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Interview mit Joachim Gauck

Neurechte Verführer nicht automatisch ausschließen

Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck wird heute 80 Jahre alt. Im Interview spricht er über 30 Jahre deutsche Einheit, die Regierungsbildung in Thüringen und den Umgang mit der AfD.

Von und Freitag, 24.01.2020, 5:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 23.01.2020, 15:45 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Herr Gauck, am 24. Januar begehen Sie Ihren 80. Geburtstag. Wie geht es Ihnen?

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Joachim Gauck: Meine körperliche und psychische Gesundheit ist gut, ich bin darüber froh und dankbar.

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Und wie geht es ihrer Einschätzung nach dem Land?

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Joachim Gauck: Das Land sollte gelegentlich in seine Geschichte schauen, sich die Höhen und Tiefen anschauen und sich dann fragen, warum es sich nicht besser fühlt. Die Deutschen neigen zu einer gewissen Verdrießlichkeit. Wir könnten auch manchmal Erntedank feiern, für das, was uns in den zurückliegenden 70 Jahren gelungen ist. Das vergessen wir gelegentlich.

30 Jahre Mauerfall im vergangenen Jahr waren für viele in Ost und West vor allem mit positiven Emotionen verbunden. Müssen wir bei den Feiern zu 30 Jahren deutscher Einheit in diesem Jahr kritischer fragen, was schiefgelaufen ist zwischen Ost und West?

„Mir liegt ein erweiterter Toleranz-Begriff am Herzen. Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, auf die Intoleranz neurechter Verführer nicht mit einer Wagenburg-Mentalität der Progressiven zu antworten, die den Diskurs so verengt, dass automatisch Teile der Bevölkerung ausgeschlossen sind aus der Debatte.“

Joachim Gauck: Das ist ja reichlich geschehen. Man kann über manche Unzulänglichkeit sprechen. Ich weiß, wie schwer der Wandel für die Ostdeutschen war und wie bitter für viele etwa Zeiten von Arbeitslosigkeit. Bei genauem Hinsehen aber ist zum Beispiel die Arbeit der Treuhand nicht so kritikwürdig wie von manchen dargestellt. Das Tempo des Vereinigungsprozesses hat manches Problem gebracht. Unsere Psychen brauchen Zeit für Veränderungen. Aber es gibt politische Situationen, da existiert der Zeitfundus nicht. Das war 1989/90 der Fall. Die Menschen in der DDR waren aus verständlichen Gründen ungeduldig. Sie wollten schnelle Veränderungen, auch schnell die D-Mark. Sie hätten keine Geduld gehabt mit längeren Experimenten oder langjährigen Erprobungsphasen. Die spätere Klage, es sei alles zu schnell gegangen, übersieht die damalige Dynamik durch die Erwartungen großer Bevölkerungsgruppen im Osten. Wenn man bei all dem ehrlich ist, wird man sehen, dass unter diesem Zeitdruck das meiste so entschieden wurde, wie es die Mehrheit wollte – und so, dass eine Mehrheit der Betroffenen auf lange Sicht ganz gut klargekommen ist.

Täuscht der Eindruck, dass sich die innere Einheit eher wieder fragiler darstellt in den zurückliegenden Jahren?

Joachim Gauck: Diesen Befund teile ich. Es gibt eine fragilere Haltung großer Bevölkerungsschichten gegenüber der Ordnung, in der sie leben. Das gilt auch für die Akzeptanz der liberalen Demokratie. Viele europäische Länder sind geprägt von Erfolgen nationalpopulistischer Gruppierungen. Es existiert eine Neigung, Politik möge bitte einfacher sein. Dazu gibt es eine Melange von Ängsten, die Leute in der aktuellen Situation geprägt von Europäisierung, Globalisierung und rasanter technologischer Innovation miteinander teilen. In solchen Lebensphasen sind große Gruppen der Bevölkerung geprägt von einer Furcht vor der Moderne. Viele sind dann so frustriert, dass sie nach rechtsaußen abdriften. So lässt sich der Erfolg von Populismus und Retro-Politik bei Vielen als Sehnsucht nach Überschaubarkeit und Beheimatung im Vertrauten erklären.

Das heißt, die neuen gesellschaftlichen Entwicklungen überlagern die noch bestehenden Ost-West-Unterschiede?

2010 trat Joachim Gauck an als Kandidat von SPD und Grünen für das Bundespräsidentenamt, verlor aber gegen Christian Wulff. Bei seiner Wahl in der Bundesversammlung 2012 stand hinter Gauck dann ein breites Bündnis.

Gauck wurde zur Hassfigur für extrem Rechte, als er im Flüchtlingssommer 2015 angesichts von Anschlägen auf Asylbewerberheime und Pöbeleien gegen Regierungspolitiker von „Dunkeldeutschland“ sprach. Nur einen Monat später wurde eine Rede von ihm als Plädoyer für eine Begrenzung der Einwanderung verstanden. „Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten, sie sind endlich“, sagte er im September 2015.

In seinem 2019 erschienenen Buch „Toleranz“ fordert Gauck, stärker zu unterscheiden zwischen „rechtsextrem“ und „rechts“ im Sinne von „konservativ“. Außerdem fordert Gauck in seinem Buch eine Islamkritik und das Benennen von Integrationshemmnissen, die in der Religion begründet lägen. Zugleich war er 2016 als erster Bundespräsident offiziell Gast einer muslimischen Gemeinde beim Fastenbrechen zum Ende des Ramadan.

Joachim Gauck: Ja, davon bin ich überzeugt. Aber außerdem sind wir in Ostdeutschland wie unsere europäischen Nachbarn in Mittel- und Osteuropa noch Teil einer Transformationsgesellschaft. Prozesse der Ermächtigung zu Eigenverantwortung und Teilhabe, die Vielfalt der Lebensmodelle, die Vielzahl von Entscheidungsmöglichkeiten – all das war in der Diktatur völlig anders als in der Freiheit. Deshalb gibt es unterschiedliche Reaktionsmuster auf verschiedene politische Szenarien. Da finden wir im Osten mehr Ängstlichkeit und Beharrlichkeit – und deswegen auch Unterschiede in der politischen Kultur von Ost und West. Dies festzustellen bedeutet allerdings nicht, den Ostdeutschen einen Charaktermangel zu unterstellen.

In den vergangenen Tagen haben Sie Gespräche zur Regierungsbildung in Thüringen geführt. Warum mischen Sie sich dort ein?

Joachim Gauck: Naja…. Ich habe mich mit dem Ministerpräsidenten und Herrn Mohring getroffen, um über die Thüringer Situation zu sprechen. Aus meiner Sicht würde eine Mehrheit der Thüringer frustriert sein, wenn ein halbes Jahr nach der Wahl keine Regierung gebildet werden könnte. Handlungsunfähigkeit würde dann den allgemeinen Verdruss gegenüber der Politik, den Politikern und der Demokratie stärken. Deswegen sollte die CDU Regierungsfähigkeit nicht behindern. Ich denke, es gibt dafür Möglichkeiten, trotz der grundsätzlichen Ablehnung einer Koalition mit der Linkspartei. Politik muss auch in schwierigen und hochkomplexen Situationen handlungsfähig werden, sonst wird sie ein Treiber für Frust und für die Sehnsucht nach einem „starken Mann“.

Hat sich Ihre Einstellung gegenüber der Linken verändert?

Joachim Gauck: Ministerpräsident Ramelow gehört zu dem Teil der Linken-Politiker, den ich respektiere, weil er fest auf dem Boden unserer Verfassung pragmatisch Politik macht. Auch wer Antikommunist ist wie ich wird erkennen, dass von diesem Mann keine kommunistische Gefahr ausgeht. Und die Wähler haben das eindrucksvoll so bestätigt. In dieser konkreten Situation hat Ramelow am ehesten den Regierungsauftrag.

Wie sollte der Dialog mit der AfD geführt werden und wo ist die Grenze zur Intoleranz, über die Sie in Ihrem jüngsten Buch schreiben?

„Wir werden in einer offenen Gesellschaft nie eine Situation erreichen, in der sich alle einig sind. „

Joachim Gauck: Mir liegt ein erweiterter Toleranz-Begriff am Herzen. Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, auf die Intoleranz neurechter Verführer nicht mit einer Wagenburg-Mentalität der Progressiven zu antworten, die den Diskurs so verengt, dass automatisch Teile der Bevölkerung ausgeschlossen sind aus der Debatte. Ich möchte nicht, dass in Deutschland in bestimmten Fragen eine so breite Trennung entsteht, dass die Lager nur noch verfeindet sind, so wie seit einiger Zeit in den USA. Daher plädiere ich für eine erweiterte Toleranz oder auch eine kämpferische Toleranz. Wir müssen lernen, deutlicher miteinander zu streiten. Wir müssen deutliche Stoppschilder setzen, müssen dort intolerant sein, wo Hass gepredigt, Gewalt geübt, oder unser Grundgesetz missachtet wird. So lange das nicht der Fall ist, muss ich abseitige Meinungen oder Haltungen, die ich altmodisch oder falsch finde, aushalten und kann gegen sie argumentieren. Ich muss begreifen, dass die Vorstellung einer quasi gereinigten Gesellschaft undemokratisch ist, dass das Leben mit Zumutungen hingegen der demokratische Normalfall ist.

Ist es intolerant, wenn der Kirchentag AfD-Mitglieder auf Podien ausschließt?

Joachim Gauck: Ja, das ist intolerant. Ich kann gut verstehen, wenn bestimmte Vertreter der Partei nicht eingeladen werden. Ich kann auch verstehen, wenn Einzelne mit denen nicht auf dem Podium sitzen wollen, weil sie da ihre Toleranzgrenze erreicht haben. AfD-Vertreter generell auszuschließen halte ich aber für schwierig. Wenn wir Tabuzonen errichten, wo wir eigentlich eine Debatte brauchen, ist das nicht gut.

Ihr Buch über Toleranz ist ein Plädoyer, dass die Gesellschaft beieinanderbleibt. Was bedeutet das für die Suche nach einem Konsens in der Generationen-Frage des Klimawandels?

Joachim Gauck: Wir werden in einer offenen Gesellschaft nie eine Situation erreichen, in der sich alle einig sind. Die jungen Leute pushen uns Ältere zu entschiedenerem Handeln. Das will ich nicht bloß als Modeerscheinung betrachten. Sie zeigen eine sehr wichtige Haltung für eine lebendige, offene Demokratie, nämlich ein Wir-sind-zuständig. Es ist erlaubt, radikale Forderungen zu stellen. In der Praxis muss der Klimaschutz aber zusammengebracht werden mit anderen Themen unserer Gesellschaft. Wer auch weiter in Wohlstand und sozialer Sicherheit leben will, wird eine starke Wirtschaft brauchen. Dafür brauchen wir unsere Industrie. Und die Belastungen, die der Klimaschutz bringt, müssen fair ausgeglichen werden. Gerade unsere Volksparteien müssen diese unterschiedlichen Interessen abwägen. Das dauert dann manchmal länger, aber ohne solche Kompromisse bleibt unsere Gesellschaft nicht zusammen.

Wie werden Sie Ihren Geburtstag verbringen?

Joachim Gauck: Es wird ein Fest mit Musik und einigen Reden geben. Irgendwann werde ich todmüde ins Bett fallen und hoffentlich noch Zeit finden für ein Dankgebet. Als ich geboren wurde, war die Zeit geprägt von Krieg und Diktatur, in der Mitte meines Lebens war die westliche Freiheit begleitet von östlicher Diktatur, in der Spätphase meines Lebens ist mein, unser wiedervereinigtes Land geprägt von Freiheit und Recht. Es ist ja ziemlich erstaunlich, dass ein Mensch mit dieser Herkunft mit seinem Land diese Erfahrung macht und später sogar noch Präsident wird. Das ist schon mehr als ein normaler Mensch erwarten darf. (epd/mig) Aktuell Interview Politik

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