Weltenkinder
Wie interkulturelle Pflegefamilien zusammenwachsen können
Viele Pflegekinder stammen aus Familien mit Migrationshintergrund. Für die Pflegeeltern erfordert es besondere Sensibilität, auf ein Kind mit anderer kultureller Prägung einzugehen und ihn in das Familienleben einzugliedern.
Von Jana-Sophie Brüntjen Mittwoch, 12.08.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 11.08.2020, 17:31 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Es waren die Bilder der Boote auf dem Mittelmeer, der überfüllten Lager und der verzweifelten Familien, die die Khalids zu ihrer Entscheidung brachten. „Wir konnten die Situation nicht ertragen und mussten einfach helfen“, sagt Sabine Khalid heute, zwei Jahre nachdem sie einen fünfjährigen Jungen aus einer irakischen Flüchtlingsfamilie aufgenommen haben. Ein Pflegekind mit einer anderen Kultur, einer anderen Religion als ihrer.
Sabine Khalid ist nicht ihr echter Name, diesen möchte sie zum Schutz des Kindes nicht öffentlich machen. Die Khalids waren schon immer eine interkulturelle Familie. Die Mutter wurde in der DDR geboren, der Vater in Marokko. Gemeinsam mit ihren beiden leiblichen Kindern im Teenageralter lebten sie in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen, als sie sich beim interkulturellen Verein PLANB Ruhr in Bochum als potenzielle Pflegeeltern meldeten.
Der Verein fungiert als Vermittler zwischen Familien und Jugendämtern. Paare oder Alleinstehende, die ein Kind aufnehmen möchten, werden auf Motive, Einstellungen und Hintergründe geprüft. „Am Anfang führen wir ein Gespräch mit den Eltern“, erklärt Gordon Stelmaszyk, Fachbereichsleitung stationäre Hilfen für Kinder. Danach werde die Familie ein- oder zweimal zu Hause besucht, jeweils von unterschiedlichen Mitarbeitern. Am Ende entscheide das Team auf Grundlage festgelegter Vorgaben, wer an den verpflichtenden Schulungen für Pflegeeltern teilnehmen darf. Wenn dann eine Anfrage vom Jugendamt kommt, wendet sich der Verein an potenzielle Pflegeeltern.
Mehr Pflegekinder als Pflegeeltern
Alle Anfragen könne er nicht bedienen, sagt Stelmaszyk. „Es gibt immer mehr Pflegekinder als Pflegeeltern.“ Allein in Nordrhein-Westfalen lebten 2015 nach Angaben des LWL-Landesjugendamts Westfalen rund 26.000 Kinder in Vollzeitpflege, davon jedes viertes mit Migrationshintergrund, etwa jedes zehnte sprach nicht vorrangig deutsch. Bundesweit schwanken die Zahlen je nach Quelle in einem ähnlichen Bereich. Nicht jedes dieser Kinder wird über einen Verein vermittelt, auch die Jugendämter haben dafür eigene Stellen.
Sabine Khalid ist Sonderpädagogin, ihr Mann Ahmed Lehrer. Ihre Erfahrung und Ausbildung machen sie nach der Kategorisierung von PLANB Ruhr zu einer professionellen Pflegefamilie, die auch auf Traumata und eventuelle Verhaltensauffälligkeiten des Pflegekindes vorbereitet ist. Als ihr Pflegesohn zu ihnen kam, konnte er kaum sprechen, auch seine Muttersprache nicht. Einige seiner Verhaltensweisen entsprachen nicht seinem Alter.
Unterschiedliche mentale Modelle
Solche Auffälligkeiten seien typisch für Kinder mit Kriegs- und Fluchterfahrungen, sagt Anke Lingnau-Carduck, Familientherapeutin und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie. Neben psychischen Problemen kämen die Kinder gleichzeitig mit einer Kultur, die sich teilweise elementar von der der Pflegefamilie unterscheidet.
Herausfordernd sind laut Lingnau-Carduck bei jeder interkulturellen Pflegefamilie die unterschiedlichen „mentalen Modelle“: „Das mentale Modell zum Thema ‚Respekt‘ bestimmt zum Beispiel, wie man Menschen begrüßt, wie viel Berührung akzeptabel ist und ob man jemandem in die Augen schaut“, erklärt sie. Besonders kompliziert werde es, wenn Dinge im alten Umfeld des Kindes als verboten angesehen würden wie Homosexualität oder freizügige Kleidung. Es brauche Neugier für und Respekt vor der Kultur des Anderen.
Ähnliche Kultur von Vorteil
Das Team um Bereichsleiter Stelmaszyk versucht daher, Kinder möglichst in Familien unterzubringen, die eine ähnliche Kultur haben wie sie oder die deren Muttersprache sprechen. Für die Identitätsbildung der Kinder sei es sehr wichtig, eine Verbindung zu ihrer Herkunftskultur zu haben: „Nichts ist schlimmer, als wenn die Pflegekinder später ihre leiblichen Eltern treffen und weder ihre Sprache noch ihre Denkweise verstehen“, sagt Stelmaszyk.
Die Khalids besuchen mit ihrem Pflegesohn regelmäßig Menschen aus seinem Kultur- und Religionskreis, wie sie erzählen, sie nehmen an Festen teil und beschäftigen sich mit deren Bräuchen und Werten. „Wir kochen zum Beispiel zusammen Gerichte aus seiner Herkunft“, sagt Sabine Khalid. Die Esskultur habe die Familie von Beginn an verbunden. „Er mag das gleiche Essen wie wir und kennt es auch, bestimmte Speisen mit den Händen zu essen“, sagt sie.
Bewusstsein für Alltagsrassismus
Auch Familientherapeutin Lingnau-Carduck betont die Bedeutung von gemeinsamen Mahlzeiten: „Durch Essen kann Sicherheit hergestellt werden.“ Um eine interkulturelle Familie zusammenzubringen, eigneten sich generell Rituale, die über die Sinne gingen. Die Pflegefamilie könne zum Beispiel gemeinsam Musik aus dem jeweils anderen Kulturkreis hören.
Die Verbundenheit zwischen Pflegeeltern- und kindern schützt aber nicht vor Anfeindungen von außen. Vielen Familien fehle das Bewusstsein für Alltagsrassismus, gibt Lingnau-Carduck zu bedenken. Sabine Khalid ist froh, dass ihr Pflegesohn optisch in ihre Familie passt, wie sie sagt. „Er möchte nicht, dass andere Kinder wissen, dass er eine andere Bauchmama hat und muss es so niemandem erzählen.“ Bald macht ein weiteres Pflegekind mit Migrationshintergrund, ein dreijähriges Mädchen, die interkulturelle Familie komplett. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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