Kritische Masse
Dann beten Sie wenigstens, verdammt nochmal!
Wenn Sie in den Dunstkreis von Verschwörungstheoretikern geraten, ist Ihr Ruf ruiniert. Da können Sie auch gleich zum Islam konvertieren. Andererseits: "Ist der Ruf erst ruiniert, dann denkt es sich ganz ungeniert.
Von Anja Hilscher Dienstag, 29.09.2020, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 17.11.2020, 10:29 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
Socken stopfen ist eine wahrhaft subversive Art der Entschleunigung. Man konsumiert nämlich gar nichts dafür. Deshalb kann sich diese Tätigkeit leider auch nicht mit dem hippen Etikett „Upcycling“ schmücken. Cool ist das Stopfen von Tedi-Socken nicht besonders – anders als sinnloses kreatives Herumgestalten, wofür man einen Haufen Dinge braucht, die man meist zuvor käuflich erwerben muss. Stricken etwa. Man kauft dazu extra farblich harmonisierende Wollknäuel aus dem präferierten Materialmix, einschließlich passender Stricknadeln. Dann strickt man, bis man sich langweilt. Anschließend muss lange Jahre hindurch den Anblick mehrerer halbfertiger, halbhässlicher Pullover ertragen, die irgendwo in eine Tüte geknautscht in einer Schrankecke liegen. Ich war irgendwann ziemlich erleichtert, als ich feststellen durfte, dass sich die Motten meiner erbarmt hatten und ich den Scheiß endlich guten Gewissens entsorgen durfte.
Früher hat man alles selber gemacht, was irgend ging. Heute ist es umgekehrt. Alles, was irgend geht, lässt man machen: Schlafzimmer ein- und Geburtstage ausrichten. Urlaubstage planen. Unterwäsche typgerecht zusammenstellen. Grabreden und Liebesbriefe schreiben. Mashaallah – ist es nicht toll, wie wir im Abendland unsere Individualität ausleben können? Im Gegensatz zu unterdrückten, rückständigen Drittweltländern, wo die Leute noch durch Religion und Großfamilie gegängelt werden! Die Armen dort lernen ja niemals, selbstständig zu werden!
Wir outsourcen diese Tätigkeiten deswegen, weil wir mit Wichtigerem beschäftigt sind. Nämlich damit, das Geld zu verdienen, das wir für die Inanspruchnahme dieser Dienstleistungen benötigen. Nach und nach geht es dann natürlich logischerweise mit unseren eigenen Fähigkeiten den Bach runter. Denken zum Beispiel… Wo lassen Sie denn denken, lieber MiGAZIN-Leser? Wie bitte? Sagen Sie bloß, Sie machen den Job noch selbst? „Also so eine Frechheit!“ rufen Sie jetzt wahrscheinlich empört und werfen sich in die Brust. „Ich bin Individualist!“ Ja, genau. Wir sind natürlich alle Individualisten. Jeder minderbemittelte Vereinsmeier und Hobbyrassist ist heute „Individualist“.
„Individualisten vom Schlage der Attentäter von Hanau, Halle und Christchurch – allesamt begnadete, kreative Denker! Es gibt keine weltumspannenden rechtsextremen Netzwerke, wir denken alle selbst, wir brauchen keine Studie bzgl. Rassismus in der Polizei und die Erde ist eine Scheibe. Amen.“
Individualisten vom Schlage der Attentäter von Hanau, Halle und Christchurch – allesamt begnadete, kreative Denker! Es gibt keine weltumspannenden rechtsextremen Netzwerke, wir denken alle selbst, wir brauchen keine Studie bzgl. Rassismus in der Polizei und die Erde ist eine Scheibe. Amen. Es gibt heute eigentlich kaum eine größere Beleidigung, als jemandem zu unterstellen, er denke nicht selbst und sei ein fremdbestimmtes, manipulierbares, gehirngewaschenes Rädchen im Getriebe. Weil genau das meist zutrifft.
Deshalb ist es wenig imageträchtig, sich als Angehöriger einer Religion zu outen, denn „Religioten“ (das religiöse Pendent zu den aktuellen „Covidioten“) sind bekanntlich samt und sonders blinde Sklaven Gottes. Sie sind „unfrei“! Pfui Deibel! Ebenso ehrenrührig ist es heute, in den Dunstkreis von „Verschwörungstheoretikern“ zu geraten.
Selbstverständlich gibt und gab es im Laufe der Menschheitsgeschichte niemals Lügen, Intrigen und Verschwörungen! Alleine diesen Gedanken zuzulassen öffnet dem Wahnsinn Tür und Tor. Tun Sie es nicht! Da können Sie auch gleich die Zeugen Jehova ins Haus lassen! Irgendjemand hat es tatsächlich nachhaltig geschafft, uns glauben zu machen, „Individualität“ werde uns hierzulande in die Wiege gelegt und „Freiheit“ bedeute nichts anderes als die Freiheit, massenhaft professionell manipuliert zu werden. Ein wahrhaft diabolischer Coup!
Ich glaube, es war Edward Bernays, Freuds Neffe, der Vater der Propaganda. Schauen Sie unbedingt diese Doku: Schon vor knapp hundert Jahren verkündete der Mann freimütig: „Die Gesellschaft wird regiert von einigen Menschen, deren Namen Sie nie gehört haben!“ Und das war, bevor die US-amerikanische Regierung begann, sich seine Erkenntnisse in großem Stil zunutze zu machen! Wenn Sie diesen Satz heute, wo er zweifellos noch hundertmal mehr zutrifft als 1929, in mittlerer Lautstärke sagen, stehen Sie schneller in der Verschwörungstheorie-Ecke, als Sie „Pizzagate“ sagen können.
Seit Corona, habe ich den Eindruck, drehen alle komplett frei. Man meint, sich im ausgehenden Mittelalter zu befinden. Die Berliner Demos waren ein Sammelbecken seltsamer Sinnsucher: Esoteriker, radikale Rechte, Impfgegner und allerlei Hybride. Radikale Selbstdenker waren sicher ebenso darunter wie Rattenfänger, klassische Spinner und Mitläufer auf der Suche nach einem Guru. Wenn es eine einzige Sache gibt, die heute sehr viele Leute eint, ist es die Desorientiertheit.
„Muslimen und anderen klassischen Hassfiguren verschafft Corona seltsamerweise aber gerade eine kleine Verschnaufpause. Momentan sind wir gerade mal nicht die Bösen. Selbst die AfD hat es, trotz intensiven Nachdenkens, irgendwie nicht geschafft, einen kausalen Zusammenhang zwischen Corona und islamischer Weltverschwörung herzustellen.“
Feindbilder sind deswegen aktuell wieder sehr nachgefragt. Muslimen und anderen klassischen Hassfiguren verschafft Corona seltsamerweise aber gerade eine kleine Verschnaufpause. Momentan sind wir gerade mal nicht die Bösen. Selbst die AfD hat es, trotz intensiven Nachdenkens, irgendwie nicht geschafft, einen kausalen Zusammenhang zwischen Corona und islamischer Weltverschwörung herzustellen. Im Mittelalter gab es Katholiken vs. böse Heiden (sprich: Rest der Welt). Später gab es dann zwar Abspaltungen, die – zur höheren Ehre Gottes – sich erstmal gegenseitig die Köpfe einschlugen. Aber immerhin waren das noch größere Gruppen. Heute gibt es kein Zusammengehörigkeitsgefühl mehr. Wissen Sie auch, warum? Weil wir alle Individualisten sind. Ziemlich viele verwechseln das nämlich mit „konsumorientierte Egoisten“. Deshalb klappt‘s auch mit der Demokratie irgendwie nicht mehr so richtig.
Die große Frage, die ich mir immer noch stelle ist: Ist das eigentlich Zufall? Ist es Zufall, dass wir denken, Selbstverwirklichung bedeute so etwas wie Nabelschau, Individualismus bedeute Intoleranz und Egoismus, Demokratie sei gleichbedeutend mit skrupellosem Kapitalismus? Ist es Zufall, dass heute, dank neuer Medien, jeder in seiner individuellen Meinungsblase abhängt, seine eigenen News- oder Fakenews-Quellen hat? Ist es Zufall, dass jeder gegen jeden kämpft? „Coronaleugner“ gegen die Panik-Fraktion, Arm gegen Reich, Frauen gegen Männer, Ossis gegen Wessis, der Westen gegen die islamische Invasion, Schwarz gegen Weiß, alte CSU-Männer gegen kleine grüne Mädchen? Falls ja, ist das jedenfalls eine ziemlich günstige Entwicklung für die herrschende Elite. Grübel, grübel…
Gab es da nicht dieses Prinzip: „Teile und herrsche!“? Ups! – Sagte ich gerade „herrschende Elite“? Achtung, Triggerwarnung! Verschwörungstheorie – Alarmstufe Rot! Ich nehme alles wieder zurück! Einer Umfrage zufolge glaubt ca. ein Drittel der Bevölkerung, dass es so etwas wie herrschende, im Verborgen agierende Mächte gebe. Die hiesige Tageszeitung titelte dazu spöttisch: „Wird die Welt von Außerirdischen regiert?“ Wäre es nicht so unheimlich dreist, müsste man ja lachen! Wenn man – was Edward Bernays vor 91 Jahren offenherzig zugab – den Verdacht äußert, die Bevölkerung könnte möglicherweise von Eliten beherrscht und manipuliert werden, findet man sich, eh man sich‘s versieht, auf einer gesellschaftlichen Stufe mit einsamen, gelangweilten, geistig leicht unterbelichteten US-amerikanischen Hausfrauen wieder, die angeben, von Aliens entführt und irgendwie an der Gebärmutter manipuliert worden zu sein. Möchte man das? Nein. Also sagt man lieber nicht so viel.
Wie auch immer. Ich bin nicht ganz sicher, ob es tatsächlich „Strippenzieher“ gibt, die einen ausgeklügelten Plan ersonnen haben, wie man die Menschheit verarschen, spalten und beherrschen kann. Ich weiß auch nicht, wer das ist und wie die genau operieren. (Wer das besser weiß ist mein FB-Kumpel Albi. Albrecht Metzger. Ein Verschwörungstheoretiker allererster Güte! Ich lege Ihnen seine Bücher und seinen noch im Entstehen befindlichen Blog ans Herz! Lassen Sie sich nicht von seinen Albernheiten irritieren – der Mann ist hochqualifiziert. Auch Mr. Bean hat in Oxford studiert!)
Ich stelle nur fest, dass die aktuelle Entwicklung überaus günstig für sie ist. Die Gefahr, dass irgendwelche ausgebeuteten Menschen sich zu Abertausenden zusammenrotten und ihren Anteil am Kuchen – oder (o Graus!) gar Gerechtigkeit einfordern, besteht heute nicht mehr. Praktischerweise ist auch der Glaube an ein Jenseits weitgehend verschwunden, schließlich will man ja kein Religiot sein. Der einzige Daseinszweck des heutigen Menschen ist, sich bis zum letzten Atemzug „selbstzuverwirklichen“, sprich: Die individuell zugeschnittene Art des Geldverdienens und -wiederausgebens herauszufinden. Gottseidank können wir das, dank der hier herrschenden „Freiheit“ (Definition siehe oben).
Ebenfalls sehr praktisch ist, dass das Internet und die neuen Medien gleich zwei nützliche Eigenschaften aufweisen: Erstens nehmen sie so viel Zeit in Anspruch, dass wir gar keine Zeit mehr für tiefergehende Gedanken haben. Eigentlich haben wir für gar nichts mehr Zeit. Nicht mal mehr für Sex, geschweige denn, Beziehungen. Ohne Scheiß. Dass die Asiaten seltsame Sozialphobiker sind, sich scharenweise totarbeiten oder totzocken und langsam am Aussterben sind, ist ja bekannt. Die haben tatsächlich gar keinen Sex, und wenn doch… glauben Sie mir, sie möchten es nicht wissen (Falls Sie schmerzfrei und voyeuristisch veranlagt sind, ziehen Sie sich ein paar Dokus rein). Aber die US-Amerikaner holen auf!
„Eigentlich könnte das Internet ein geniales, demokratisches Medium sein: Wissen verbreiten, Menschen sich vernetzen, helfen und solidarisieren lassen. Könnte alles so einfach sein. Isses aber nicht. „
Der zweite Vorteil, den das Internet und die neuen Medien aufweisen, ist die Tatsache, dass sie uns in rasender Geschwindigkeit noch mehr voneinander entfremden als vorher. Das wiederum minimiert die Gefahr, dass wir uns solidarisieren, um gemeinsam aufzustehen und zu sagen (ich denke, auf diesen Slogan könnte man sich einigen) „DIESE Welt wollen wir nicht! Einmal Reset bitte!“ Solange wir netflixuntermalt vor uns hindämmern, geht‘s uns natürlich tutti. Aber wenn so etwas wie Corona kommt, was uns aus dem Konsumrausch reißt, bricht Panik aus. Eigentlich könnte das Internet ein geniales, demokratisches Medium sein: Wissen verbreiten, Menschen sich vernetzen, helfen und solidarisieren lassen. Könnte alles so einfach sein. Isses aber nicht.
Während ich (die muslimische Verkörperung des Lichtprinzips) mir den sonnigen Sonntag um die Ohren schlage und hier stundenlang an meiner popligen Kolumne tippe, verbreiten böse Mächte, bzw. deren Propagandaexperten aus Ost und West Millionen kurzer, knackiger, vor allem aber Angst und Wut hervorrufender Fake News und Halbwahrheiten (was eigentlich dasselbe ist). Das ist keine Verschwörungstheorie, das ist die Wahrheit! Der Blogger Schlecky Silberstein ist deshalb sehr pessimistisch und schrieb ein Buch mit dem Titel „Das Internet muss weg!“. Es wird aber bleiben. Das Chaos wird zunehmen. Deshalb sollten wir beten! Ich meine das ernst. Wenn Sie schon nicht bei „Fridays for Future“ waren, ein Internetjunkie sind und auch sonst nichts Gutes tun, dann beten Sie wenigstens, verdammt nochmal. Einfach so, drauflos. Es tut gut. Es entschleunigt. Es ist das Gegenteil von Konsum. Und die Wahrheit ist: Es ist auch das Gegenteil von Fremdbestimmtheit. Obwohl es verbindet, ist Beten die pure Anarchie. Niemand kontrolliert ja, was Sie da so sagen. Es ist subversiv. Beten ist das neue Sockenstopfen! Beten Sie also – zu einem Gott Ihrer Wahl. Meditieren geht aber genauso. Ich bin sicher, dass Gott gar nicht so scharf darauf ist, immer nur zugetextet zu werden. Vielleicht möchte er (sie/es) ja auch mal zu Wort kommen. Während Sie meditieren oder beten, können Sie nicht konsumieren – und nicht manipuliert werden. Bis zum nächsten Mal! Stay tuned! Meinung
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