An Bord
Menschen retten auf der „Ocean Viking“
An Bord der "Ocean Viking": Kurz zuvor hatte es in der Schiffskantine Abendessen gegeben. Vier Stunden später hat die "Ocean Viking" 60 neue Fahrgäste an Bord, geborgen aus einem treibenden Holzboot.
Von Phillipp Saure Mittwoch, 04.12.2019, 5:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 05.12.2019, 11:29 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Ein Notruf ist eingegangen. Einsatzleiter Nicholas Romaniuk ruft die Rettungsmannschaft auf der „Ocean Viking“ zusammen. Rund 20 Leute von SOS Méditerranée und „Ärzte ohne Grenzen“ drängen sich im Aufenthaltsraum des Schiffs. Romaniuk, ein stämmiger Mann mit dunklem Vollbart, erklärt am Donnerstagabend in kurzen englischen Sätzen die Lage.
Ein Holzboot soll ohne Motorleistung auf dem Meer treiben. Es ist etwa 20 Seemeilen entfernt, geschätzte Ankunftszeit dort in anderthalb Stunden. Rund 50 Menschen seien an Bord, sagt Romaniuk. Das Rettungsschiff „Ocean Viking“, das von den beiden Organisationen betrieben wird, um Migranten und Flüchtlingen im Mittelmeer zur Hilfe zu kommen, ändert den Kurs. Das Ziel liegt in der libyschen Such- und Rettungszone rund 100 Kilometer nördlich der Küste.
Deckwachen mit Fernglas werden eingeteilt. „Frische Augen“ will Romaniuk, daher muss der Ausguck jede halbe Stunde wechseln. Tanguy und Matthijs gehören zu denen, die drei Decks höher steigen. Vor der Brücke, dem Kommandostand der „Ocean Viking“, kniet Tanguy und nutzt einen kleinen Aufbau als Stütze, weiter vorn hat sich Matthijs an der Reling platziert. Mit Ferngläsern starren sie in die Nacht, aber außer den Sternen ist kaum etwas zu sehen. Matthijs, ein 26 Jahre alter Belgier, ist es, der um 19.55 Uhr ein Licht voraus meldet.
Ein Baby schreit
20 Minuten später hebt ein Kran steuerbord „Easy 2“ ins Wasser, ein orangefarbenes Rettungsboot mit rund 180 PS, backbord folgt „Easy 1“. Mit drei und vier Rettern in Schwimmwesten und Helmen steuern Boote und Mutterschiff nun in breiter Linie das Ziel an. Aus dem kleinen Licht in der Dunkelheit wird schließlich ein Boot – die Retter sind da.
Es ist eine Holzkonstruktion mit blau-rotem Rumpf, geschätzt zehn Meter lang und die Bordwand wohl keinen Meter über dem Wasserspiegel. 60 Menschen drängen sich darin. Die meisten wirken ruhig, später hört man ein Baby schreien. Der wenige Monate alte Junge bekommt die erste der Rettungswesten, die die „Easy 2“ in riesigen Plastiksäcken mitgebracht hat und nun austeilt.
„Kämpft nicht um Rettungswesten“
Bootsführer Tanguy und sein Kollege Dragos stehen dafür auf einer Plattform am Bug des Rettungsbootes. „Kämpft nicht um Rettungswesten“ ruft Tanguy, der die Menschen in der kommenden Stunde immer wieder anherrschen wird. Er muss die Menge unter Kontrolle halten, sonst kann es noch zum Kentern kommen. „Nicht bewegen“ ruft der 38-Jährige mit Dreadlocks unter dem Helm immer wieder, auf Englisch und Französisch.
„Dieser Kerl, du!“, heißt es, als er einen der Männer zum Rüberkommen aufs Rettungsboot aussucht. Dabei packen Tanguy und Dragos die Bootsflüchtlinge an den Armen und ziehen sie zu sich auf ihre Plattform. Dann gehen oder stolpern die Menschen, fast alle sind Männer, hinunter ins Boot, wo Tomoko ihnen Plätze zuweist. Zum Rüberholen müssen die Boote sich einerseits nah sein. Doch die Wellen schaukeln beide hoch und hin und her, immer wieder stößt „Easy 1“ fast mit dem Holzboot zusammen. Fahrer Antonin lässt dann den Motor röhren und setzt zurück. Dann beginnt das Manöver von vorn.
Der Ton ändert sich
Mit rund 20 Menschen an Bord rast das Rettungsboot schließlich zum Mutterschiff, wo an einem bis zum Wasser reichenden Aufgang das Deckteam die Leute an Bord zieht. „Easy 1“ macht die Fahrt zum Holzboot noch einmal und holt mit „Easy 2“ zusammen die Übriggebliebenen.
Für die Geretteten ändert sich auf der „Ocean Viking“ nun der Ton. Waren eben noch klare Kommandos wichtig für ihr Überleben, werden sie nun willkommen geheißen. Die Helfer, vor allem von „Ärzte ohne Grenzen“ sind nun am Zug, fragen sie nicht nur nach Alter und Herkunftsland und versorgen sie mit Essen und Kleidung. Sie schütteln ihnen auch die Hände oder legen kurz den Arm um die Schulter.
Die „goldene Stunde“
Hannah Wallace Bowman von „Ärzte ohne Grenzen“ begrüßt einen Mann, der eine Kapuze aufhat, aber weder Schuhe noch Socken an den Füßen. Sie fasst ihn sanft am Arm und begleitet ihn einige Meter bis zum Männercontainer, einer spartanischen Unterkunft für die nächsten Tage. Dort lassen sich die Geretteten unter Heizstrahlern auf dem nackten Boden, Decken oder Matten nieder.
Als drei Männer von „Ärzte ohne Grenzen“ sie auf Französisch, Englisch und Arabisch begrüßen und ihnen die Regeln für das Schiff erklären, haben sich einige schon ausgestreckt oder die Augen zugemacht, andere plaudern und scherzen. Auf der „Ocean Viking“ hat die erste Zeit nach Registrierung und Einweisung, wenn der Stress der Reise und der Rettung von vielen Menschen abfällt und sie zur Ruhe kommen, einen eigenen Namen: die „goldene Stunde“. (epd/mig) Aktuell Panorama
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