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Stefan Matern, MiGAZIN, Meinung, Einbürgerung, Rechtswissenschaft, Jura
Stefan Matern © privat, Zeichnung: MiG

Kommunalwahlrecht

Alle Staatsgewalt geht von einem Teil des Volkes aus

Das kommunale Wahlrecht wird am 13. September in NRW wieder über eine Million Menschen von der Wahl ausschließen. Höchste Zeit, dieses Thema auf die Agenda zu setzen.

Von Freitag, 21.08.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 20.08.2020, 14:52 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die Bedeutung der kommunalen Ebene zeigt sich in der Corona-Pandemie. Denn die Kompetenzen der Kommunen im vom Subsidiaritätsprinzip geprägten föderalen Deutschland – bspw. die Umsetzung der Abstandsregel oder die Öffnung der Schulen – betreffen den Alltag aller Bürger. Nun gehört der Satz „Deutschland ist ein Einwanderungsland“ zwar schon seit geraumer Zeit zum offiziellen Vokabular von CDU und CSU, doch nach wie vor sind auf kommunaler Ebene allein in der Landeshauptstadt Düsseldorf rund 98.000 (Stand 2018) der dort lebenden, arbeitenden und steuerzahlenden Menschen von der Wahl ausgeschlossen, weil sie keinen deutschen und auch keinen EU-Pass besitzen.

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Für ganz Nordrhein-Westfalen sind es etwa neun Prozent der Bevölkerung. Denn wahlberechtigt sind in Deutschland zunächst einmal nur die „Deutschen“. In Art. 20 Grundgesetz ist jedoch nicht die Rede vom „deutschen“, sondern nur vom „Volk“, von dem durch „allgemeine Wahl“ die Staatsgewalt ausgeht. Durch eine Interpretation des BVerfGE aus dem Jahr 1990 wird die Zahl der möglichen Wahlberechtigten aber auf die „Deutschen“ reduziert.

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Daher fragt der deutsche Staatswissenschaftler Robert Christian van Ooyen zurecht: Warum entsteht auf der einen Seite durch das Abstammungsprinzip Gleichheit im Sinne von „zum Volk zugehörig“ und wieso auf der anderen Seite Ungleichheit, die von politischer Mitbestimmung ausschließt? Und warum kann die Zugehörigkeit zum Volk bei hier geborenen Deutschen qua Geburt vorausgesetzt werden, nicht aber bei hier geborenen Ausländern?

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Fehlendes Ausländerwahlrecht? Diskriminierung!

Nach Cicero ist Bürger und damit zum Volk zugehörig, wer dauerhaft der Rechtsordnung unterworfen ist1. Die Einheit des Volkes besteht nur juristisch als die Einheit der das Verhalten der normunterworfenen Menschen regelnden staatlichen Rechtsordnung. Vor der conditio sine qua non einer pluralistischen Demokratie, dem gleichen Wahlrecht für alle, ist ein Ausländerwahlrecht dann zwingend geboten.

Doch in seinem Urteil zur Frage nach der Verfassungsmäßigkeit eines Ausländerwahlrechts in Schleswig-Holstein im Jahr 1990 schlug das BVerfGE einen Umweg über die Erleichterung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit vor2 Dieser wurde mit der Einführung des Geburtsortsprinzips im Jahr 2000 zwar beschritten – wer hier geboren ist, ist deutsch und darf somit wählen – aber alle anderen vorher hier geborenen „Drittstaatsangehörigen“ bleiben von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen.

Frei nach Robert Christian van Ooyen, der die anti-pluralistische Tradition der Urteile des BVerfGE zum Volksbegriff herausgearbeitet hat: So wie niemand Männer ohne Einkommen erst reich gemacht hat, bevor sie das Wahlrecht erhielten, ist es unsinnig, „Ausländer“ erst „deutsch“ zu machen, bevor ihnen das Wahlrecht zugestanden wird. Dass durch die Ewigkeitsklausel Art. 79 Abs. 3 GG die Einführung eines kommunalen Ausländerwahlrechts für Drittstaatsangehörige im Übrigen nicht ausgeschlossen ist, hat die Bundesregierung schon im Jahr 2007 in der Antwort auf eine Anfrage der Linken unter Bezugnahme auf das Urteil des BVerfGE von 1990 zugegeben3.

Die Beschränkung des kommunalen Wahlrechts ist lange überholt

In einer globalen Welt, in der Migration die Norm ist, ist die Idee der Einschränkung politischer Aktivitäten ausländischer Staatsangehöriger (sie stammt aus dem 19. Jahrhundert) ohnehin überholt. Im Jahr 1992 verabschiedete der Europarat ein Übereinkommen über die Beteiligung von Ausländer am kommunalen öffentlichen Leben. In Artikel 6 heißt es dort, dass „jeder  ansässige Ausländer“, unabhängig von seiner Nationalität, wenn er „in den letzten fünf Jahren vor der Wahl rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem betreffenden Staat hatte“, das aktive und passive Wahlrecht für Kommunalwahlen erhalten soll – unter der Voraussetzung, „dass er dieselben rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, die für Staatsangehörige gelten.“

Heute, fast 30 Jahre später, hat es Deutschland – im Gegensatz zu 14 anderen EU-Mitgliedsstaaten – noch immer nicht geschafft, diesen so wichtigen Schritt zu gehen. Zu einem Rückgang des Interesses an der Einbürgerung hat das kommunale Ausländerwahlrecht in den besagten Ländern übrigens nicht geführt. Es sind andere Gründe, die Einbürgerungen verhindern: der Verlust von Eigentums- und Erbrechten im Herkunftsland, die dazu bestehenden emotionalen Bindungen, hohe Kosten des Einbürgerungsprozesses, oder schwierige Sprach- und Integrationstests. Letzteres kann bei einer (Lern-)Behinderung eine Einbürgerung gar unmöglich machen, wenn nicht für die notwendigen Tests gelernt werden kann.

Gleichberechtigte Teilhabe führt zu Integration – nicht umgekehrt

Die Situationsdefinition „Das kommunale Ausländerwahlrecht verringert das Interesse an Integration und Einbürgerung“ ist falsch, wird aber dadurch, dass sie öffentlich wird, integraler Bestandteil der Situation. Durch die institutionelle Festschreibung (kein kommunales Wahlrecht für Drittstaatenangehörige) verfestigt sie sich und ruft bei Betroffenen ein Desinteresse an politischer Teilhabe hervor. Die zu Beginn falsche Situationsdefinition erzeugt also ein Verhalten, das die ursprünglich falsche Sichtweise scheinbar richtig werden lässt: im Sinne des Soziologen Robert K. Merton ist das eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Dieses Problem wird durch zwei weitere Faktoren verschärft: Im Grundgesetz sind der Schutz vor Diskriminierung und die Gleichheit aller Menschen (nicht aller Deutschen) festgeschrieben, werden aber durch die realiter vorliegenden Bedingungen konterkariert. Eine zusätzliche Diskriminierung entsteht durch das kommunale Wahlrecht für EU-Bürger:innen, das im Übrigen auch die nicht notwendige Beziehung zwischen dem Wahlrecht und der Eigenschaft „deutsch“ illustriert. Warum eine Ungarin in Deutschland auf kommunaler Ebene wählen darf, eine Albanerin aber nicht, ist nicht erklärbar. Durch diese Diskriminierung nach Staatsbürgerschaft entstehen Ausländer zweiter Klasse.

Die ursprüngliche Annahme muss also infrage gestellt werden. Denn die Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts würde für eine höhere Motivation zur Einbürgerung sorgen und als symbolisches Zeichen eine Anerkennung für den laufenden Beitrag zur Stadt darstellen: ein sichtbares Bekenntnis zur Einbeziehung im öffentlichen Bereich. Darüber hinaus würde das Wahlrecht motivieren, sich auch anderweitig politisch zu engagieren – darauf deutet empirische Forschung hin.

Doch schon jetzt gibt es in Deutschland Wahlkreise, in denen der Anteil der Menschen ohne Wahlrecht bei rund 40 Prozent liegt. So verkehrt sich das Verhältnis von Beherrschten zu Herrschenden zunehmend – denn mit steigendem Ausländeranteil wird das Demos kleiner. Das ist ein großes Problem für die demokratische Legitimation. Wenn im „Einwanderungsland“ Deutschland mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Fehler der 1960er und 1970er Jahre also vermieden werden wollen, dann braucht es ein Umdenken: das (kommunale) Wahlrecht darf nicht am Ende, sondern muss am Anfang eines gelungenen „Integrationsprozesses“ stehen. Damit würde endlich dem Grundsatz der Gleichheit und Nicht-Diskriminierung Rechnung getragen.

  1. Cic. Rep. 49: 141
  2. BVerfGE 83, 37 (52).
  3. Drucksache 16/4666
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  1. A.F:B. sagt:

    Auch ich als Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland kann nicht an Kommunal- und Landtagswahlen teilnehmen, da ich in einem außereuropäischen Land lebe und keinen Wohnsitz in der BRD gemeldet habe. An den Bundestagswahlen könnte ich teilnehmen, habe das bisher jedoch nicht getan, da mir der Vorgang über Briefwahl mit Anforderung der Unterlagen von meinem letzten Wohnort in der BRD und zweimaligem Aufsuchen der deutschen Botschaft in meinem Gastland zu umständlich erscheint. So kommt es, daß ich seit über dreißig Jahren in keiner Wahl mehr meine Stimme abgegeben habe. Dank der heutigen Kommunikationsmittel, insbesondere des Internets, wie auch durch gelegentliche Besuche in meiner ersten Heimat ist es mir möglich, die Geschehnisse und Entwicklungen genau zu verfolgen, von der Mitbestimmung durch Wahlen bin ich jedoch ausgeschlossen.