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Kadir Özdemir, Migazin, Integration, Migration, Migranten, Soziologie
A. Kadir Özdemir © privat, Zeichnung: MiG

Defragmentiert

Eine Anklage an das „Migrantenkino“

Der letzte Film, den ich im Kino gesehen habe, war "Auf der Couch in Tunis" der französischen Regisseurin Manele Labidi. Mit einem Wort beschrieben war der Film ekelhaft.

Von Donnerstag, 05.11.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 07.11.2020, 15:16 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

In ihrem Debütfilm erzählt Labidi die Geschichte von Selma, einer in Paris lebenden Psychoanalytikerin, die in Tunis eine Praxis eröffnet. Schon bei ihrer Ankunft werden alle nordafrikanischen Figuren als Karikaturen vorgestellt, die entweder übergriffig, neurotisch oder bigott sind. Selma dagegen steht stets allein im Vordergrund und beherrscht mit einer Übercoolness den für weiße Augen stark exotisierten Hintergrund. Sie ist Ratio, Kultur, während die anderen Figuren Natur, Affekt oder einfach unmündige, närrische Kinder sind. Der koloniale Blick spannt sich durch den ganzen Film.

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Interessant ist, wie dieser Film in der deutschen Filmlandschaft besprochen wurde. Grundsätzlich ist Kritiker:innen nicht zu trauen, wenn sie Filme im inter- und transkulturellen Kontext als „bunt“ oder „schrill“ beschreiben – dieser Film kam selten ohne diese beiden Adjektive aus – ohne dabei die geringste Awareness gegenüber kolonialen Stereotypen und Rassismen zu haben. So stellt Thomas Volkmann auf Programmkino.de fest, dass die iranische Schauspielerin Golshifteh Farahani die Idealbesetzung für die Hauptrolle Selma sei, da sie als Iranerin „selbst ja aus einem ähnlichen Kulturkreis stammt“. Tunesien und Iran sind so ähnlich wie Portugal und Polen. Für Personen, die Blau und Grün nicht auseinanderhalten können, ist beides die gleiche Farbe. An anderer Stelle attestiert Volkmann den Tunesier:innen eine „für dieses Volk so typische Plapperfreudigkeit“.

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Diese Generalisierung und Homogenisierung des vermeintlich Anderen betrifft besonders oft sowohl das Afrikabild als auch die Sicht auf die Arabische Welt von weißen Kritiker:innen.

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Und hier vermischen sich Annahmen über Nordafrika mit Annahmen über Araber:innen und Muslim:innen. Nicht anders lässt sich erklären, dass Andreas Busche seine Kritik auf Tagesspiegel.de titelt, dass Auf der Couch in Tunis die Psychoanalyse in die arabische Welt bringt, ohne sich zu fragen, was davon Tunis, Tunesien oder die Arabische Welt ist. Und keine dieser Kritiker:innen setzt sich halbwegs damit auseinander, ob die Grundprämisse stimmt? Als wäre im 21. Jahrhundert die Psychoanalyse etwas, das aus Frankreich importiert werden muss.

„Dieser Film allein wäre belanglos, wenn nicht in so vielen Filmen, in denen es um People of Color geht, immer wieder koloniale Muster bedient würden und wenn diese nicht hauptsächlich für ein weißes Publikum inszeniert würden.“

Ärgerlich ist zudem, dass eine der Figuren, die in Kritiken mal als „schwuler Bäcker“ mal als „geschlechtsverwirrter Bäcker“ beschrieben wird, als hysterischer Sidekick dient. Spätestens, nachdem die Figur von einem Polizisten halbnackt in Slapstick-Manier durch einen Frauen-Hamam gejagt wird, kann niemand behaupten, Labidi würde einem wichtigen Thema wie Homo- und Transsexualität gerecht. Im Gegenteil: Labidi fällt damit zurück in Zeiten, in denen Homo- und Trans:sexualität zur Belustigung eingesetzt wurde.

Dieser Film allein wäre belanglos, wenn nicht in so vielen Filmen, in denen es um People of Color geht, immer wieder koloniale Muster bedient würden und wenn diese nicht hauptsächlich für ein weißes Publikum inszeniert würden. Inzwischen müsste es doch durch Kunstschaffende mit Migrationserbe, die auch in Film und Fernsehen immer präsenter werden, zu neuen Perspektiven kommen. Warum ist es aber nicht so? Prominente Namen wie Fatih Akın, Bora Dağtekin, Buket Alakuş, Nuran David Calis, Sibel Kekilli oder Elyas M’Barek haben sich zwar im deutschen Kino etabliert, viele ihrer Arbeiten sind jedoch monothematisch, stereotypisch und kommen über einer Anhäufung überzeichneter Charaktere und ausgelutschter Klischees nicht hinaus.

„Auch in 2020 kommt die Mehrheit der Schauspieler:innen mit Migrationserbe selten über die Rolle als „Migrant:in“ hinaus. Schauspieler können jederzeit den „afrikanischen Drogendealer“, den „muslimischen Terroristen“ spielen und Schauspielerinnen könne sich zwischen Exotik, Hilfsbedürftigkeit und Unterdrückung entscheiden.“

Die Handlung verläuft häufig so, dass People of Color aus ihren einengend und rückständig konstruierten Backgrounds in den Schutz einer aufgeklärten, weißdeutschen Gesellschaft fliehen. Fatih Akın hat sich mit diesem Schema X als Necla Kelek der bewegten Bilder in die Herzen der weißen Zuschauer:innen eingekuschelt. Züli Aladağ steht ihm in nichts nach. In seinem Film Wut ist der drogendealende Can, der das behütete Leben einer weißen Familie bedroht, der feuchte Traum der AfD-Wählerschaft. Die Neuverfilmung des Woyzeck (2013) durch Nuran David Calis, in Auftrag gegeben von 3sat und arte, schließt da gleich mit an. Ein armer weißer Mann wird in seinem Film von arabischen Drogendealern gefoltert, während im Hintergrund aus dem Koran rezitiert wird. Die Filme erhielten zahlreiche Preise und boten willkommenen Anlass, um wieder Mal über „desintegrierte“ People of Color, Kriminalität, Geflüchtete oder den Islam per se zu diskutieren.

Auch in 2020 kommt die Mehrheit der Schauspieler:innen mit Migrationserbe selten über die Rolle als „Migrant:in“ hinaus. Schauspieler können jederzeit den „afrikanischen Drogendealer“, den „muslimischen Terroristen“ spielen und Schauspielerinnen könne sich zwischen Exotik, Hilfsbedürftigkeit und Unterdrückung entscheiden. People of Color sind im Film häufig kaum mehr als Objekte; ihnen wird dann in der Story eher geholfen oder ihre Rollen unterstützen lediglich die Charakterentwicklung von weißen Figuren, sie sind nur nicht selbst die Helden. Die türkischstämmige Schauspielerin Nursel Köse sagt in einem Interview mit dem Magazin Brigitte: „Ich erzähle diese Opfergeschichten nicht gern, aber in der Türkei bin ich mit dem Film wirklich ganz groß rausgekommen, wurde in den Zeitungen als geniale Schauspielerin gelobt und habe verlockende Angebote bekommen, auch international bin ich inzwischen gefragt. Im Vergleich dazu passierte in Deutschland wenig. Kein großes Medieninteresse, keine interessanten neuen Rollen. Ich sollte weiter die arme, unterdrückte Türkin spielen, die Kopftuchfrau, die Putzfrau oder Prostituierte – wie die letzten 20 Jahre. Aber dazu hatte ich einfach keine Lust mehr.“

Wie sehr sich die marginalisierenden und rassistischen Muster im deutschen Film festgesetzt haben, zeigt ein Blick auf die Rollenausschreibungen von Casting-Agenturen, in denen im O-Ton Rollen ausgeschrieben werden wie: arabisch-orientalisch aussehende Männer, welche als Terroristen drehen können! Solche Rollenausschreibungen sind Phänomen und Ausdruck dessen, was zum Status Quo im deutschen Film geworden ist. Ist es das, was (weiße) Konsument:innen sehen wollen?

„Die filmische Verknüpfung von Menschen mit Migrationserbe und Hass, Gewalt, Unterdrückung und Drogen verstärkt die ohnehin vorhandenen rassistischen Ressentiments in der Gesellschaft. Dennoch, die Nachfrage ist da: Wer diese Themen bedient, erhält Aufmerksamkeit.“

Im Durchschnitt ist die Fernsehzuschauer:in 45 Jahre alt, bei den Öffentlich-Rechtlichen Sendern sogar über 60. Will dieses Publikum lieber eine nette nordafrikanische Kulisse mit einer französischen Erretterin als sich damit zu befassen, dass in Deutschland jede vierte Person ein Migrationserbe hat, diese Stereotypen, Klischees, Rassismen verletzend sind? Die filmische Verknüpfung von Menschen mit Migrationserbe und Hass, Gewalt, Unterdrückung und Drogen verstärkt die ohnehin vorhandenen rassistischen Ressentiments in der Gesellschaft. Dennoch, die Nachfrage ist da: Wer diese Themen bedient, erhält Aufmerksamkeit. Der Politologe Kien Nghi Ha resümiert zum Beispiel im Hinblick auf die Medienpräsenz von Necla Kelek:

„Da sie ihre polarisierende und reißerische Position beim Thema Zwangsheirat nicht wissenschaftlich untermauern kann, wiederholt sowie belegbar mit falschen Zahlen und Darstellungen argumentiert und die überwiegende Mehrheit der muslimischen Frauen mit ihren populistischen Ansichten vor den Kopf stößt, bleibt zu fragen, warum Necla Kelek ein Medienereignis ist. Die Erklärung liegt nahe, dass sie vor allem ein Medienprodukt der deutschen Dominanzgesellschaft ist, die sich durch solche Stimmen in ihren Vorurteilen bestätigt sieht.“

Nach ähnlichem Muster agieren auch Fatih Akin, Züli Aladağ und weitere Filmschaffende, weil sie stellvertretend für Weiße Vorurteile und Positionen der Migrationsabwehr ausdrücken. Völlig egal, ob sie selbst ein Migrationserbe haben, ihre Sichtweise auf die Migrationsgesellschaft in Deutschland ist rassistisch und mit einem einengenden eurozentrischen Blick. Mit ihren Kunstprodukten reihen sie sich ein in die übliche mediale Inszenierung von People of Color.

In den Hauptnachrichtensendungen von ARD, ZDF, RTL und SAT 1 standen in den vergangenen Jahren in mehr als einem Drittel der Fälle Berichte über People of Color in einem Zusammenhang mit Terror und Gefahr. Dieser katastrophale, menschenverachtende Missstand hängt damit zusammen, dass kaum Journalist:innen mit Migrationserbe in den Redaktionen vorhanden sind. Eine Mitgliederbefragung des Deutschen Journalisten Verbandes ergab, dass nur knapp 3 Prozent ein Migrationserbe haben. Eine andere Erhebung auf der Ebene der Lokalredaktionen von 600 Tageszeitungen zeigte, dass lediglich 1,2 Prozent über ein Migrationserbe verfügen.

Kein Wunder also, dass auch bei den Filmkritiken kaum auffällt, wie stereotypisch und rassistisch das sogenannte „Migrantenkino“ sich aufstellt. Und kein Wunder, dass ein weiterer weißer Journalist in Bezug auf den Eingangsfilm von „Wohlfühlkino im Sommer!“ redet. Die Frage ist nur, für wen? Meinung

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  1. Levent Öztürk sagt:

    Ja, das ist leider so. Kaya Yanar bekommt nur deshalb eine „Bühne“, Anerkennung und Applaus, weil er die Türkin mit Kopftuch und Aldi-Tüte darstellt und den Türken als aggressiven Schläger…also genau so, wie es der „Deutsche“ sehen möchte.