Push-Backs an EU-Außengrenzen
Wissenschaftlicher Dienst stärkt Rechte von Geflüchteten
Immer mehr Geflüchteten wird der Zugang zu einem fairen Asylverfahren in Europa durch sogenannte „Push“ oder auch „Pull-Back“ Operationen verwehrt. Nun hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags gleich in zwei Ausarbeitungen das Recht von Geflüchteten gestärkt.
Von Lisa Pollmann Dienstag, 21.04.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 21.04.2020, 11:14 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Die europäische Abschottungspolitik hat dazu geführt, dass immer mehr Geflüchtete gar nicht erst die Chance erhalten, einen Asylantrag in Europa zu stellen, denn bereits an den Außengrenzen werden sie zurückgewiesen. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) dokumentieren diese Vorgehensweise, sei es an Land im türkisch-griechischen Grenzgebiet, an den Außengrenzen in der Balkanregion oder auf See, beispielsweise auf der zentralen Mittelmeerroute. Schutzsuchende werden systematisch ihres Rechts auf effektiven Zugang zu einem individuellen Asylverfahren beraubt und stattdessen, häufig unter Anwendung von Gewalt, in Länder zurückgeführt, die mit der Aufnahme überfordert sind und keinen adäquaten Schutz gewährleisten. Moralisch ist das Vorgehen der EU und ihrer Grenzschutzagentur Frontex verwerflich, aber wie sieht es mit der rechtlichen Einordnung dieser Abschottungsmaßnahmen aus?
Refoulementverbot schützt Geflüchtete vor Zurückweisung
Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags hat sich im März gleich zweimal mit der Zurückweisung/Zurückschiebung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen beschäftigt. Konkret handelt es sich um eine völkerrechtliche Einordnung der „Push-Backs“, die vor einigen Wochen am türkisch-griechischen Grenzübergang bei Pazarkule durch griechische Grenzschutzbeamte stattgefunden haben sowie um eine rechtliche Einordnung der Seenotrettung durch nicht-staatliche Akteure im Kontext libyscher „Pull-Back“ Operationen. Während sich beide Ausarbeitungen mit unterschiedlichen Formen der Zurückweisung/Zurückschiebung von Geflüchteten befassen, denen naturgemäß unterschiedliches Recht zugrunde liegt, finden sich Parallelen in der finalen Beurteilung: Beide Schriftstücke kommen zu dem Ergebnis, dass der Refoulementgrundsatz als höherrangiges Recht gegenüber staatlicher Hoheitsgewalt und anderslautender seerechtlicher Verpflichtungen gelte.
Das Refoulementverbot, verankert in diversen Dokumenten wie der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) oder auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu Artikel 3 (Verbot der Folter) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), schützt Geflüchtete vor Zurückweisung/Zurückschiebung und Abschiebung. Der Refoulementgrundsatz nimmt Staaten damit klar in die Verantwortung: Drohen Geflüchteten in anderen Ländern Folter oder unmenschliche Bedingungen, dürfen sie dieser Gefahr weder durch Zurückweisung/Zurückschiebung noch durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen ausgesetzt werden.
Nicht-staatliche Seenotrettung vor der Küste Libyens
Der Wissenschaftliche Dienst resümiert in seiner Ausarbeitung, dass sich das Refoulementverbot auch auf private Seenotrettungsakteure, beispielsweise Handelsschiffe, ausweiten lasse; und zwar auch dann, wenn, im Gegensatz zu Staaten, zunächst keine rechtliche Verbindlichkeit vorliege. Es bestehe nämlich die Möglichkeit, dem Refoulementverbot innerstaatlich Vorrang vor anderslautenden, widersprüchlichen rechtlichen Verpflichtungen einzuräumen und damit das rechtliche und ethische Dilemma, in dem sich viele private Seenotretter befinden, aufzulösen. Laut Artikel 25 Grundgesetz sind die allgemeinen Völkerrechtsnormen, und damit auch das Refoulementverbot, in ihrer Wichtigkeit vor einfachem nationalen Recht zu werten. Sollten diese Rechte kollidieren, beispielsweise wenn Schiffe unter deutscher Flagge, laut Verordnung über die Sicherung der Seefahrt (§ 2 SeeFSichV), eigentlich den Anweisungen der libyschen Seenotrettungsleitstelle zur Rückführung von Geflüchteten in die libyschen Elendslager Folge leisten müssten („Pull-Back“), steche das Refoulementverbot als höherrangiges Recht die Befolgungspflicht nach Paragraf 2 SeeFSichV.
Der Wissenschaftliche Dienst geht noch weiter: Private Seenotretter könnten sich nach deutschem Recht im Falle einer Beteiligung an libyschen „Pull-Backs“ sogar strafbar machen. Die Übergabe Schutzsuchender an ein Land wie Libyen, welches den Menschenrechtsstandards nachweislich nicht gerecht werde, erfülle den Straftatbestand der Aussetzung (§ 221 StGB); Menschen würden aus sicherer Obhut in eine hilflose Lage versetzt werden, in der ihnen Gefahr für Leib und Leben drohe.
Seit Jahresbeginn sind auf der Mittelmeerroute, Daten der Organisation Missing Migrants zufolge, bereits 253 Migranten ums Leben gekommen (Stand 16.04.20); die Dunkelziffer liegt vermutlich deutlich höher. Mit 146 Opfern ist die zentrale Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien/Malta besonders tödlich.
„Push-Backs“ im türkisch-griechischen Grenzgebiet
Auch im Falle der Anfang März stattgefundenen „Push-Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze kommt der Wissenschaftliche Dienst in einer Ausarbeitung vom 31. März 2020 zu dem Ergebnis, dass Griechenland das Refoulementverbot verletzt hat. Schutzsuchende wurden gewaltsam an der Einreise in die EU gehindert, Geflüchtete, denen die Einreise nach Griechenland trotzdem gelang, umgehend in die Türkei zurückgeschoben. Griechenland hatte diese Maßnahmen mit einer 30-tägigen Grenzschließung sowie der Aussetzung des Asylsystems für Schutzsuchende, die trotz geschlossener Grenzen „illegal“ einreisen konnten, legitimiert.
Auch wenn sich das Refoulementverbot im eigentlichen Sinne auf das Verbot aufenthaltsbeendender Maßnahmen beziehe und damit Geflüchtete betreffe, die sich bereits im Land aufhalten, dominiere mittlerweile eine extraterritoriale Anwendung des Refoulementgrundsatzes den völkerrechtlichen Diskurs. So findet beispielsweise Artikel 33 der GFK (Verbot der Ausweisung und Zurückweisung) überall dort Anwendung, wo Staaten im Sinne ihrer Hoheitsgewalt Kontrolle über Schutzsuchende ausüben. Dies beinhaltet selbstverständlich auch Grenzen, an denen Geflüchtete Asylanträge stellen dürfen. Wie verhält es sich nun, wenn Staaten ihre Grenzen schließen, um das Stellen von Asylanträgen bewusst zu verhindern?
Sinn-Zweck Argument steht Griechenlands Maßnahmen entgegen
Laut Gutachten steht schon das Sinn-Zweck-Argument (prima facie) den griechischen Maßnahmen entgegen, denn das Recht auf Non-Refoulement würde leerlaufen, wenn sich einzelne Staaten durch Abschottung ihrer asylrechtlichen Verpflichtungen entziehen könnten. Der gängigen Rechtsprechung des EGMR folgend, müsste Griechenland im Sinne einer EMRK-konformen Ausgestaltung seines Grenzregimes also reguläre Grenzübergangsmöglichkeiten schaffen, um effektive Zugänge zu individuellen Asylverfahren zu ermöglichen. Auch das Argument Griechenlands, die Türkei sei ein sogenannter „sicherer Drittstaat“, in denen Geflüchteten weder Folter noch unmenschliche Behandlung drohe, greife zu kurz. Zurückweisungen in „sichere Drittstaaten“ müsse immer auch eine individuelle Prüfung von Asylgesuchen vorausgehen. In diesem Zuge seien auch drohende Kettenabschiebungen in andere Staaten zu berücksichtigen.
Ob die Türkei als „sicherer Drittstaat“ klassifiziert werden kann, ist bereits vor Inkrafttreten des EU-Türkei Deals im Jahr 2016 stark umstritten gewesen. Die Türkei hat die GFK lediglich mit geografischem Vorbehalt ratifiziert; zahlreiche NGOs, wie Human Rights Watch, berichten bereits seit Monaten über menschenrechtsverletzende Zustände, wie erzwungene Rückreisen von Syrern in Kriegsgebiete. Geflüchtete werden zunehmend als machtpolitischer Spielball missbraucht. Dies zeigt sich auch wieder aktuell. Ähnlich zu den Vorfällen Anfang März hat die Türkei nun wieder bewusst Geflüchtete in Richtung der griechischen Grenze geschickt.
Übrigens rechtfertige auch der Ausbruch einer Pandemie grundsätzlich kein Außerkraftsetzen des Refoulementverbots, da es als notstandsfestes Menschenrecht nicht ausgesetzt werden dürfe. Auch das deutsche Infektionsschutzgesetz sehe bisher keine asylrechtlichen Ausnahmen vor; lediglich die Einreiseverweigerung zwecks Quarantänemaßnahmen sei gerechtfertigt. Leitartikel Panorama
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