Kinostart
Überleben durch Sprache
In der Nazi-Farce "Persischstunden" überlebt der jüdische Belgier Gilles das Konzentrationslager nur, weil er dem Kommandanten Farsi beibringt. Problem: Er kann gar kein Farsi - und muss deshalb eine Sprache erfinden, um zu überleben.
Donnerstag, 24.09.2020, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 23.09.2020, 12:11 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Als deutsche SS-Leute im Februar 1942 Juden in einem französischen Wald erschießen wollen, befindet sich auch der Belgier Gilles darunter. Für ein Stück Brot hat er von einem Leidensgenossen eine Ausgabe von „Die Mythen der Perser“ erhalten. Der Besitz des Buchs wird nun seinen Weg bestimmen, denn Gilles behauptet, nicht Jude, sondern Perser zu sein. Weil ein Hauptsturmführer denjenigen zusätzlich Fleisch versprochen hat, die ihm einen „echten Perser“ bringen, kann er so dem Tod entgehen. Der SS-Mann Klaus Koch möchte nämlich Farsi lernen. Fortan unterrichtet Gilles im Konzentrationslager den Mann, von dem sein Schicksal abhängt, in einer Sprache, die er komplett erfunden hat. Denn Gilles kann gar kein Farsi.
Das Opfer wird zum Lehrer, der Täter zu dessen Schüler – das ist die wahnwitzige Ausgangslage im „Persischstunden“ von Vadim Perelman, der auf der Kurzgeschichte „Die Erfindung einer Sprache“ von Wolfgang Kohlhaase beruht. Den komplexen Fragen, welche die literarische Vorlage aufwirft, verdankt der Film viel.
Preis des Überlebens
Nicht zuletzt geht es um den Preis des Überlebens. Einer der KZ-Häftlinge etwa tötet einen Gefährten, um Gilles Tarnidentität zu schützen. Der falsche Perser wiederum versorgt dessen fragilen Bruder mit Nahrung. Es ist denn auch das Wechselspiel der einzelnen Interessen in einem zutiefst unmenschlichen System, das immer wieder zu unerwarteten Wendungen führt. So wirkt sich beispielsweise die Nazi-Hierarchie in einer heiklen Lage unerwartet zugunsten des Opfers aus. Ein Rottenführer (einprägsam: Jonas Nay) will Gilles auffliegen lassen und wird daraufhin vom übergeordneten Hauptsturmführer zurechtgewiesen: „Sie wollen wohl klüger sein als ich!“
Eigentlich ist „Persischstunden“ ein Beziehungsfilm. In vielen kammerspielartigen Szenen misst sich Lars Eidinger als Hauptsturmführer Koch mit Nahuel Pérez Biscayart als Gilles/Reza. Bei der Darstellung der Schoah setzt Perelmans Film auf gesicherte Formen. Den in Kochs Konzentrationslager Ermordeten erweist der ukrainisch-kanadische Regisseur aus respektvoller Distanz die Ehre. Dabei wird die Perfidität der Nazi-Herrschaft aber nie relativiert.
Leitmotiv: Erinnerung
Dennoch entfaltet sich im fortwährenden Perspektivwechsel so etwas wie ein „Alltag“ im KZ, einerseits der Häftlinge, aber auch der deutschen Betreiber. Man mag es für banal halten, wenn ausgiebig gezeigt wird, wie die Nazis verschiedener Ränge hier gegeneinander intrigieren und einander aus Rachsucht oder Neid denunzieren, aber das gehört eher zu den Qualitäten des Films. Selbst in jenen Momenten, da den Klischees reichlich Genüge getan wird. So darf Lars Eidinger als „Herrenmensch“ allzu viele finstere Blicke werfen und Gewaltexzesse geradezu zelebrieren.
Die Vernichtungsgeschichte an sich kennt kein Klischee: Natürlich wurden Judentransporte in die Vernichtungslager auch dann zusammengestellt, wenn die Deutschen zu Tisch gingen. Das Leitmotiv dieses Films aber ist die Erinnerung – an Namen und Begriffe, die Identität stiften, an die Ermordeten. Dass der Nazi Koch und sein Opfer eine gemeinsame Verständigungsbasis nur in einer Sprache finden, die de facto nicht existiert, ist die konsequente Pointe einer Erzählung, die gewiss nicht die komfortable Sicherheit einer heroischen Überlebensgeschichte bietet. (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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