Defragmentiert
Auf den Schultern unserer Eltern
Viele von uns sind Kinder und Enkel der ersten Generation Arbeitsmigrant:innen. Das prägt. Während weißdeutsche Eltern ihren Kindern Märchen erzählten, hörten wir die Geschichten von Mölln und Solingen.
Von A. Kadir Özdemir Dienstag, 06.10.2020, 21:16 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 06.10.2020, 21:12 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Das Thema „Verhältnis zwischen den Generationen“ verfolgt mich. Kürzlich habe ich mir im Kino „Futur Drei“ angesehen, den Debütfilm von Faraz Shariat. Ich hatte nichts von der Handlung gewusst und ging ins Kino, weil einige meiner Freunde Statistenrollen in dem Film hatten. Die Geschichte hat mich nicht sofort bekommen, doch dann war ich umso mehr eingenommen von der Beziehung der Hauptfigur zu seinen Eltern: von den sehr unterschiedlichen Gefühlslagen, Erwartungen und Anspruchshaltungen, die beide Seiten mit Deutschland verbinden. Wenig später erreichte mich ein Angebot von Simone Dede Ayivi, in ihrem Stück The Kids Are Alright in Berlin mitzuwirken. Das Stück ordnet sich um den Satz: „Unsere Kinder sollen es einmal besser haben“.
Viele von uns sind Kinder und Enkel der ersten Generation Arbeitsmigrant:innen. Menschen, die aus ökonomischen Notlagen oder aus politischer Verfolgung in dieses Land kamen, die ihren Sprachen, Kulturen, Religionen, vertrauten Menschen und Orten entrissen wurden. Diese Generation hatte nicht nur Sorge um die eigene Versorgung, sondern auch um die der Zurückgelassenen. Die Absicherung des Unterhalts für die Familie wurde eingetauscht gegen Einsamkeit und Diskriminierung. Die weißdeutsche Gesellschaft nahm sie auf wie eine Mutter ohne Herz, wollte nichts wissen von ihrem Intellekt, Humor, ihren Verantwortungen, ihrem Bedürfnis, mit ihren Vertrauten zu leben.
Insbesondere Menschen, die unter Kolonialismus gelitten hatten, mussten nach der Einwanderung in die durch Ausbeutung reich gewordenen Länder eine erneute Ausgrenzung erleben. Kolonialismus war häufig ein Fremdwort in weißdeutschen Kontexten. Sie verstanden nicht, dass der Kolonialismus für die Kolonialherren vorbei ist, nicht für die Kolonisierten.
„Kolonialismus war häufig ein Fremdwort in weißdeutschen Kontexten. Sie verstanden nicht, dass der Kolonialismus für die Kolonialherren vorbei ist, nicht für die Kolonisierten.“
Manche Arbeitsmigrant:innen hielten die Zustände nicht aus und gingen. Andere blieben, indem sie bewusst diesen Handel von Arbeitskraft gegen Lohn (verbunden mit Demütigung) akzeptierten. Oft war es so, dass keine bewusste Entscheidung getroffen wurde, sondern ihre Situation sich stets verlängert hatte. Irgendwann holten sie ihre Familien nach, versorgten weiterhin zusätzlich Verwandte und Freunde. Manche kämpften schon früh für ein Leben in Würde und Gleichberechtigung, andere wurden vom rassistischen System zerrieben, erkannten nie die Kraft ihrer Stimme. Die Gesellschaft in der BRD wollte diese Menschen als entkoppelte Subjekte voller Arbeitskraft, ohne Geschlecht, sexuelle Orientierungen, ohne eigene Ziele, Wünsche und Begehren.
„Trotz aller Widrigkeiten leistete diese erste Generation Pionierarbeit. Sie baute kulturelle, sprachliche, religiöse, politische Communities auf, schuf Räume emotionaler Geborgenheit. Jene Communities, die wiederum lange Zeit in den sogenannten Integrationsdebatten angegriffen wurden…“
Trotz aller Widrigkeiten leistete diese erste Generation Pionierarbeit. Sie baute kulturelle, sprachliche, religiöse, politische Communities auf, schuf Räume emotionaler Geborgenheit. Jene Communities, die wiederum lange Zeit in den sogenannten Integrationsdebatten angegriffen wurden, waren der Ausweg aus dem Leben in der Durchgangshalle Deutschland. Denn Deutschland beharrte darauf, das Wissen der Menschen mit Migrationserbe, ihre Sprachen und Religionen, lediglich als Exotikum und Folklore und zunehmend als Störfaktor zu betrachten. Diese Generation blieb häufig unsicher und zerrissen, sie spürte ihr Leiden an der weißdeutschen Gesellschaft, häufig ohne diese konkret benennen zu können. Nicht selten wuchs hier ein Trauma.
Mit den Familienzusammenführungen begann ein neues Kapitel, ein neues Bekenntnis zu Deutschland, mittel- bis langfristige Pläne, Zukunftswünsche für die Kinder in Deutschland. Es änderte sich viel und doch blieb vieles gleich. Unsere Unterschiede wurden schlecht geredet. Wir sollten unseren Platz kennen, die weiße Klassenzufriedenheit nicht auf den Kopf stellen. Und dann wurden unsere Häuser angegriffen. Während weißdeutsche Eltern ihren Kindern die Fabel einer sich immer fortschrittlicheren und liberalisierenden Gesellschaft erzählten, gaben die Communities von Schwarzen Deutschen, Türkisch-Deutschen, Kurdisch-Deutschen, Vietnamesisch-Deutschen ihren Kindern andere Geschichten mit: Geschichten von Mölln, Solingen und Rostock-Lichterhagen; Geschichten von Lehrer:innen, die ihre Hautfarbe, Religion, Herkunftsregion, ihre Sprachen angreifen; Polizist:innen, die sie jeder Zeit aus der Menge ziehen können, ganz verdachtsunabhängig, Geschichten, wie sie überleben und nicht nur am Leben bleiben, sondern ihre Würde schützen und Sicherheit und Selbstwertgefühl in einer unsicheren Umgebung aufbauen können.
Im Schulbuchwissen, aber auch in Historien der Gewerkschaften oder politischen Entwicklungen werden die Kämpfe der Arbeitsmigrant:innen permanent unterschätzt und häufig unsichtbar gemacht. Auch wenn sich unsere Lebensentwürfe, unsere Vorstellungen von einem guten Leben, unser Verhältnis zur Arbeit, unsere politischen Einstellungen, unser Verständnis von Liebe und Partnerschaft sich unterscheiden, stehen wir auf den Schultern unserer Eltern und Großeltern.
Meinung
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