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Wissen ist Macht. Rassismus auch.

Interkulturell, kompetent – und rassistisch?

Kurz nach dem „Chat-Skandal“ der Polizei NRW steht jetzt eine Broschüre der Essener Polizei über „Clan-Kriminalität“ in der Kritik - zurecht. Rassismus nimmt allerdings auch subtilere Formen innerhalb von Wissenschaft und Institutionen an.

Von Mittwoch, 30.09.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 30.09.2020, 9:21 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Als ich einmal einen Ethnologie-Studenten kennenlernte, drückte ich ihm gegenüber meine Skepsis über dieses Fach aus und fragte, ob man denn auch eine ethnologische Studie etwa in Deutschland durchführen könnte. Er antwortete begeistert: „Ja, zum Beispiel in Stadtteilen mit hohem Ausländeranteil!“ Dieses Beispiel zeigt, dass Fächer wie Ethnologie oder Orientalistik noch heute mit ihrer kolonialen Tradition behaftet sind. Wer aber denkt, dass es sich nur um Altlasten handelt, irrt: Die Modernisierung der Gesellschaftswissenschaften befreit sie nicht automatisch von ihrer Rolle als Machtinstrument. Sie spielen diese häufig nur in subtilerer Form.

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Rassismus in Handbuchform

Beginnen wir aber mit einem aktuellen Beispiel, das alles andere als subtil ist: Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass die Polizei in Essen und Mülheim mit einer Broschüre über „arabische Familienclans“ arbeitet. Diese wurde mittlerweile von der Behörde online gestellt, mit dem vielsagenden Kommentar, dass solche Texte völlig normal für den polizeilichen Dienst seien. Das Heft liest sich streckenweise wie ein Handbuch aus der Kolonialzeit: In wenigen Zeilen werden die ethnografischen und historischen Hintergründe „dieser arabischen Großfamilien“ abgehandelt, vom „Ursprung“ im Nahen Osten bis hin zur Lage in Deutschland, wo, wie es heißt, anfangs zwar „fehlende Teilhabe“ und „Arbeitsverbot für Asylbewerber“ als „mitursächlich“ gesehen werden könnten, davon heute aber nicht mehr die Rede sein könne. (S. 5) Die „Lebenswelt arabischer Familienclans“ ist laut Broschüre durch und durch vom „islamischen Kulturkreis“ geprägt, welcher der „westlichen Demokratie“ entgegengesetzt wird. (S. 8) Soziale Umstände und gesellschaftliche Einflüsse werden in keiner Weise reflektiert. Stattdessen liest man Aussagen wie diese: „Je mehr Kinder eine Frau für den Clan gebärt, desto besser.“ (S. 6)

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Richtig los geht es allerdings erst, wenn den Beamten Strategien zur Hand gegeben werden. Diese stammten nämlich aus uralten Quellen: „Herausfinden, was die Ehre des Anderen verletzt, ist eine vom Stammeswesen übernommene Kriegsstrategie“. (S. 12) Entsprechend wird gezielte „Ehrverletzung“ empfohlen, insbesondere durch Frauen. Auch der Einsatz von Hunden wird „in sämtlichen Maßnahmen“ angeraten, da diese im Islam als unrein gelten und obendrein viele der von den Kontrollen Betroffenen „ängstlich (…) reagieren und schneller bereit sind, sich kooperativ zu verhalten, wenn (im Gegenzug die Hunde) von ihnen ferngehalten werden.“ (S. 14) Daneben sollen unter 14-jährige „(potenzielle) Täter“ „wenn möglich“ aus der Familie gerissen und in Einrichtungen untergebracht werden. (S. 17) Wenn es am Ende der Broschüre schließlich heißt, dass der Staat von den Betreffenden „viele Jahre nicht als konsequent kennengelernt“ worden sei, so ist dies keinesfalls eine Kritik an mangelnder Einlösung demokratischer und sozialer Versprechen im freiheitlich-demokratischen Deutschland. Diese Feststellung bezieht sich einzig und allein auf die gebotene Repression und den notwendigen „Umerziehungsprozess“. (S. 18)

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Koloniale Wissenschaft – mehr als nur Vorurteile

Zu Recht hat diese Broschüre Empörung hervorgerufen. Wie der rechte Terroranschlag von Hanau vor dem Hintergrund der Medienberichterstattung und Polizeikampagnen gegen Shisha-Bars gesehen werden muss, so liegt auch ein Zusammenhang zwischen dem „Chat-Skandal“ der nordrhein-westfälischen Polizei und ihrem Umgang mit arabischen und kurdischen Familien nah.

Gerade Medien und Politik stehen hier wieder einmal mit in Verantwortung, lag ihnen die Broschüre doch schon seit ihrem Erscheinen vor einem Jahr vor. Verantwortlich sind jedoch in erster Linie der Essener Polizeipräsident Frank Richter, der bei Rassismus-Vorwürfen gegen seine Beamten auch schon mal mit Anzeigen um sich wirft, und die Autorin Dorothee Dienstbühl. Sie ist Sozial- und Politikwissenschaftlerin und lehrt an der Polizei-Hochschule NRW Soziologie und ist offenbar ein Multitalent: Ihre Publikationen reichen thematisch von sexueller Gewalt über „Links-“ und „Öko-Extremismus“ bis hin zu „Islamismus“ und „Clan-Kriminalität“ – wobei ihre Schwerpunkte ganz klar bei Letzterem liegen. Warum ausgerechnet eine Person mit dieser „Expertise“ die neue „Extremismusbeauftragte“ der Hochschule der Polizei in NRW wurde, bleibt das Geheimnis des Innenministers, der diesen Posten als Reaktion auf jüngste Polizei-Skandale geschaffen hatte, um den Kampf gegen „rechtsextremistische Umtriebe“ zu stärken.

Während auch andere ihrer Publikationen in Machart und Inhalt eher rechten Boulevardblättern ähneln, als auch nur populärwissenschaftlichen Artikeln, erscheint die oben zitierte Broschüre vor allem als eine Mischung aus einem Völkerkunde-Lexikon und einer Anleitung zu „einem persönlichen Rachefeldzug“. Will man Frau Dienstbühl jedoch nicht reine Unfähigkeit bescheinigen, sollte man über die verächtliche Sprache und die stereotype Darstellung hinaus auch das Problem aufwerfen, wozu hier Wissenschaft – oder was sich dafür hält – eigentlich dient. Denn so platt, eindimensional und halbwahr Frau Dienstbühl hier schreibt, ihre Empfehlungen, wie die Verdächtigen in ihrer Würde zu treffen und einzuschüchtern seien, sind schließlich nicht frei erfunden. Sie fußen auf Wissen, auf wissenschaftlichen Diskursen und – wenn man so will – auf Feldforschung.

Damit knüpft ihre Arbeit zunächst einmal an die oben angeführte Wissenschaftstraditionen an: Vor allem Fächer wie Ethnologie, Anthropologie oder Orientalistik waren von Beginn an eng mit dem Kolonialismus verwoben. Dabei vermischten sich schon damals rassistische Stereotype und Vorurteile mit ernsthaftem Bemühen um Verständnis für die untersuchten Kulturen. Der Hintergrund war klar, es ging um Verstehen zwecks Herrschaft. Und diese funktionierte mit Zuckerbrot und Peitsche. Wenn nötig und möglich, wurden Kultur und Religion der Unterworfenen durchaus geachtet, solange die politische Unterdrückung und die wirtschaftliche Ausbeutung dadurch gewährleistet war. Franzosen, Briten, Deutsche und US-Amerikaner ließen sich während der Weltkriege gleichsam beraten, wenn es darum ging, Propaganda für die gegnerischen Kolonialgebiete auszuarbeiten oder ihre eigenen Kolonialtruppen ruhig zu halten. Im Kalten Krieg führten die Westmächte in den Unis der BRD zudem die Politikwissenschaften ein, die die Welt seither durch die „westlich-demokratische“ Brille untersuchen.

Know your Enemy

Heute spielen Gesellschaftswissenschaften keine wesentlich andere Rolle für Innen- und Außenpolitik: Im Zuge des „War on Terror“ verbreiteten die USA im Westen das Feindbild Islam, um zugleich die ethnologische Forschung zu den Regionen, in denen sie Krieg führten, massiv zu fördern. Offiziell heißt es dazu immer wieder, es gehe darum, die Soldaten zu „sensibilisieren“. Dieses Wissen kann aber in zwei Richtungen angewandt werden: Soldaten und Politiker können kulturelle und religiöse Gefühle bewusst achten, um im Stil der soft power an ihre Ziele zu kommen. Sie können diese sensiblen Druckstellen aber auch bewusst „reizen“, wie es bei Dienstbühl heißt: So wurden die in der Essener Polizeibroschüre empfohlenen Einsätze von Hunden und die gezielte „Ehrverletzung“ auch von der US-Army bei Razzien im Irak und Verhören in Guantanamo und Abu Ghraib systematisch angewandt. Bei solchen Vernehmungen von „Terror-Verdächtigen“ waren übrigens auch deutsche Geheimdienstvertreter vor Ort. Und hier schließt sich der Kreis, denn es sind gerade diese Behörden – Polizei, Verfassungsschutz (VS) und BND -, die seit Jahren massiv Sozial- und vor allem Islamwissenschaftler anwerben.

Während in den USA spätestens seit dem Vietnamkrieg immer wieder Ethik-Debatten um die Zusammenarbeit von Forschern mit Militär und Geheimdiensten geführt werden, ist man jedoch in Deutschland noch lange nicht so weit. Können manche einen akademischen Boykott der Bundeswehr noch nachvollziehen, endet das Verständnis spätestens bei den Sicherheitsbehörden. Vor dem Hintergrund der Verstrickungen des VS in rechtsterroristische Netzwerke oder dem systematischen racial profiling durch die Polizei kann jedoch von jedem Wissenschaftler erwartet werden, dass er sich bewusst damit auseinandersetzt, wem er zuarbeitet. Das Gegenargument lautet oft, man könne ja von innen heraus etwas bewirken und Vorurteile in diesen Behörden bekämpfen. Das klingt nur in den Ohren von jemandem realistisch, der sich nicht mit Hierarchien im Job, in Ämtern und der Politik auskennt.

Zudem kann Rassismus nicht auf Vorurteile und Unwissen reduziert werden. Es ist eine Frage von Machtverhältnissen und von Interessen. Wofür zum Beispiel werden Kriege geführt? Wen schützen Geheimdienste und wen nicht? Und wem nützen großangelegte Polizeikampagnen gegen Minderheiten in Deutschland? Im Zweifel hilft man nur, eine rassistische Praxis zu kaschieren oder zu verfeinern. Auch dann, wenn man eine Broschüre schreibt, die weniger offen an die Kolonialzeit erinnert, als die von Frau Dienstbühl. Leitartikel Panorama

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