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Leon Wystrychowski, Sozialwissenschaften, MiGAZIN, Ruhrgebiet, Rassismus, Diskriminierung
Leon Wystrychowski © privat, Zeichnung: MiG

Antisemitismus

Erst gleichmachen, dann mit zweierlei Maß messen

Während der Antisemitismus von Rechts als quasi unvermeidbar hingenommen wird, liegt der öffentliche Fokus aktuell auf „muslimischem“ oder auch „linkem Antisemitismus“. Dabei wird nicht nur mit zweierlei Maß gemessen.

Von Freitag, 06.11.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 06.11.2020, 9:35 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Nicht erst seit dem Anschlag von Halle oder dem jüngsten Polizei-Skandal ist der Antisemitismus in Deutschland wieder an die Oberfläche gedrungen. Er war im westlichen Nachkriegsdeutschland, wie die NS-Zeit als ganze, lange tabuisierter Konsens. Erst die 68er-Generation, über die Konservative sich noch heute echauffieren und der gerade sie gerne Antisemitismus als blinden Fleck ankreiden, brach das Schweigen um die politischen und personellen Kontinuitäten zwischen „Drittem Reich“ und Bundesrepublik.

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Die daraus folgende Auseinandersetzung mit der Geschichte konnte den „antisemitischen Bodensatz“ in der Gesellschaft jedoch nie ganz wegspülen: 1992 waren laut Spiegel-Umfrage 13 Prozent der Bundesbürger antisemitisch eingestellt (16 Prozent der West- und 4 Prozent der Ostdeutschen), heute sind es laut Erhebung rund ein Viertel. Dabei geht aus der Forschung auch ein klarer Zusammenhang zwischen antisemitischen und anderen Formen rassistischen Denkens sowie der Befürwortung autoritärer Strukturen und von Gewalt hervor. Zudem zeigten etwa die genannte Spiegel-Studie oder auch Umfrage-Ergebnisse von 2011, dass Deutsche Juden lieber in Israel sehen, als hier. Dass antisemitische Stereotype auch unter dezidierten Israel-Unterstützern weit verbreitet sind, ist ein weiterer interessanter Fakt.

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Kontext? Fehlanzeige

Obwohl Antisemitismus also offenbar ein Problem der Mehrheitsgesellschaft ist, steht seit längerem ein sogenannter „muslimischer Antisemitismus“ im Fokus von Politik und Medien; manche sprechen auch von „islamischem“, womit sie nicht nur Antisemitismus unter Muslimen meinen, sondern diesen zugleich aus der Religion herleiten. Hier wird eindeutig mit zweierlei Maß gemessen. Allerdings dürfen diese Formen von Judenfeindlichkeit auch nicht einfach gleichgesetzt werden. Wie beim „linken Antisemitismus“, ist beim „muslimischen“ der Nahostkonflikt Dreh- und Angelpunkt.

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Denn auch wenn Verfechter der Theorie vom „islamischen Antisemitismus“ darauf bestehen, dass Juden unter muslimischer Herrschaft über Jahrhunderte Bürger zweiter Klasse waren – was allerdings für alle Nicht-Muslime galt, wobei Christen noch eher von Diskriminierung betroffen waren -, ist unbestreitbar, dass antijüdische Einstellungen und Stereotype erst im Verlauf der letzten 120 Jahre aus Europa in die islamische Welt exportiert wurden. Und sie fielen in erster Linie im Kontext der zionistischen Kolonialaktivitäten in Palästina und der Spalte und Herrsche-Politik der europäischen Kolonialmächte auf fruchtbaren Boden.

Das heißt aber, dass dieser Form von Judenfeindlichkeit, anders als beim Antisemitismus in Europa, ein realer politischer Konflikt zugrunde liegt, den es zu lösen gilt, wenn man die Vorurteile und die Ablehnung vollständig überwinden möchte. Hierfür jedoch muss die europäisch-deutsche Brille abgenommen werden: Weil diesen Vorurteilen eben reale Missstände zugrunde liegen, kann man den betroffenen Menschen nicht einfach die Verantwortung überstülpen, die man vermeintlich aus der deutschen und europäischen Geschichte gezogen hat, denn es ist nicht die ihre.

„…dann bleibt den Betroffenen nicht mehr die Wahl zwischen legitimer Kritik und antisemitischen Positionen, sondern zwischen zugeschriebenem Antisemitismus und Schweigen.“

Diese politisch-moralische Übergriffigkeit provoziert vielmehr – nachvollziehbar und nicht zu Unrecht – Abwehrreaktionen, zumal „der Westen“ von je her höchst einseitig Position im Nahostkonflikt bezogen hat. Dadurch werden allerdings auch antisemitische Reflexe und Haltungen noch weiter vertieft. Das gilt umso mehr, wenn diese dekontextualisierten Antisemitismusvorwürfe auch noch auf Personen abzielen, die sich dezidiert gegen Antisemitismus aussprechen. Denn dann bleibt den Betroffenen nicht mehr die Wahl zwischen legitimer Kritik und antisemitischen Positionen, sondern zwischen zugeschriebenem Antisemitismus und Schweigen.

Refugees welcome – but please shut up!

In den USA gehen seit Monaten tausende Menschen gegen Rassismus auf die Straße. Diese Bewegung hat eine Welle in Europa ausgelöst, die nicht nur solidarisch mit den Protesten auf der anderen Seite des Atlantiks ist, sondern die auch die kolonialen Kontinuitäten und den bis heute bestehenden Rassismus hier ins Visier nehmen. Auch in Israel gibt es solche Reaktionen – und das nicht ohne Grund: Wer sich die Fakten anguckt, kann nicht umhin, festzustellen, dass Israel ein massives Rassismus-Problem hat. Betroffen sind Araber, aber auch äthiopische Juden und Geflüchtete. Zudem war der Nahostkonflikt als solcher von Beginn an geprägt durch Rassismus und Kolonialismus.

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Anti-Rassismus-Demo © LANB via Jewish Antifa Berlin.

So ist es nur verständlich, dass es Menschen vor Ort gibt – Israelis, Palästinenser, Schwarze, Weiße, Araber, Juden, Christen, Muslime – die dieses Problem aufwerfen und benennen wollen. Dies gilt in erster Linie für palästinensische und arabische Migranten und Geflüchtete, die selbst unter Diskriminierung, Vertreibung, Flucht und Krieg gelitten haben oder zu deren Familiengeschichte solche Erfahrungen gehören. Diesen Menschen aber wird in Deutschland zunehmend das Recht abgesprochen, öffentlich über diese Dinge zu reden.

Das gilt jedoch auch für jüdische Israelis, von denen viele auch deshalb hierher kommen, weil sie sich in der zunehmend nach rechts rückenden israelischen Gesellschaft nicht mehr wohlfühlen, und die sich auch hier kritisch zu den dortigen Verhältnissen äußern. So wurde kürzlich einer von jüdischen Israelis organisierten Veranstaltungsreihe in Berlin über Kolonialismus in Israel/Palästina die Fördermittel entzogen. Der Vorwurf lautet: Antisemitismus.

„Dem Interesse an Berichten über vermeintlichen oder echten Antisemitismus von Muslimen oder Menschen aus muslimisch geprägten Ländern steht eine gleich doppelte Ignoranz gegenüber“

Auch bekannte israelische bzw. jüdische kritische Intellektuelle wie Shir Hever, Yossi Bartal, Moshe Zuckermann oder Rolf Verleger müssen sich immer wieder Antisemitismusvorwürfe – zumeist von nicht-jüdischen Deutschen – anhören. Dem Interesse an Berichten über vermeintlichen oder echten Antisemitismus von Muslimen oder Menschen aus muslimisch geprägten Ländern steht eine gleich doppelte Ignoranz gegenüber: die, die man kritischen Israelis zuteilwerden lässt, auf der einen und die gegenüber dem rechten Antisemitismus in Deutschland auf der anderen Seite.

„Freiheit für Palästina“ = „Die Juden sind unser Unglück“?

Deutlich wird letzteres im direkten Vergleich: Anfang Oktober fand in Frankfurt a.M. eine von Migranten organisierten Demo gegen die EU-Flüchtlingspolitik statt. Dort riefen einige Demonstranten: „From the River to the Sea – Palestine will be free“ (Vom Jordan-Fluss bis zum Mittelmeer – Palästina wird frei sein). Uwe Becker (CDU) erstattete Anzeige wegen Volksverhetzung und erhielt Rückendeckung von den lokalen Medien. So berichtete etwa die Frankfurter Rundschau von „antisemitischen Parolen“ und verzierte das ganze noch mit einem „Symbolbild“ zu „linkem Antisemitismus“: Ein Transparent mit einem arabischen Schriftzug. Dieser lautet „Yalla“ (Auf geht’s) und bezog sich eigentlich auf den Arabischen Frühling 2011 – für die Redaktion aber offenbar Haarspalterei. Gegen Becker läuft mittlerweile eine Anzeige wegen Verleumdung.

Zum Vergleich: 2019 hatte „Die Rechte“ Plakate mit der Aufschrift „Israel ist unser Unglück“ aufgehängt. Dieser Slogan war angelehnt an ein Zitat, das ab 1927 auf dem Titelblatt der NSDAP-Zeitung Der Stürmer prangte: „Die Juden sind unser Unglück.“ In diesem Fall handelte es sich eindeutig um israelbezogenen Antisemitismus. Bezeichnenderweise war es aber kein Politiker, der sich mit einer Strafanzeige zu profilieren versuchte, sondern die jüdische Community in Hannover, die sich bemühte, den Provokationen der Neonazis Einhalt zu gebieten. Das Verfahren wurde mittlerweile eingestellt. „Unter rechtlichen Gesichtspunkten“ sei angeblich „nichts zu machen.“

„Dass offen in der Tradition des Faschismus stehende rechtsradikale Parolen mit der Kritik von Juden, Israelis und von Rassismus, Krieg und Flucht betroffener Menschen mit muslimischem bzw. arabischem Background gleichgesetzt wird bzw. letzteres sogar heftigere Reaktionen in Medien und Politik auslöst, ist grotesk. „

Dass offen in der Tradition des Faschismus stehende rechtsradikale Parolen mit der Kritik von Juden, Israelis und von Rassismus, Krieg und Flucht betroffener Menschen mit muslimischem bzw. arabischem Background gleichgesetzt wird bzw. letzteres sogar heftigere Reaktionen in Medien und Politik auslöst, ist grotesk. Umso absurder wird die Fokussierung auf „muslimischen“, „islamischen“, „arabischen“, „migrantischen“, „jüdischen“, „linken“ oder „importierten“ Antisemitismus – die Liste der neuen Kreationen ist lang -, wenn man sich vergegenwärtigt, dass 2019, wie auch in den Jahren zuvor, mehr als 90 Prozent der antisemitischen Straftaten auf das Konto von Rechten gehen.

Diesen Knick in der Optik kann man nur als eine Ablenkungsstrategie vom „eigenen“ Antisemitismus, das heißt dem der politischen Rechten und den in der sogenannten „Mitte“ der Mehrheitsgesellschaft, verstehen. Er würgt aber auch kritische Stimmen ab, und zwar auf äußerst perfide Weise. Stimmen nämlich, die man sonst nur zum Schweigen bringen könnte, indem man sich offen juden- bzw. ausländerfeindlich äußern würde. Stattdessen wirft man ihnen pauschal Antisemitismus vor.

Dass dieses Verhalten den Kampf gegen reale Formen des Antisemitismus behindert und vom Treiben der Neonazis, Burschenschaftler und Reichsbürger ablenkt, ist schlimm genug. Dass es aber darüber hinaus Spaltungen zwischen Juden und Muslimen forciert und zugleich Teile beider Communities zensiert, ist umso schlimmer. Es betrifft nämlich Gruppen, die ohnehin marginalisiert sind und kaum eine Lobby haben. Dafür aber ein gemeinsames Interesse: eine Gesellschaft ohne Rassismus. Meinung

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  1. Levent Öztürk sagt:

    In den letzten Jahren wurden laut vom Bundes-Innenminsiter jährlich verkündeten BKA-Zahlen ca. 94% aller antisemitisch motivierten Straftaten von Rechtsextremisten begangen. Aber die deutschen Medien sowie deutsche Politiker reden eigenartiger Weise mit der üblich schlecht gespielten Echauffierung nahezu stets über die 6%. Neben dem Antisemitismus gibt es noch die zunehmende Islamophobie in Deutschland mit Erscheinungen, wie NSU, NSU 2.0 und einer Nah der Erträglichkeitsgrenze befindlichen öffentlich geführten Hetze in Medien. Betrachtet man die BKA-Zahlen dann gibt es auch das sehr strak verschwiegene und vertuschte Thema: Deutschland ist Weltmeister im Ranking von Anschlägen auf Moscheen. Nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Anschläge auf Moscheen, wie in Deutschland.

  2. Ute Plass sagt:

    Dank an den Autor Leon Wystrychowskink für diesen Beitrag, der bewußt macht, wie notwendig es ist, sich gegen jegliche gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu stellen.