzentrat gefördert und mehr als 1.100 Kilometer Stollen in den Berg gehauen. Viele Häftlinge wurden verletzt oder erkrankten durch die radioaktive Strahlung.

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Jugendliche auf beiden Seiten der Grenze

Eine Schulklasse aus Pleystein in der Oberpfalz (Kreis Tirschenreuth) und eine aus dem tschechischen Bor nehmen an den Schülertagen teil, die unter dem Dietrich-Bonhoeffer-Motto „Dinge, für die es sich lohnt“ stehen. „Wir beschäftigen uns mit dem Thema Werte und Handlungsmöglichkeiten“, sagt Tanja Fichtner von der Projektstelle Gedenken und Versöhnung.

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Die grenzüberschreitende Jugendarbeit für Versöhnung und Verständigung wird von der Europäischen Union und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern finanziert. Vertreibung, Zwangsarbeit und die Geschichte der deutsch-tschechischen Grenze beeinflussen bis heute, wie Jugendliche auf beiden Seiten der Grenze sich sehen. „Es geht um Dialogfähigkeit über Grenzen hinweg, die am Beispiel von historischen Persönlichkeiten und Situationen eingeübt werden soll“, sagt Fichtner.

„Ich sehe die Tschechen jetzt anders“

Im tschechischen Jachymov, das von seinen deutschen Bewohnern ehemals Joachimsthal genannt wurde, sprechen die Schüler unterdessen mit einem Zeitzeugen, der in der kommunistischen Zeit als politischer Gefangener im Arbeitslager war. Konzentriert verfolgen die Schüler seine Überlebensgeschichte. Seine Rede wird von einer Übersetzerin ins Deutsche übertragen, so dass die Jugendlichen seinem Schicksal nachspüren können. Und indem sie das tun, wird ihnen auch etwas von Europa und dessen Geschichte bewusst. Hier an der Grenze, am ehemals Eisernen Vorhang, erfahren sie, was die Menschen wirklich geprägt hat.

Die Jugendlichen erleben die drei Tage als „anstrengend“. Trotzdem würde Kevin „auf jeden Fall wieder“ mitmachen. „Ich sehe die Tschechen jetzt anders, weil ich weiß, wie schlimm es ihnen ergangen ist“, sagt er. Sich mit einem Überlebenden zu treffen, fasziniert auch die 15-jährige Theresa. Sie findet den Zeitzeugen „sehr sympathisch“. „Er hat immer seine Meinung gesagt und er hat uns erzählt, wie es ihm gelungen ist, zu überleben.“

Seltsam fremd

Tschechien ist für sie kein Land jenseits der Grenze mehr, in das man schnell zum Einkaufen oder Tanken fährt, und das doch seltsam fremd bleibt. Sondern das Land und seine Menschen sind in ihrem Gefühl angekommen. „Früher habe ich eher schlecht über die Tschechen gedacht. Aber jetzt denke ich anders über sie: positiv“, sagt Theresa abschließend.

Am nächsten Tag brechen die Jugendlichen nach Flossenbürg auf, um dort den Steinbruch und die KZ-Gedenkstätte zu besuchen. Danach geht es noch einmal einen Tag in das evangelische Jugendhaus in Altglashütte, wo sie ihre Erlebnisse und Gedanken auf Plakaten und Präsentationen festhalten.

Historische Narrative

Bis heute sei es längst nicht nur die Sprachbarriere, die das Verhältnis von Deutschen und Tschechen erschwert, sagt Fichtner. „Auch die historischen Narrativen sind unterschiedlich.“ Gewaltsamer Anschluss des Sudetenlands im Jahr 1938, Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg: Bis heute wirke das noch in den Köpfen der Großeltern nach, und die geben es an ihre Familien weiter. „Die Wunden, die der Zweite Weltkrieg bei Tschechen gerissen hat: Ich denke nicht, dass das in Deutschland bewusst genug ist.“

Pfarrerin Stefanie Schön aus Waldsassen hat den Eisernen Vorhang noch als Kind erlebt. Bei Wanderungen mit ihren Eltern konnte sie über den Stacheldraht blicken, die damals ferne Tschechoslowakei sehen, die doch unerreichbar blieb. „Diese Erfahrung fehlt den Jugendlichen heute“, sagt sie. Im Juli will sie zusammen mit Tanja Fichtner zum ersten Mal eine Grenzlandwanderung für Jugendliche anbieten. Dabei soll es auch zu den verlassenen Dörfern gehen, die im Rahmen der Vertreibung damals von Deutschen zurückgelassen werden mussten und in denen heute kein Mensch mehr lebt. „Dann wird vielleicht bewusst, was es heißt, dass es in Europa keine Grenzen mehr gibt. Dass wir uns frei bewegen können, ohne Angst und Einschränkungen.“ (epd/mig) Aktuell Gesellschaft

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