Hessens Verfassungsschutz-Chef
„Bekämpfung des Rechtsextremismus ein absoluter Schwerpunkt“
Der hessische Verfassungsschutzpräsident Robert Schäfer sieht im Kampf gegen den Rechtsextremismus die wichtigste Aufgabe seiner Behörde. Im Gespräch beklagt er ein gesellschaftliches Klima, in dem fremdenfeindliche und rassistische Parolen auf fruchtbaren Boden fallen.
Von Gerhard Kneier Montag, 13.07.2020, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 12.07.2020, 21:53 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Der Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke in Kassel, Schüsse auf einen Eritreer in Wächtersbach, Morde an neun Menschen mit Migrationshintergrund in Hanau, Todesdrohungen gegen eine Frankfurter Rechtsanwältin und jetzt die Linken-Fraktionschefin im Landtag – ist Hessen eine Art Hotspot für rechtsextremistische Gewalt und Bedrohung?
Robert Schäfer: Das alles sind abscheuliche Straftaten, die Hessen besonders getroffen haben. Trotz dieser besonders schockierenden Taten liegt Hessen bei der Statistik zu rechtsextremistischen Gewalttaten im bundesweiten Vergleich hinten. Die Gefahr, dass aus rechtsextremistischer Motivation heraus Gewalttaten begangen werden, ist nicht auf Hessen begrenzt. Ich habe den Eindruck, dass in der jüngsten Zeit ein gesellschaftliches Klima entstanden ist, in dem fremdenfeindliche und rassistische Parolen zunehmend auf fruchtbaren Boden fallen. Man denke nur an die rechtsextremistischen Hasskommentare im Internet mit ihrer enormen Reichweite. Die einen agitieren verbal, andere schreiten zur Tat. Wir müssen alles daransetzen, solche Taten zu verhindern.
Parallel zum Prozess um den Mord an Walter Lübcke hat sich im Landtag ein Untersuchungsausschuss konstituiert, der die Arbeit der Sicherheitsbehörden und des Verfassungsschutzes beleuchten soll. Werden Sie mit dem Ausschuss konstruktiv zusammenarbeiten, Fragen umfassend beantworten und die Akten offenlegen?
Robert Schäfer: Das ist eine Selbstverständlichkeit. Den Ausschuss werden wir bestmöglich unterstützen. Das gilt auch und gerade für Fragen zur Arbeit des Verfassungsschutzes. Wir werden die Akten, die der Untersuchungsausschuss mit Beweisbeschlüssen anfordert, schnellstmöglich vorlegen. Die Aufarbeitung der Akten, die rechtlich vorgeschriebene Koordinierung mit anderen Behörden und die Endkontrolle bestehen aber aus vielen Arbeitsschritten, die notgedrungen eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen.
Nach Presseberichten hatte einer ihrer Vorgänger als Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz den jetzt als mutmaßlichen Lübcke-Mörder angeklagten Stephan E. in einem internen Vermerk als „brandgefährlich“ bezeichnet. Wie war es möglich, dass seine Beobachtung trotzdem eingestellt und er als angeblich „abgekühlt“ eingestuft wurde?
Robert Schäfer: Zu Stephan E. hat das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen seit 2009 keine Erkenntnisse mehr registriert. Das Gesetz gibt vor, spätestens nach fünf Jahren zu prüfen, ob personenbezogene Daten zur Aufgabenerfüllung noch erforderlich sind. Das ist im Fall von Stephan E. Anfang 2015 geschehen. Damals wurde seine Personenakte im Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben gesperrt. Als Sicherheitsbehörde reflektieren wir unsere Arbeit und suchen immer nach Optimierungspotenzialen. Wir haben daher eine neue Einheit gegründet: BIAREX (Bearbeitung integrierter bzw. abgekühlter Rechtsextremisten), um uns noch einmal genau jene Rechtsextremisten anzuschauen, die seit längerer Zeit nicht mehr rechtsextremistisch in Erscheinung getreten sind. Diese Personen prüft BIAREX noch einmal intensiv. Dabei stellen wir bewusst niedrige Hürden für eine weitere Beobachtung auf.
Im März hieß es, die Überprüfung der Altfälle habe bereits 20 weitere fälschlich als inaktiv eingestufte Rechtsextremisten ergeben. Wie ist der aktuelle Stand der Überprüfung?
Robert Schäfer: Bisher sind wir in 31 Fällen zu dem Ergebnis gelangt, dass wir die Personen wieder in die aktive Bearbeitung nehmen. Bei der Überprüfung durch BIAREX geht es um die Frage, ob die Loslösung der betreffenden Person aus der rechtsextremistischen Szene und deren Ideologie plausibel ist.
Kritiker meinen, dass Sicherheitsbehörden und Verfassungsschutz den Rechtsextremismus lange unterschätzt haben. Wird ihm heute in Hessen genug Aufmerksamkeit geschenkt?
Robert Schäfer: Für mich ist die Bekämpfung gerade des Rechtsextremismus seit dem ersten Tag im Amt, also seit Ende Februar 2015, ein absoluter Schwerpunkt. Wir haben 2016 eine eigene Abteilung geschaffen, die sich nur darum kümmert. Den Personalansatz in dieser Abteilung haben wir seitdem fast verdreifacht, auf mittlerweile knapp 60 Mitarbeiter. Wir haben die Behörde insgesamt und gerade im Hinblick auf den Rechtsextremismus operativer ausgestaltet und arbeiten unter Einhaltung des Trennungsgebots enger mit der Polizei zusammen. Wir haben die wissenschaftliche Analysekompetenz verstärkt und Dutzende Wissenschaftler eingestellt. Und wir haben die Zusammenarbeit mit den Waffenbehörden intensiviert, damit möglichst keine legalen Waffen in die Hände von Extremisten gelangen. Mein Ansatz ist eine Null-Toleranz-Strategie. Da unternehmen wir enorme Anstrengungen – jetzt und in Zukunft.
Es war vor einigen Monaten von 80 unbesetzten Stellen beim hessischen Verfassungsschutz die Rede. Ist das noch aktuell?
Robert Schäfer: Ende letzten Jahres war das die Zahl der freien Stellen. Wir hatten ja einen historischen Stellenzuwachs von 120 Stellen in vier Jahren. Wir haben seit 2016 über 600 Auswahlgespräche geführt, allein in diesem Jahr waren es trotz Corona-Pandemie schon 60. Im ersten Halbjahr haben wir 26 neue Mitarbeiter eingestellt, weitere 41 befinden sich derzeit im Einstellungsverfahren. Damit wären schon vier Fünftel der 80 freien Stellen aus dem vergangenen Jahr besetzt. Ich bin optimistisch, dass auch das letzte noch fehlende Fünftel bis zum Jahresende ins Einstellungsverfahren kommt. Es gibt zahlreiche Bewerbungen.
Worin sehen Sie die wichtigsten Aufgaben des Verfassungsschutzes in Hessen?
Robert Schäfer: Da steht der Rechtsextremismus ganz oben als derzeit größte Bedrohung für unsere Gesellschaft. Aber wir dürfen auch in den anderen Phänomenbereichen nicht nachlassen. Wir müssen Informationen über alle Bestrebungen sammeln und auswerten, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Aber mir liegt auch die Prävention sehr am Herzen: jungen Menschen zu erklären, wo die Gefahren des Extremismus liegen, damit sie nicht hineinschlittern; deutlich machen, wie die Mechanismen der Radikalisierung sind und wie sich der Sprachgebrauch von Extremisten verändert. Unsere Präventionsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter halten jährlich Hunderte von Vorträgen, zum Beispiel vor Lehrkräften und bei der Polizei. Wir beraten auch Kommunen und weitere Institutionen. Unsere Präventionsangebote werden rege in Anspruch genommen. (epd/mig) Aktuell Interview Panorama
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