Westbalkan-Studie
Mehr als die Hälfte Fachkraft – von wegen Sozialtourismus
Einwanderung aus dem Westbalkan wurde lange Zeit in einem Atemzug genannt mit dem politischen Schlagwort „Sozialtourismus“. Eine IAB-Studie zeigt jetzt, dass die mehr als die Hälfte aller Arbeitsverhältnisse auf Fachkraftniveau sind.
Freitag, 16.10.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 15.10.2020, 19:08 Uhr Lesedauer: 2 Minuten |
54 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse, die über die Westbalkanregelung in Deutschland zustande kommen, sind auf Fachkraftniveau. Auf den noch höheren Qualifikationsniveaus „Spezialist“ und „Experte“ sind zusammengerechnet vier Prozent, 42 Prozent sind auf dem Helferniveau. Das geht aus einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervor.
Die Studie straft das politische Schlagwort „Sozialtourismus“ Lügen. Zum Jahresende 2013 begann die bayerische CSU eine Debatte, die sich um Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien drehte. In der Folge entstand eine breite öffentliche Diskussion zu diesem Thema. Das Wort beschreibt abwertend die Einwanderung vornehmlich aus dem Westbalkan, die angeblich nur dazu dient, im Zielland Sozialleistungen zu erhalten. Es wurde zum Unwort des Jahres 2013 gewählt.
Mehr wäre möglich gewesen
Seit 2016 können Arbeitnehmer aus den Nicht-EU-Ländern Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien im Rahmen der Westbalkanregelung eine Beschäftigung in Deutschland aufnehmen. Voraussetzung ist die verbindliche Arbeitsplatzzusage eines Betriebs in Deutschland. Ein Qualifikationsnachweis ist nicht notwendig.
Die derzeit noch bis Ende 2020 befristete Regelung traf Angaben des Forschungsinstituts zufolge auf hohe Nachfrage bei Beschäftigungssuchenden in den Westbalkanstaaten – und zumindest bis zum Ausbruch der Covid-19 Pandemie auch bei Betrieben in Deutschland. Die große Zahl der Anträge habe allerdings zu erheblichen Kapazitätsengpässen bei den deutschen Auslandsvertretungen und damit zu langen Wartezeiten bei der Visavergabe geführt, sodass weniger Beschäftigungsverhältnisse zustande gekommen seien, als möglich gewesen wäre.
Jeder Vierte jünger als 40 Jahre
In den Jahren 2016 und 2017, dem Beobachtungszeitraum der Studie, waren der Erhebung zufolge 73 Prozent der Eingewanderten jünger als 40 Jahre und 86 Prozent männlich. Dahinter stehe die hohe Arbeitsnachfrage im männlich dominierten Baugewerbe. Dort fanden 44 Prozent der über die Westbalkanregelung nach Deutschland Eingereisten eine Stelle. Im Gastgewerbe waren es 13 Prozent, im Gesundheits- und Sozialwesen elf Prozent und im Bereich der Erbringung sonstiger wirtschaftlicher Dienstleistungen – darunter fällt beispielsweise das Reinigungsgewerbe – zehn Prozent.
Den Institutsangaben zufolge kamen die Arbeitsverhältnisse vorrangig über private und professionelle Netzwerke zustande. Diese Netzwerke erfüllten auch Funktionen, die für das Fortbestehen von Arbeitsverhältnissen zentral sind: Sie begünstigten eine gute Passung zwischen Bewerberprofil und Anforderungsniveau der Tätigkeit und schafften Vorhersehbarkeit für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, so die IAB-Studie.
Arbeitsmarktintegration erfolgreich
„Die Arbeitsmarktintegration von Personen, die über diese Regelung in Deutschland beschäftigt sind, ist – gemessen an der Beschäftigungsstabilität und den Verdiensten im Vergleich zu anderen Migrantengruppen und deutschen Berufsanfängern – erfolgreich verlaufen“, betonen die IAB-Forscher.
Arbeitslosigkeit und Leistungsbezug von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosengeld II lagen bei jeweils 0,1 Prozent. Zwar sei die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich daran gebunden, dass der Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit gesichert werden kann, erklären die Forscher. Dies schließe aber nicht aus, dass zum Beispiel bei Entlassungen oder Betriebsschließungen Arbeitslosengeld oder Arbeitslosengeld II zumindest temporär in Anspruch genommen werden. (mig) Leitartikel Wirtschaft
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Sehr geehrte*r Verfasser*in,
leider enthält Ihr Text eine Vermengung, die durch die zugrundeliegende Studie nicht gedeckt ist. Diese zeigt beeindruckend, dass die Kennzeichung der Zuwanderung aus dem Westbalkan als ‚Sozialtourismus‘ jenseits der Problematik des Begriffes überhaupt (er unterstellt ja, das Zuwanderer gezielt nach Deutschland kommen, um dort im Rahmen eines touristischen Aufenthalts Sozialleistungen abzugreifen) völlig daneben ist. Dies ist aufgrund der in der Studie beschriebenen Art und Weise der Rekrutierung und Beschäftigung der Zuwanderer aus diesen Ländern auch höchst unwahrscheinlich; sie werden ja gezielt für vorhandene Arbeitsmöglichkeiten angeworben, sind also von vornherein ‚Arbeitsmigranten‘ (ähnlich wie die ‚Gastarbeiter‘ seit den 1950er Jahren) und das ganz unabhängig von Ihrer Qualifikation. Insofern hat ihre Qualifikation tatsächlich wenig mit ihrer Integration in den Arbeitsmarkt zu tun (genauso wie das seinerzeit für die ‚Gastarbeiter‘ der Fall war9.
Ganz anders ist die Situation bei den Zuwanderern aus der EU, die zwar ebenfalls im Rahmen der Freizügigkeit nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsaufnahme haben, das aber keineswegs mit der tatsächlichen Verfügbarkeit eines Arbeitsplatzes verbunden ist und aus verschiedenen Gründen auch ohne die Arbeitsaufnahme in einem überschaubaren Zeitraum faktisch weiter gewährt wird. Auf dieser Basis weisen Teile dieser Gruppen (z. B. die bulgarischen und rumänischen Zuwanderer) seit 2006 bis heute sehr hohe SGB-II-Quoten auf und gibt es regelmäßige Belege für die systematische Erschleichung von Sozialleistungen (etwas durch gefälsche Beschäftigungsbescheinigungen). Auch hier ist die Rede von ‚Sozialtourismus‘ völlig unangebracht, weil diese Menschen ihr Heimatland meist aus sehr gut nachvollziehbaren Gründen und mit der Absicht, hier zu arbeiten, verlassen (und nicht primär um Sozialleistungen zu beziehen), hier aber dann in prekären Verhältnissen leben (die dann den Bezug von Sozialleistungen notwendig machen) – und es offensichtlich Teile dieser Gruppen gibt, die sich diese Situation für die Erschleichung von Sozialleistungen zunutze zu machen. Man sollte nun die massiven Probleme, die daraus für viele deutschen Kommunen entstanden sind und weiter entstehen , nicht dadurch unter den Teppich kehren, dass man Zuwanderergruppen mit ganz unterschiedlichen rechtlichen und faktischen Zugangsbedingungen in einen Topf wirft – und sollte, grundsätzlicher, seriöse wissenschaftliche Untersuchungen nicht für die eigenen politisch-moralischen Wertungen missbrauchen.
Mit freundlichen Grüßen
Stefan Böckler
Meines Wissens wurde die Westbalkanregelung am vor ein paar Tagen bis Ende 2023 verlängert…